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24.

Tote und Verwundete.

Der Kampf war aus. Die Trompete blies zum Sammeln. Die übriggebliebenen Matrosen scharten sich um die noch lebenden Führer.

Die Musterung ergab, daß 230 Matrosen und 17 Offiziere und Unteroffiziere gefallen waren, ein großer Verlust, aber klein im Verhältnis zu dem der Rebellen.

Von diesen waren viele geflohen, und jetzt gab Kapitän Staunton, die Hand mit einem Tuche umwickelt, den Befehl, die Ruine zu besetzen, damit die entflohenen Rebellen keine Gelegenheit hätten, sich unter einem kaltblütigen Offizier zu sammeln und den Kampf von neuem zu beginnen.

Die Indianer mußten die Umgegend absuchen. Staunton brauchte ihnen nicht erst zu befehlen, keinen Pardon zu geben.

An ihm, welcher eben Krankenträger abteilte, flog eine weibliche Gestalt vorbei. Es war Hope.

Sie achtete des Bruders nicht, er lebte ja. Lächelnd blickte dieser der Schwester nach, welche einer Gruppe von drei Männern zueilte.

Diese saßen auf einem Steine. Der eine, Youngpig, der sich redlich am Kampfe beteiligt hatte, zeichnete und schrieb in ein dickes Buch, Nick Sharp saß neben ihm, reinigte mit Hilfe eines Revolverwischers seine kurze Tabakspfeife, schaute dem zeichnenden Bruder zu und erteilte ihm Ratschläge.

Beide waren unverwundet, der dritte beschäftigte sich damit, mit einem Taschentuche das Blut zu trocknen, welches ihm übers Gesicht lief, lachte aber dabei herzlich über die trockenen Witze des Detektiven.

Plötzlich umklammerten diesen dritten zwei Arme.

»Hannes, du blutest, du bist verwundet!« schrie Hope außer sich.

»Ach, Hope, ich hatte dich ganz vergessen, Mister Youngpig malte eben, und da ...«

»Aber du bist verwundet,« klagte Hope.

»Ein bißchen. Das macht nichts weiter. Eine Revolverkugel ist mir durchs Ohr gegangen.«

»Ich will es dir verbinden,« rief das junge Weib, aufjauchzend, weil es seinen Hannes lebend fand.

Sie besichtigte das Ohr. Eine Revolverkugel hatte ein kleines Loch darin zurückgelassen.

»Und sonst hast du keine Wunde?«

»Ich weiß keine andere.«

»Gar keine andere?«

»Wahrhaftig nicht. Das heißt, wir können ja nachher einmal danach suchen.«

»Tut dir nichts weh?«

»Nein, gar nichts.«

Hannes bewegte sich hin und her, Sharp begann zu lachen.

»Ach, das böse Loch,« seufzte Hope, das Blut stillend.

»Wissen Sie was!« lachte Sharp. »Sie machen in das andere Ohr auch noch eins, dann kann Mister Vogel Ohrringe tragen.«

»Gehen Sie, Sie abscheulicher Mensch,« rief Hope unwillig, »Sie haben gar kein Mitgefühl.«

Sie zog Hannes fort, um ihm abseits einen Verband anzulegen.

»Siehst du,« flüsterte sie zärtlich, »mein Gebet hat geholfen.«

»Aber Nick Sharps Entersäbel auch, sonst stände ich nicht mehr hier. Er hat mich einmal herausgehauen, als ich schon umzingelt und verloren war.«

»Dann will ich ihm verzeihen und abbitten. Ich weiß, daß Sharp anders denkt und handelt, als er spricht.«

Auf dem Plateau wurden die Mädchen von den Engländern umringt, aber nicht viele Freudenrufe ertönten, nicht viele Umarmungen erfolgten. Bange Fragen wurden laut.

»Wo ist Marquis Chaushilm?«

»Wo ist Sir Hendricks?«

Noch viele solcher Fragen ertönten, sie fanden keine Beantwortung. Ellen ließ die weitgeöffneten, entsetzten Augen im Kreise herumwandern, sie fanden nicht Lord Harrlington.

»Wo ist James?« erklang es gellend.

Williams, nur unbedeutend verwundet, machte sich aus den Armen von Miß Thomson los.

»Viele von uns sind gefallen,« sagte er wehmütig. »Wir wollen uns den Krankenträgern anschließen und unsere Freunde aufsuchen. Bitten wir Gott, er möge uns gnädig sein, damit wir diesen Sieg nicht allzu schmerzlich empfinden. Eine größere Hoffnung wage ich nicht auszusprechen.«

Paar nach Paar verließ das Plateau, es herrschte keine Freude des Wiedersehens mehr. Einige Mädchen eilten ungeduldig voraus, andere wankten hinterdrein, zuletzt Ellen – sie mußte gestützt werden, und doch wollte sie nicht warten, bis die Krankenträger zurückkamen.

Gebrochen hing sie am Arme Williams' und Miß Thomsons, Trostworte fanden kein Gehör. Der Glanz ihrer Augen war erloschen, aber sie fand keine Tränen.

Auch Sharp und Youngpig suchten unter den Verwundeten. Hannes und Hope begaben sich nach dem Plateau, auf welchem nur Hoffmann und Johanna zurückgeblieben waren.

Beide knieten neben Ramos, welcher bewegungslos am Boden lag. Hoffmann hatte ihn untersucht, sein Tod war unabwendbar, ein Schuß hatte die Lunge durchbohrt.

Johanna entfernte fort und fort das Blut von dem kindlichen und doch männlichen Antlitz, ein Verband war nicht mehr nötig.

Jetzt ging ein Zittern durch den Körper des Sterbenden, er schlug die Augen auf, erkannte die neben ihm Knienden, und ein Lächeln verklärte seine Züge.

Er streckte seine Hände aus, sie wurden beide gefaßt.

»Kapitän Hoffmann – Miß Lind,« lispelten seine bleichen Lippen, »ich sterbe – vergessen Sie – nicht – meine Mutter.«

»Kapitän Hoffmann – Miß Lind,« murmelte der Sterbende, »vergessen Sie – nicht – meine Mutter!«

Ein doppelter Händedruck war die Antwort auf diese letzte Bitte, der junge Mann nahm die stumme Versicherung, daß er seine Mutter nicht schutzlos zurückließ, mit ins Jenseits hinüber.

Hoffmann drückte ihm die Augen zu, Johanna weinte leise.

»Senor, ein Matrose verlangt nach Ihnen,« erklang hinter ihnen eine Stimme.

Hoffmann erblickte einen alten Soldaten, er trug die amerikanische Korporalsuniform, sein Arm lag in einer Binde. Johanna erkannte in ihm Patrick O'Neill, welcher unter Führung von Ramos gefochten hatte, die Teufel ließ er diesmal aus dem Spiele.

Beide erhoben sich. Johanna drückte dem braven Alten warm die gesunde Hand, während Hoffmanns Adlerblick das Plateau überflog. Engländer lagen hier nicht, ebensowenig amerikanische Matrosen, wohl aber Deutsche, welche das Karree sprengten.

Hoffmann erkannte vier anscheinend Tote, teils vom ›Blitz‹, teils von der ›Hoffnung‹, und außerdem viele Verwundete. Diese warteten entweder auf die Krankenträger oder suchten ihre Wunden selbst zu verbinden. Sie äußerten keinen Schmerz, freudig blickten sie nach der hohen Gestalt Hoffmanns und Hannes', welcher mit Hope neben einem Toten kniete.

»Wir können nicht allen zugleich helfen,« redete Hoffmann sie an. »Ihr sollt jedoch bald die beste Verpflegung erhalten. Für die Angehörigen der Toten wird gesorgt. Wir vergessen nicht, daß ihr für uns gefochten habt.«

»Keine Worte mehr, Kapitän,« rief ein Matrose mit zerschossenem Arme, »wir wissen das allein ohne Eure Versicherung.«

»Wo ist der Matrose, welcher nach mir fragte?« wandte sich Hoffmann an Patrick.

Dieser führte ihn und Johanna hinter einen Steinblock. Dort lag ein Mann am Boden, um ihn eine Blutlache.

»Georg, auch du!« rief Hoffmann schmerzlich.

Der Verwundete hob das bleiche Gesicht.

»O, es ist nichts weiter,« flüsterte er, »ich habe durchaus noch keine Lust zum Sterben. Nur ist mir so eine verdammte Bohne ins Bein gefahren, und da wollte ich nur fragen, ob ...«

Hoffmann hatte die Kleider schon aufgeschnitten, eine Kugel hatte den Schenkel durchbohrt und anscheinend auch den Knochen verletzt. Der Kapitän legte sofort einen Notverband an, um das Blut erst zu stillen.

»Armer Kerl, es wird einige Zeit dauern, ehe du wieder in die Takelage klettern kannst.«

»Also ist es nicht so schlimm?«

»Nein, es wird heilen.«

»Hm, ich kenne auch lahme Matrosen, welche noch wie Affen klettern können. Hm, hm, aber ...«

»Was denn, Georg?«

»Hm, es sind doch nur halbe Menschen.«

»Wie so denn? Ich versichere dir, du wirst kein halber Mensch werden, sondern bleibst ein ganzer, stattlicher, schlanker Bursche.«

»Wohl möglich, wenn ich sitze.«

»Unsinn, Georg, du kannst auch stehen und gehen.«

Des Matrosen Gesicht begann sich aufzuklären.

»Ich werde auch nicht hinken?«

»Nicht im mindesten.«

»Juchhe!« jauchzte Georg plötzlich auf. »Dann kann ich also auch noch tanzen?«

Die beiden mußten trotz des Ernstes der Situation über den Matrosen lächeln.

»Tanzest du denn so sehr gern?«

»Natürlich! Was nützen mir denn die Beine, wenn ich mich mit ihnen nicht manierlich drehen kann?«

»Nun, Georg, du wirst tanzen können, bis dir der Atem ausgeht.«

»Gott sei's getrommelt und gepfiffen,« seufzte Georg erleichtert. »Sehen Sie, Kapitän, ich habe in Bremerhaven so eine kleine, nette, fixe Dirn', Mary heißt sie, brav wie ein aufgetakelter Lotsenschoner mit doppeltem Klüversegel, aber tanzen tut sie nun schrecklich gern. Ich glaube ja, sie würde mich auch noch mit einem Bein lieben, aber verflucht wäre es doch, wenn ich zusehen sollte, wie sie mit einem anderen tanzt, denn tanzen muß sie nun einmal, und ich mit einer verkürzten Bramsteng am Leibe könnte sie doch nicht blamieren. Gott verdamme mich ...«

»Georg,« warnte Johanna.

»Nun ja, ich habe nichts gesagt. Aber schön ist's doch, wenn man so die Beine schlenkern und stampfen kann, daß der Boden wackelt ... au, mein Bein.«

Georg hatte sein Bein bewegen wollen. Der Schmerz erinnerte ihn, daß er noch nicht fähig war, Mary zum Tanz zu führen.

»Still liegen und geduldig warten,« ermahnte ihn Hoffmann, »bis die Krankenträger kommen! Dann die Vorschriften des Arztes genau befolgen, und vor allen Dingen keine alkoholischen Getränke zu dir nehmen, sonst garantiere ich für nichts.«

»O weh, da werden saure Wochen kommen!«

Johanna und Felix gingen, um andere Verwundete zu trösten, doch ein Bild fesselte ihre Schritte.

Dort saßen Hannes und Hope neben dem Körper des alten Bootsmannes, er schien tot zu sein. Hannes hielt ein kleines Bild und ein halb zerfallenes, von Alter vergilbtes Papier in der Hand.

Hope weinte, Hannes standen die Tränen im Auge, während er sprach. Verwundert lauschten die beiden seinen Worten. Seltsam, was er da erzählte, war eine unglückliche Liebesgeschichte, eine von jenen, an deren Spitze das Wort des Dichters stehen kann:

»Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie ewig neu,
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz dabei!«

Ein junger Seemann liebt ein Mädchen, es ist verachtet, weil es die Tochter des alten Schäfers ist, welcher im Verdachte der Hexerei steht. Doch daran kehrt sich der Liebende nicht. Er kommt nach langer Reise zurück, mit Brautgeschenken beladen, doch er sieht die Geliebte im Arme eines anderen, mit schönen Kleidern geschmückt, bleich und gebeugt. Der arme Seemann hat verspielt, er kehrt auf das Meer zurück, tobt sich aus, gewinnt seine Freudigkeit wieder, doch das Bild des Gänsemädchens schwindet nicht aus seinem Herzen.

Kurz, es ist die Geschichte des Bootsmannes, wie er sie früher einmal an Bord der ›Kalliope‹ erzählte.

Hannes wendete sich um und hielt Hoffmann das Bild entgegen. Es war eine alte Photographie, schlecht gemacht, halb erloschen, und stellte ein junges Mädchen dar mit unschuldigen, lieblichen Zügen und langen Zöpfen.

»Susanne Vollmer ihrem lieben Karl, Neukirchen 187*, Ostern,« stand darunter mit eckigen Schriftzügen. »Vor 25 Jahren,« murmelte Hoffmann gerührt.

»Karl hielt das Bild in seiner Hand, daneben lag dieser Brief, er muß ihn vor seinem Tode noch einmal gelesen haben.«

Die beiden lasen den Brief, er war fünf Jahre jünger als das Bild. Karl erhielt die Mitteilung von Susanne, daß ihr Mann sich erhängt habe, sie sei mittellos, ohne Kinder, läge im Krankenhaus, die Aerzte hatten sie aufgegeben, jede Stunde könnte der Tod eintreten. Der Brief war von anderer Hand geschrieben, man erkannte eine geübte Schrift, darunter aber standen in zittrigen, mühsamen Buchstaben die Worte:

»Deine Suffy, behalte sie im Andenken, bis Du sie wiedersiehst!«

Dem Brief entfiel ein getrocknetes Blümchen, es war ein kaum noch erkennbares Vergißmeinnicht. Hoffmann hob es auf und legte es wieder sorgfältig in den Brief.

»25 Jahre trägt er das Bild, 20 Jahre den Brief bei sich. Wie oft mag er ihn gelesen haben,« sagte Hoffmann gerührt.

»Und wie oft mag er das Bild geküßt haben,« schluchzte Hope, »nun sieht er sie wieder.«

Hoffmann wandte seine Aufmerksamkeit dem Toten zu, ein Bajonett war ihm in den Unterleib gedrungen.

»Aber er lebt ja!« rief Hoffmann plötzlich.

»Dann ist er noch einmal zu sich gekommen,« entgegnete Hannes, »ein Bajonettstich ist tödlich.«

»Nicht immer; es können Ausnahmen eintreten. Schnell, eilt zu den Krankenträgern; sie haben Verbandzeug bei sich. Vielleicht kann auch der Schiffsarzt abkommen.«

Hannes eilte davon. –

Unterdes spielten sich da, wo der erste Zusammenstoß zwischen den Engländern und Rebellen stattgefunden, andere Szenen ab.

Ein Vermißter nach dem anderen wurde gefunden, und bis jetzt war unter den Engländern kein Toter. Die Rebellen hatten schlecht geschossen und blanke Waffen fast gar nicht gebraucht. Der Angriff jener hundert Menschen war zu bestürzend für sie gewesen, die Engländer waren wie Unholde über sie hergefallen; gegen die Kunstfertigkeit im Fechten half kein Mittel, ebensowenig wie gegen Lord Hastings' Riesenkraft.

Unverwundet schlang er seinen Arm um Miß Murrays schlanke Taille, während sie über das Schlachtfeld schritten.

»Ich habe Richard Löwenherz fechten sehen,« flüsterte sie, »ich habe gesehen, wie er seine Feinde vernichtete. Niemand konnte seinem Arm widerstehen. Du hättest einen Panzer umhaben sollen und auf deinen blonden Locken einen stählernen Helm, dann wären die Zeiten der alten Ritter wiedergekommen. Alle anderen Vestalinnen haben für euch gezittert, ich nicht, ich habe immer leise gesungen:

Du stolzes England, freue dich,
Dein König geht und kämpft für dich.«

»Aber Richard Löwenherz war diesmal kein König,« sagte Hastings bescheiden, »er focht unter den Befehlen Hoffmanns und Harrlingtons, und ihre Taten haben die seinigen übertroffen.«

»O, Harrlington,« rief Jessy erschrocken, »die arme Ellen sucht ihn noch immer vergebens.«

Der erste Engländer war gefunden, welcher zwar ebenfalls nur verwundet, an dessen Tod aber kaum gezweifelt werden konnte. Es war Marquis Chaushilm.

Neben ihm kniete Miß Sargent und gebärdete sich wie eine Wahnsinnige; sie hörte nicht auf Williams' und Bettys Trostworte, sie schrie verzweifelnd auf und fluchte dem Himmel.

»Er darf nicht sterben!« rief sie wieder und wieder. »Ich habe ihm schon einmal das Leben gerettet, ich werde es ihm wieder retten, er darf nicht sterben!«

Die Umstehenden fühlten mehr Mitleid mit dem Mädchen, welches sich die Haare raufte, als mit dem Herzog selbst. Es war nach dem Arzt geschickt worden, doch vergingen einige Minuten, ehe dieser kam.

»Chaushilm ist nicht tot, sonst flösse das Blut nicht mehr,« tröstete Williams.

»Ja, er ist tot,« schrie das Mädchen, sich ausrichtend und mit irren Augen umherblickend. »Wer sagt, daß er nicht tot sei? Haha, wer spricht da, es gäbe einen Gott? Wo ist er? Warum hat er ihn töten lassen? Ich will es wissen!«

Der Arzt kam. Mit sanfter Gewalt mußte das rasende Mädchen abgehalten werden, daß es ihn nicht an der Untersuchung hinderte.

Endlich befreite eine Ohnmacht es von ihrem Schmerz.

»Die Kugel ist dicht am Herzen vorbeigegangen,« erklärte der Arzt, »ich wage nicht, zu behaupten, daß sein Zustand hoffnungslos ist, aber auch nicht das Gegenteil. Die nächste Stunde wird dies entscheiden.«

Chaushilm wurde auf eine Trage gelegt und nach dem Verbandplatze geschafft; auch Miß Sargent mußte fortgetragen werden.

Da stieß Williams einen Freudenruf aus, er hatte unter den Verwundeten seinen Freund entdeckt.

»Hendricks, Gott sei Dank, endlich gefunden! Tot oder lebendig?«

Sir Hendricks lag gar nicht weit entfernt vom Schauplatz der eben erwähnten Szene, auf der Seite, halb aufgerichtet, rief seltsamerweise aber niemanden an, obgleich er völlig bei Besinnung war. Er verhielt sich überhaupt ganz merkwürdig.

»Williams – gut, daß Sie kommen – au, au – verdammtes Pech – au, seien Sie stille! Rufen Sie niemanden, bevor – au – verflucht.«

»Was fehlt Ihnen denn?« rief Williams erstaunt.

»Um Gottes willen – au – machen Sie keinen Lärm!«

Da kam aber auch schon Miß Nikkerson an, und hinter ihr tauchte Nick Sharp auf.

Alle wußten, daß Miß Nikkerson und Sir Hendriks ein Paar bildeten.

Das Mädchen sah ihren Geliebten am Boden liegen, aber er schien nicht ernstlich verwundet zu sein, er lächelte ja sogar – es wer ein verschämtes Lächeln.

»Mein armer Edgar,« rief Klara und kniete neben ihm nieder, seine Hände erfassend.

»Au – Klara, das ist schön, daß du kommst – au – ich bin nicht arm – liebe Klara –«

»Hast du Schmerzen?«

»Ich? Nein, gar nicht – au o – Himmelsakkerment – entschuldige, Klara, daß ich fluche – au – ich tu's nicht mehr – verflucht.«

»Bist du schlimm verwundet?« fragte Klara ängstlich. »Nicht im mindesten.«

Plötzlich stand Hendricks kerzengerade vor ihr, fiel aber gleich wieder mit einem Schmerzensschrei zurück und wälzte sich auf die Seite.

»O – ah – au – das brennt wie Pfeffer!«

»Bist du in die Brust geschossen?«

»Nein, weiter unten – au.«

»In den Leib?«

»Au – noch weiter unten.«

»Ins Bein?«

»Au – au – weiter oben.«

Verwundert schaute Miß Nikkerson ihn und die beiden Männer an.

»Ich verstehe dich nicht, wo bist du denn nur verwundet? Ich will die Wunde untersuchen und verbinden, ich verstehe mich darauf.«

Hendricks zog ein verzweifeltes Gesicht.

»Klara, ich liebe dich – au – du bist so gut – au – du liebst mich – au, o – aber zum Teufel, Klara – Herrgott – das brennt wie spanischer Pfeffer.«

Da sah Miß Nikkerson das spöttische Gesicht von Nick Sharp, und plötzlich ging ihr eine Ahnung auf.

»Auf Wiedersehen, mein lieber Edgar,« sagte sie und küßte ihn, wie eine Purpurrose errötend. »Ich komme dann wieder zu dir und erkundige mich nach deinem Befinden.«

Sie eilte davon.

»Herrgott, Kreuzmillionenschwerenot,« fluchte Hendricks in einem Atem, »so ein verdammtes Pech – auhhh – nun schlag doch Gott den Teufel tot!«

Williams saß auf einem Stein und lachte, daß ihm die Tränen über die Backen rollten.

»Drehen Sie sich herum, edler Sir,« sagte Sharp gutmütig, »ich bin zwar kein Arzt, aber ich weiß, wo Sie der Schuh drückt.«

Gehorsam drehte sich Hendricks herum. Auf dem Bauche liegend, verspürte er keine Schmerzen. Aber er wußte nicht, daß Sharp sein Taschenmesser in der Hand hatte, sonst würde er nicht so willig gewesen sein.

»Sir Williams,« bat Sharp, »bitte, achten Sie darauf, daß keine Damen hierherkommen, sie könnten ohnmächtig werden.«

Williams verbiß das Lachen, ließ seine Augen umherschweifen, vergaß aber auch nicht, die Beschäftigung Sharps zu beobachten, welcher auch einmal als Operateur fungieren wollte.

Erst wurde das Auftrennen von Hosennähten hörbar, Sharp operierte an dem Hinteren und weitesten Teile der Hose.

»Aha, da sitzt eine Kugel im Fleisch. Seien Sie froh, daß Sie solch dicken Speck haben, deshalb ist sie nicht tief in Ihren edelsten Teil eingedrungen. Jetzt beißen Sie die Zähne zusammen.«

Hendricks folgte dem Rate. Doch gleich darauf erschütterte sein Jammergeschrei die Luft, Sharps Messer und Finger wühlten im Fleische.

»Einen Augenblick – da ist sie schon.«

Er hielt dem Verwundeten die Kugel hin.

»Mein lieber Hendricks,« meinte Williams lachend, »reiten werden Sie nun wohl längere Zeit nicht können, Sie müßten sich den Sattel denn polstern lassen. Auch beim Essen werden Sie stehen oder auf dem Bauche liegen müssen.«

»Erst versuchen Sie, ob Sie gehen können.«

Siehe da, Hendricks konnte gehen, ohne besonderen Schmerz zu empfinden.

»So begeben Sie sich nach dem Verbandplatz und lassen Sie sich die Wunde an einem versteckten Orte verbinden.«

»Ich kann doch nicht mit der offenen Hose gehen,« klagte Hendricks, »überall sind ja Damen.«

»Ich stecke sie einstweilen zu,« entgegnete Sharp und besserte den Schaden sofort mit Stecknadeln aus. Dabei zeigte es sich, daß Sharp, als vorsichtiger Mann, der sich immer auf Reisen befand, mit vollständigem Nähzeug ausgerüstet war.

»Sagen Sie nur,« nahm Williams das Wort, »wie bekamen Sie eigentlich die Wunde an jener Stelle? Ein Zeichen von Tapferkeit ist das eben nicht.«

»Ich sah, wie Lord Harrlington plötzlich stürzte, er griff sich nach dem Herzen, rannte noch einige Schritte vorwärts und stürzte in eine Spalte. Ich bückte mich, um ihn herauszuziehen, da fühlte ich einen Schlag oder Puff an jener Stelle. Ich konnte dem Lord nicht helfen, ich wurde fortgerissen, stürmte vorwärts, bis ich plötzlich einen brennenden Schmerz verspürte.«

»So wissen Sie also, wo Lord Harrlington liegt?« fragte Williams hastig.

»Ja, es ist gar nicht weit von mir.«

»Mein Gott, Miß Petersen sucht ihn immer noch vergebens. Schnell dorthin, Miß Petersen verzweifelt fast!«

Hendricks verbiß den Schmerz und eilte so schnell als möglich voraus, es schlossen sich ihnen noch viele an.

Hoffmann sprach unterdes mit dem Matrosen Fritz, einem von jenen, welche unter Leutnant Ramos das Karree gesprengt hatten. Er war nur ganz leicht am Kopfe verwundet worden.

»Nun gib mir die Erklärung, wie ihr ins Innere der Ruine gelangtet!«

»Wir hatten erfahren, daß Miß Lind, welche zu befreien wir geschworen hatten, in die Ruine gebracht worden war. Wir kamen hier an, als eben der Kampf begann. Leutnant Ramos orientierte sich über die Gefechtsstellung und beschloß dann, die Ruine an einer schwachbesetzten Stelle anzugreifen. Plötzlich sahen wir, als wir so im Walde versteckt lagen, wie aus der Höhlung eines Steinhaufens ein Mann nach dem anderen hervorkroch, etwa zweihundert, die sich dann fortschlichen. Ramos meinte, sie wollten die amerikanischen Matrosen in der Flanke angreifen. Wir waren zu schwach, um dies zu verhindern, uns kam es nur darauf an, Miß Lind zu befreien. Wo die Rebellen herauskamen, mußte ein Gang existieren, und den wollte Ramos benützen, um in die Ruine zu gelangen. Der Leutnant war ein tüchtiger Bursche, so jung er auch war, und wenn ich jemanden schlecht von ihm sprechen höre, der bekommt es mit Fritz zu tun. Ich habe vorhin geweint, als ich vor seiner Leiche stand, Gott habe ihn selig! Ein besseres und tapfereres Herz schlug selten in einer Brust. Er ließ uns noch einmal auf seinen Degen schwören, das Mädchen zu befreien oder zu sterben, und dann ging es in den Gang hinein. Nur ein Franzose und zwei Neger, die sich uns anschlossen, blieben zurück – um uns den Rücken zu decken, wie sie sagten.«

Sie hatten also den Gang benutzt, aus welchem jene Rebellen gekommen. Was er nicht gewagt, war ihnen gelungen.

»Wir gelangten ans Ende des Ganges, ohne aufgehalten zu werden. Nur einmal kam uns ein Weib in den Weg, welches aber floh, ohne Lärm zu schlagen.«

»Eine Indianerin?«

»Nein, eine weiße Dame.«

»Eine Gefangene?«

»Nein, das ist nicht gut möglich. Sie war sogar recht elegant angezogen.«

»Aha, ich weiß! Sonderbar!« murmelte Hoffmann.

»Wir erreichten das Freie gerade dort, wo das Karree gebildet werden sollte. Die Tapferkeit Ramos' war unwiderstehlich, und wir, nun wir taten eben auch unser Möglichstes. Das andere wißt Ihr, Kapitän, und ich denke, wir haben dem deutschen Namen keine Schande gemacht.«

»Ihr seid brave Burschen. Verlaß dich darauf, ihr sollt nicht umsonst wie Löwen gefochten haben.«

Da gellte ein Schrei durch die Ruine, so entsetzlich, daß alle zusammenschraken, daß sich selbst die Sterbenden aufzurichten versuchten. Es war ein Schrei, wie ihn nur ein Weib in höchster Verzweiflung auszustoßen vermag.

Alles eilte dorthin, woher er erklungen.

Man hatte Lord Harrlington aus einer Spalte herausgezogen, und über seinem Körper lag Ellen ausgestreckt, tränenlos, selbst einer Toten gleichend.

Mit Mühe gelang es, sie fortzubringen. Mit starren Augen sah sie der Untersuchung des Geliebten zu, man hatte einen Toten vor sich. Die Glieder waren starr und kalt. Leichenblässe bedeckte das Gesicht, das auch noch im Tode schön und ernst war.

Auf dem Rock erblickte man ein kleines Loch, von einer Revolverkugel herrührend; es saß gerade in der Herzgegend. Die Kugel schien die Wunde zu verstopfen, es floß kein Blut.

Der herbeigeholte Arzt schnitt Rock und Hemd auf.

In Ellens Gehirn begannen sich die Gedanken zu verwirren; eine andere Szene kam ihr in die Erinnerung, sie glaubte sich plötzlich nach Malakka versetzt.

»Der Indrargarri ist nicht tot,« flüsterte sie tonlos, »er ist nur scheintot. Wo ist Davids? Er hat es gesagt. Er braucht nur mit seinem Messer eine Ader zu öffnen, dann kommt Blut, und der Tote wird wieder lebendig.

»Wo ist Davids?«

»Armes Weib,« murmelte Williams, welcher dem Arzte half.

»Wo ist Davids?« wiederholte Ellen. »Nur er kann helfen. Sagt doch, wo ist John Davids?«

Der Arzt schnitt jetzt das Hemd Harrlingtons auf, er wunderte sich darüber, daß er noch kein Blut erblickte. Die Brust lag bloß. Bestürzt schauten der Arzt wie auch die Umstehenden auf dieselbe; es war keine Wunde zu sehen.

»Wo ist Davids?« murmelte das Mädchen wieder.

»Ein Wunder,« rief der Arzt plötzlich. »Die Kugel ist gefangen worden.«

Er hob ein goldenes Medaillon auf, welches zur Seite gerutscht war. Es war völlig breitgeschlagen und enthielt die Revolverkugel, als wäre diese in Gold gefaßt worden. Das Medaillon mußte direkt auf dem Herzen gelegen haben, denn dort erkannte man einen blauen Fleck.

»Er ist nicht tot?« fragte Williams atemlos.

»Fast scheint es so. Schnell! Die Herztätigkeit ist gelähmt worden. Lassen Sie uns ihn reiben, reiben, bis das Blut wieder durch die Haut kommt.«

Ellen hatte den Sinn dieser Worte begriffen, hatte verstanden, daß eine Rettung möglich war, und die Besinnung kehrte ihr wieder. Sie wollte mit helfen, folgte dann aber willig der Aufforderung, sich zurückzuziehen. Eine fieberhafte Tätigkeit herrschte um den Gelähmten, aber schon nach einigen Minuten war ihm das Leben zurückgekehrt, nach einer halben Stunde lag er in den Armen Ellens.

Von ihr erfuhr er, daß das Andenken von Davids, das Medaillon, die Kugel aufgefangen. So hatte Davids im Leben Ellen, und im Tode noch Harrlington gerettet. Sein Geist hatte schützend die Liebenden umschwebt.

Keiner der Engländer hatte den Sieg mit dem Leben bezahlt, nur Marquis Chaushilm schwebte am Rande des Grabes. Doch nach der Versicherung des Arztes war seine Lage keine hoffnungslose; bei guter Pflege konnte er vielleicht am Leben erhalten werden, wenn es Gott nicht anders gefiele.

Aber Verwundete gab es genug. Von den sechsundzwanzig Herren waren nur vier vollkommen unverletzt. Die übrigen hatten leichtere oder schwerere Wunden aufzuweisen. Bei einigen konnten Monate vergehen, ehe sie wiederhergestellt waren, sie konnten sich nicht selbst fortbewegen, sondern mußten getragen werden.

Nur einer hatte den Verlust von Gliedmaßen zu beklagen; eine Gewehrkugel hatte Lord Stevenson zwei Finger der linken Hand weggenommen.

Miß Chalmers war darüber trostlos, doch der Lord stillte ihre Tränen mit den Worten, er mache sich nichts daraus, wenn er den Verlobungsring am kleinen Finger trüge.

Desto schlimmer sah es unter den amerikanischen Matrosen und denen des ›Blitz‹ und der ›Hoffnung‹ aus. Als jene zurückkehrten, welche die versprengten Indianer verfolgt hatten, brachten sie einen skalplosen Trapper mit – sein Kopf war von einem Tomahawk zerschmettert worden. Charly, der Waldläufer, schwor bei der Leiche seines Freundes, von jetzt ab würde auch er Skalpe nicht mehr verschmähen, und er wollte nicht eher ruhen, als bis er ihn hundertfach gerächt haben würde. Er wolle nicht mehr Wild, sondern Indianer jagen.

Jene Gewölbe, in welchen einst die Trapper, die Herren und Damen Unterkunft gefunden, verwandelten sich in Lazarette, doch sie sollten nicht lange als solche dienen. Darüber sprach jetzt Hoffmann mit Kapitän Staunton.

»Eine meiner Besitzungen liegt nicht weit entfernt, etwa acht englische Meilen. Ich eile dorthin und sorge für genügende Transportmittel, damit alle Verwundeten dort Pflege finden. Ich nehme nur meinen Ingenieur und Miß Lind mit und kehre mit Wagen zurück, während Herr Anders den Bau von hölzernen Baracken leitet, groß genug, um alle verwundeten Soldaten aufzunehmen, die Ihrigen sowohl, als auch die Rebellen. Erst wollen wir sie pflegen, dann beratschlagen, was wir mit ihnen beginnen.«

»Und ich werde einstweilen die Toten bestatten lassen,« entgegnete Staunton.

Hoffmann bezeichnete die, deren Leichen er innerhalb zweier Tage abholen würde, und hatte dann mit Nick Sharp eine längere Unterredung, worauf sie sich von den übrigen entfernten.

Der Abend brach an. Die Dunkelheit senkte sich hernieder. Nur die amerikanischen Soldaten beschäftigten sich im Freien mit der Bestattung der Toten, alle anderen befanden sich in den Gewölben und richteten die Lager für die Verwundeten her. Die Damen übernahmen die Pflege der Engländer, die unverletzten halfen ihnen dabei im Lichte der Fackeln.

Hoffmann wollte die Reise nach seiner Besitzung mit dem nur wenig verwundeten, jungen Ingenieur erst am anderen Tage antreten. Früh sollte ein feierliches Massenbegräbnis stattfinden, und diesem wollte er noch beiwohnen.

Jetzt schritt er mit Nick Sharp einem Gewölbe zu, von dem sie wußten, daß es einen Zugang zu den unterirdischen Gängen der Ruine bildete. Beide trugen keine sichtbaren Waffen, hatten aber natürlich solche bei sich, ebenso Mittel, um sich Licht zu verschaffen.

Sie nahmen nämlich an, daß auch noch Leben im Innern der Ruine herrschte. Fritz hatte ja erzählt, die Eindringlinge seien einem Weibe begegnet, das vor ihnen geflohen sei.

Sie wollten also die Gänge, Gewölbe, Gemächer und so weiter untersuchen. Sie brauchten keinen Führer, sie hatten sich als Bären vollkommen über den unterirdischen Bau orientiert.

»Arahuaskar fehlt,« flüsterte Hoffmann, als sie den geheimen Zugang im Gewölbe mittels des Mechanismus' öffneten, »ebenso andere Indianer. Ich denke, wir werden noch Lebende finden.«

»Auch Miß Morgan und Flexan haben sich wieder blicken lassen,« entgegnete Sharp. »Sie könnten dem Unglücklichen eine Medizin geben, welche ihn von seinen Leiden befreit.«

»Ja, es wird die höchste Zeit, daß dieses Natterngezücht von der Erde verschwindet. Können sie auch nicht mehr viel schaden, so ist es doch besser, wenn sie nicht mehr leben, denn auch abgebrochene Giftzähne wachsen wieder nach.«

Sie schlüpften durch die engen Oeffnungen, schlossen dieselben wieder sorgfältig und bewegten sich ebenso vorsichtig in dem dunklen Gang wie damals, als sie das erstemal das Labyrinth betraten. Licht brauchten sie nicht, sie konnten schnell vorwärtsdringen, ohne auch nur irgendwo anzustoßen.


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