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Kehren wir zu unserem Freunde Dick zurück, welcher im Hotel Atlantik zwar recht behagliche, aber auch recht langweilige Tage verlebte.
Er hatte die Hälfte des Tages stets wie ein Bär verschlafen, immer für zwei Mann gegessen und getrunken, des Morgens den ›New-York Herald‹ gelesen und die übrige Zeit vom Fenster aus das rege Treiben der Straße gemustert, das ihm ein ganz neues Schauspiel war.
Dick lebte also ganz angenehm, doch eine so riesige Figur wie die seine konnte Müßiggang nicht lange aushalten, besonders wenn es keine Unterhaltung gab, und so war es nicht wunderbar, wenn er sich schon nach den ersten Tagen in ein freundliches Gespräch mit dem Zimmerkellner einließ, viel freundlicher, als es sonst seine Art war. Er klagte ihm seine Langeweile.
»Warum gehen Sie denn nicht spazieren?«
»Ich erwarte jemanden.«
»Deshalb brauchen Sie sich doch nicht wie ein Gefangener im Zimmer einzuschließen.«
»Wenn der nun aber gerade kommt, den ich erwarte, und ich bin nicht zu Hause?«
»So wartet er eben, bis Sie zurückkommen, wenn er Sie so dringend zu sprechen wünscht,« lachte der Kellner.
»Was ich bei mir trage ist von solcher Wichtigkeit, daß ich gar nicht allein auszugehen wage.«
Kurz, Dick fing an zu plaudern, er erzählte von seinem Fund, dem Pergament, von den 10 000 Dollar Belohnung, die ihm in Aussicht ständen, und von dem bald zu erwartenden Bevollmächtigten des Besitzers, welcher das Pergament auf seine Echtheit prüfen und, wenn er solche bestätigt gefunden, ihm wahrscheinlich die Prämie gleich auszahlen würde.
Dick kannte kein Mißtrauen; seine ganze Natur schien Offenherzigkeit zu sein, es fiel ihm auch durchaus nicht auf, daß der bärtige Zimmerkellner mit den listig blinzelnden Augen immer wieder auf dieses Thema zu sprechen kam und recht verfängliche Fragen stellte. Nur in einer Hinsicht war Dick recht hartnäckig, er konnte von dem neugierigen Kellner nie dazu bewegt werden, ihm das Pergament zu zeigen. Bei dieser Bitte kniff der Miner stets die Augen listig zusammen und schüttelte mit pfiffigem Lächeln den Kopf.
Und der Kellner war doch so neugierig!
Dick hatte mit ihm in den paar Tagen schon wirkliche Freundschaft geschlossen und infolgedessen schon manche Flasche Portwein mit ihm ausgestochen. Daher war der Kellner dem Wunsche Dicks sofort nachgekommen, als ihn dieser einmal gebeten hatte, für ihn einige Kleidungsstücke zu kaufen. Der Kellner war mit einem ganzen Paket angekommen und hatte den gutmütigen Miner nicht einmal um einen Cent betrogen.
Obgleich Dick nun niemals das Zimmer verließ, seine neuen Kleider also auch nicht den Straßenstaub auffingen, unterließ der Kellner es doch keinen Abend, die Sachen seines neuen Freundes mit hinauszunehmen, um sie, wie er sagte, von dem Hausknecht ausklopfen zu lassen. Dicks Behauptung, dies wäre unnötig, hielt ihn davon nicht ab, gerade die vorderen Zimmer seien sehr staubig, und so hielten es hier im Hotel alle Gäste, selbst wenn sie monatelang ihr Zimmer nicht verließen.
In Wirklichkeit aber gab der freundliche Kellner die Sachen niemals dem Hausknecht, sondern begnügte sich damit, die Taschen genau zu untersuchen – doch das Pergament fand er nie.
Dick war auch wirklich zu harmlos, so vorsichtig er sich sonst stellen mochte.
So zum Beispiel wachte er einmal aus tiefstem Schlafe auf, weil in seinem Zimmer ein Lehnstuhl mit polterndem Getöse umgefallen war.
»He, wer ist da?« knurrte der Erwachte.
»Ich bin's.«
»Wer ist das ich?«
»Louis,« so war der Name des Kellners, »ich habe gestern Abend meine Schlüssel hier liegen lassen, jetzt werden sie gebraucht, und man macht schon Skandal, daß sie nicht gleich zur Hand sind. Entschuldigen Sie die nächtliche Störung!«
»Macht nichts. Wartet, hier sind Streichhölzchen, ich werde leuchten,« sagte der gutmütige Dick.
»O, bemühen Sie sich nicht.«
In diesem Augenblick klirrte es.
»Da sind sie schon, sie lagen auf dem Boden.«
Wieder klirrte es, und zwar so laut, daß man das Geräusch dabei nicht hörte, welches klang, als wenn die Schublade einer Kommode zugeschoben würde.
»Gute Nacht, Mister Dick.«
»Gute Nacht, Louis,« entgegnete der Miner und wälzte sich auf die andere Seite.
Draußen auf dem Korridor aber murmelte der Kellner:
»Es hilft mir alles nichts, ich finde das Pergament nicht, wahrscheinlich trägt er es am Körper verborgen. Aber eine Natur hat der Kerl! Nach dem, was ich ihm gestern eingeflößt habe, müßte er den ewigen Schlaf tun, und doch ist er aufgewacht. Verdammt, daß ich den Stuhl umwerfen mußte! Na, hatte es wahrscheinlich sowieso nicht gefunden. Ein Glück, daß der Kerl so beschränkt ist.«
Am nächsten Abend erhielt Dick endlich den Besuch, den er so lange erwartet hatte.
Ein junger, nett und einfach gekleideter Mann, dem die Schüchternheit aus den Augen sah, der sich überhaupt recht blöde und befangen benahm, fragte an der Portiersloge nach Mister Dick Burrels und wurde zurechtgewiesen.
Als er auf dem Korridor stand und nach der Zimmernummer suchte, wurde er von dem Zimmerkellner angeredet.
»Sie wünschen?«
»Nummer 41.«
»Mister Burrels?«
»Ja.«
»Ist ausgegangen,« log der Kellner, um den Zweck dieses Besuches zu erfahren.
»O weh, dann muß ich warten. Wird er lange ausbleiben?«
»Je nachdem,« lächelte Louis.
»Wie meinen Sie das?«
»Das kommt darauf an, was Sie von ihm wünschen. Mister Burrels ist nicht für jeden zu sprechen.«
»Also er ist zu Hause?«
»Nicht für jeden.«
»Aber für mich.«
»Hm, sind Sie der Herr, welcher wegen des Pergaments kommt? Diesen vorzulassen hat mich Mister Burrels beauftragt.«
Der junge Mann machte ein erstauntes Gesicht.
»Allerdings, der bin ich.«
»Dann bitte, treten Sie ein.«
»Ein richtiger Grünfink,« dachte Louis, als er die Tür hinter dem Fremden geschlossen hatte, »mir ganz unbegreiflich, daß man solch jungen Bengel bei einer so wichtigen Angelegenheit verwendet. Ich glaube, der ist noch nicht einmal trocken hinter den Ohren. Doch ja, es soll ja so einer sein, der die Echtheit des Pergamentes prüft, also so ein Grübler von Gelehrtem, und die Leute sind gewöhnlich so schüchtern und verlegen, daß sie nicht wissen, wo hinten und vorn ist. Na, dem werden sie die Würmer schnell genug aus der Nase ziehen, denn ein Grünfink ist er doch nur. Schade, daß mir mein Versuch bei Dick nicht gelungen ist, ich muß weiter spionieren, das bringt auch etwas ein.«
Der Grünfink war unterdes von Dick empfangen worden und hatte sich als Mister Stephans vorgestellt.
»So, hm, Stephans, ein hübscher Name,« sagte Dick, den jungen Mann von oben bis unten musternd und dabei ein mißtrauisches Gesicht machend.
»Sind Sie mit mir zufrieden?« fragte der andere lächelnd.
»Habe natürlich keine anderen als die auf meinen Namen.«
»Dachte mir's. Wollen Sie was trinken?«
»Gewiß, bestellen Sie etwas!«
»Portwein?«
»Ich trinke keine Spirituosen.«
»Also Abstinenzler?«
»Ja, ich bin Temperenzler.«
»Vielleicht Limonade?«
»Danke.«
»Selterswasser?«
»Ja, darum bitte ich – mit etwas Kirsch.«
Eine Klingel läutete, welche Louis rufen sollte. Dieser stand auf seinen Kellnerschuhen schon längst vor der Tür und lauschte. Der Beginn der Unterhaltung, dieses Fragen nach Getränken hatte ihn durchaus nicht gewundert, in Amerika beginnen unzählige Geschäftsgespräche auf diese Weise.
Dick sprach, wie gewöhnlich einem Fremden gegenüber, in protzigem Tone, der andere schüchtern.
Daß aber diese Fragen und Antworten der beiden nur Stichworte waren, an denen sie sich erkannten, davon hatte er keine Ahnung, es fiel ihm eben nichts Ungewöhnliches dabei auf.
Er blieb noch eine halbe Minute stehen, schlürfte dann mit den Schuhen und trat ein. Die beiden hatten schon an dem Tisch gegenüber Platz genommen.
»Portwein für mich, Selterswasser und Kirsch für den Herrn,« bestellte Dick.
Louis entfernte sich wieder unter einer Verbeugung und dachte dabei:
»Also Temperenzler ist der Kerl auch. Nun, da haben sie gerade den grünsten aller Grünfinken ausgesucht. Nun heißt es noch, meinen Instruktionen nachzukommen, dann ist das Bürschchen reif, gerupft zu werden.«
Mit den Temperenzlern, das heißt, mit jenen Leuten, welche jeden Genuß irgend eines geistigen Getränks verschmähen, das unschuldigste Glas Dünnbier nicht anrühren, ist es in Amerika und auch in anderen Ländern eine eigentümliche Sache. Sie stehen in keinem guten Rufe, und nicht mit Unrecht.
Temperenzler sind entweder Leute, welche früher Trunkenbolde waren, Trunkenbolde, wie man sie in Deutschland gar nicht kennt, die das Hemd vom Leibe im buchstäblichen Sinne des Wortes vertrinken, oder es sind Scheinheilige, welche sich für Temperenzler ausgeben, im stillen aber destomehr trinken. Zu letzteren gehören Beamte, wie zum Beispiel solche an der Bahn, Post und so weiter, welche versprechen müssen, nie einen Tropfen eines geistigen Getränks zu sich zu nehmen, ferner angesehene Leute, welche den unteren Klassen ein Beispiel der Mäßigkeit geben zu müssen glauben.
Wie gesagt, öffentlich prahlen sie damit, Temperenzler zu sein, und im stillen wird ordentlich gebügelt.
Außer einigen wenigen, welche aus Prinzip oder Gesundheitsrücksichten nichts trinken, sind die früheren Trunkenbolde noch die ehrlichsten. Sie wissen, daß, wenn sie auch nur einen Schluck einer alkoholischen Flüssigkeit getrunken haben, sofort ihr altes Laster sie von neuem ergreift, und zwar mit verdoppelter Heftigkeit. Dann gibt es keine Rettung mehr, sie verkommen in dem Sumpfe, in den sie geraten.
Die Temperenzler stehen noch in dem Rufe, anderen Lastern zu frönen, mit einer Leidenschaft, wie sie der Trinker gar nicht kennt. Das läßt sich auch psychologisch erklären. Einer, welcher früher der Trunksucht stark gefrönt hat, wird, wenn er das Trinken aufgibt, in andere Laster fallen. Wer aus dem bekannten Dreibund, Wein, Weiber und Spiel, den Verderbern so mancher Jugend, den Wein wegläßt, der fällt den beiden anderen Vampiren desto schneller zum Opfer.
Kurz, die Temperenzler sind nicht sehr geachtet, man wittert in ihrem Charakter irgend einen dunklen Punkt.
Louis brachte das Verlangte. Bei seinem Eintritt brach das Gespräch ab. Man beschäftigte sich mit den Getränken, und als Louis dann an der Tür zu lauschen versuchte, konnte er nichts vernehmen – man sprach zu leise.
Die Unterredung zog sich in die Länge. Es war schon um 9 Uhr, und die beiden waren noch nicht fertig.
Einmal bekam Louis, welcher öfters zur Herbeischaffung von frischen Getränken herbeigerufen wurde, auch das Pergament zu Gesicht.
Mister Stephans hatte es vor sich ausgebreitet, hielt eine Lupe vor das Auge und musterte es sorgfältig. Sein Gesicht hatte jetzt nicht mehr einen schüchternen, sondern einen recht klugen, intelligenten Ausdruck.
Louis, einen Auftrag erwartend, blieb lautlos stehen, versuchte aber vergebens, etwas von dem Inhalte zu erfahren. Er sah nur Hieroglyphen, und diese waren für ihn eben Rätsel. Genau so gut hätte er erraten können, was die dünne, schwarze Platte zu bedeuten hatte, welche neben dem geheimnisvollen und so wichtigen Pergament lag.
»Nun, noch immer nicht zufrieden?« fragte Dick endlich.
»Doch, die Sache ist allright,« entgegnete Stephans, »dies Pergament ist das richtige, Sie haben die Prämie verdient.«
Dick schlug auf den Tisch und lachte fröhlich auf, während der junge Mann die Gummischeibe in das Pergament wickelte, beides in eine Ledertasche steckte und diese in eine Innentasche der Weste schob.
Alles das war von dem Kellner scharf beobachtet worden.
»He, Louis,« rief Dick, »noch eine Flasche Portwein, oder halt, eine Flasche Champagner, unser Geschäft muß gefeiert werden. Ihr macht doch einmal eine Ausnahme, Mister Stephans, und trinkt ein Glas Champagner mit?«
»Keine Ausnahme, ich trinke keine alkoholischen Sachen.«
»Ach, macht mir doch nichts weis. Ihr seid doch kein solcher Süffel gewesen, daß Ihr nichts mehr trinken dürft?«
»Das allerdings nicht,« lächelte Stephans, »ich bin Temperenzler durch Erziehung.«
»So habt Ihr überhaupt noch nie ein Glas Wein, getrunken? Schmeckt prachtvoll, sage ich Euch.«
»Einmal habe ich mich allerdings verleiten lassen, einige Glas Wein zu trinken, sie sind mir aber sehr übel bekommen, ich tue es nicht wieder.«
»Uebel bekommen?«
»Ja, oder vielmehr – ich brauche mich ja Ihnen gegenüber nicht zu genieren – ich habe nach dem Genuß jenes Weines Streiche gemacht, welche ich vor meinem Gewissen nicht verantworten konnte.«
Der junge Mann war bei diesem Geständnis errötete. Louis biß sich auf die Lippen, Dick lachte laut.
»Hahaha, sehr gut! Seht Ihr wohl, was Ihr Temperenzler für Tugendhelden seid? Kaum habt Ihr etwas getrunken, so begeht Ihr allerlei Dummheiten!«
»Eben deswegen trinken wir nicht. Jeder Mensch hat seine Fehler, und da ich erfahren habe, daß meine Leidenschaften nach dem Genuß von Alkohol zum Durchbruch kommen, so enthalte ich mich desselben vollständig.«
»Champagner ist kein Alkohol.«
»Er enthält aber solchen.«
»Habt Ihr schon einmal Whisky getrunken?«
»Noch nie an meine Lippen geführt.«
»Auch keinen anderen Branntwein?«
»Nie.«
»So wißt Ihr gar nicht, wie er schmeckt?«
»Nein.«
»Köstlich!« lachte Dick aus vollem Halse. »Von dem solltet Ihr erst einmal ein Quantum trinken, und wenn Ihr dann nicht heute nacht noch New-York auf den Kopf stelltet, dann will ich gehangen werden.«
»Das wäre leicht möglich, und deshalb vermeide ich ihn. Wer den ihm gelegten Schlingen nicht aus dem Wege geht, ist wert, gefangen zu werden. Ich verteidige das Temperenzwesen entschieden, es ist der Anfang eines moralischen Lebens.«
»Ihr sprecht wie ein Buch. Na, laßt's gut sein. Louis, mir eine halbe Flasche Champagner, und was trinkt Ihr, Mister Stephans?«
»Noch Selterswasser und Kirsch. Aber sagen Sie Kellner, woher beziehen Sie die Essenz eigentlich?«
Der Kellner nannte eine Firma.
Ueberall, wo das Temperenzwesen sehr verbreitet ist, wie zum Beispiel in Amerika, Australien, Skandinavien – also überall da, wo die Trunksucht die schlimmsten Auswüchse erzeugt – existieren Firmen, welche sich ausschließlich mit der Fabrikation alkoholfreier Getränke beschäftigen. Brauereien liefern alle Sorten Biere, aus Hopfen bereitet, doch ohne Alkohol, und Destillerien versehen die Temperenzler mit allen nur erdenklichen Arten von Schnaps und Likör, ebenso genannt, aber frei von Spiritus. Man kann sie selbst dem Geschmack nach kaum von wirklichen Branntweinen unterscheiden, aber die betäubende Wirkung bleibt aus.
Dem jungen Mann schmeckte der Kirschlikör nicht, den er zu dem Selterswasser genoß.
»Das ist doch ein Temperenzgetränk?« fragte er.
»Gewiß, diese Firma liefert nur solche.«
»Er regt mich so auf, ich fühle mich so sonderbar. Ich glaube fast, der Kirsch enthält Alkohol.«
»Sie sind der erste Gast, welcher das sagt. Noch, niemand hat sich über ihn beschwert.«
Wirklich, Mister Stephans' Augen glänzten, seine Wangen waren gerötet, was beides vorher nicht an ihm zu bemerken gewesen war.
»Macht keine Dummheiten heute abend,« lachte Dick, »Ihr scheint wieder dazu aufgelegt zu sein.«
»Ich werde mich irren,« fuhr Stephans fort, den Rest seines Glases austrinkend, »die Freude, das verlorene Eigentum meines Herrn wiederzuhaben, jagt mir nur das Blut schneller durch die Adern. Noch eine Selters und Kirsch.«
Als Louis wieder hereinkam, lag vor Dick auf dem Tisch eine stattliche Anzahl von Goldstücken aufgereiht, und Dick unterzeichnete eben eine Quittung, welche Stephans dann einsteckte.
»Also doch,« dachte Louis, die Getränke servierend, »dieser junge Bengel muß ein tüchtiger Mann sein, daß man ihm solche Geschäfte und solche Summen übergibt, oder aber, er genießt bei seinem Herrn unbedingtes Vertrauen. Man findet oft, daß Fromme und Temperenzler untereinander sich das größte Vertrauen erweisen, bis sie einmal hinters Licht geführt werden und ihre Dummheit einsehen. Ich würde solch einem Bruder, der keine drei Glas Wein vertragen kann, keine fünf Dollar anvertrauen.«
Stephans hatte sein Glas ausgetrunken, er erhob sich. Louis räumte zusammen.
»Jetzt muß ich aber fort, ich bin kein Freund von spätem Zubettgehen,« sagte Stephans, Dick die Hand hinhaltend, der das Gold schon eingesteckt hatte.
» Good bye denn, Sir; seht Euch unterwegs vor, fallt nicht in Versuchungen und Stricke.«
»Werde mich hüten! So lange ich bei klarem Verstande bin, ist es nicht so leicht möglich, mich zu fangen. Das müßte ein ganz geriebener Gauner sein.«
»Oder eine Gaunerin.«
» Never Mind! Dank meiner Temperenz, bin ich gegen alle satanischen Künste gefeit.«
Die Männer verabschiedeten sich. Als Stephans durch das Zimmer ging, wäre er beinahe über einen Fußschemel gefallen, er stolperte und sank auf ein Sofa. »O, o, ich bin etwas kurzsichtig. Gute Nacht, Gentlemen, auf Wiedersehen, Mister Burrels.«
Damit erhob er sich und verließ das Zimmer.
Des Kellners Gesicht strahlte, als er mit dem Brett voll Flaschen und Gläser über den Korridor schritt.
»Gelungen,« murmelte er, »der hat seinen Teil weg. Ich möchte zu gern dabei sein, wenn dieser Tugendheld direkt in die Schlingen rennt, die er in seinem Dunkel als gar nicht für ihn existierend wähnt.«
Es war gegen zehn Uhr, als Mister Stephans das Hotel verließ. Der Broadway, in welcher Straße das Hotel liegt, war natürlich noch sehr belebt, doch es herrschte nicht mehr das hastige Treiben des Tages, es waren Spaziergänger, welche sich hier aufhielten, Herren und Damen, paarweise und allein, und man irrt, wenn man eine Dame, welche in Nordamerika des Abends allein auf der Straße geht, für eine der Halbwelt hält.
Die Damen dürfen dort frei auftreten, weil sie unter dem Schutze der Männer stehen. Der Fremde, der solch eine alleingehende Dame anspricht, riskiert, den Regenschirm ins Gesicht zu bekommen, und ist er nicht still, so kann er auch noch die Fäuste der zu Hilfe eilenden Passanten schmecken.
Der junge Mann ging, den langen Rock bis oben zugeknöpft, die Hände in den Taschen, den niedrigen Hut tief in der Stirn, langsam seines Weges, schaute nicht links und rechts, wohl aber einmal einer ihm begegnenden, hübschen Dame in die Augen.
Manche sah weg, manche erwiderte den Blick, einige taten dies sogar in recht zudringlicher Weise.
Der Mann blieb nicht stehen, er schlug oft, wenn der Blick zu feurig gewesen, die Augen nieder und setzte seinen Weg fort.
So erreichte er das Ende des Broadway, wendete sich links in eine noch ziemlich belebte Straße, dann wieder rechts und kam so auf einen Platz, der mit Anlagen verziert war. Diese von eisernen Gittern umschlossenen Anlagen waren jetzt geschlossen, und auf dem Wege längs der Häuser gingen nur sehr wenig Leute. Niemand hatte hier etwas zu tun.
Da erscholl hinter Stephans ein leichter, hastiger Schritt, und ehe der junge Mann wußte, wie ihm geschah, lag ein Arm in dem seinen.
»Herr, schützen Sie mich, ich werde verfolgt!« keuchte eine Mädchenstimme.
Stephans schien sehr überrascht; ehe er die Hilfsbedürftige einer Musterung unterzog, blickte er sich ängstlich um und sah wirklich zwei dunkle Gestalten, welche eben um eine Ecke verschwanden.
»Sie sind weg,« sagte er verlegen.
»Sie werden wiederkommen,« entgegnete die Dame ängstlich, »ich habe wohl bemerkt, daß sie mir schon lange folgen, ich hielt es nur für einen Zufall, sobald ich aber hier einbog, näherten sie sich mir so schnell, daß ich eine Gewalttat fürchtete. Es sind in der letzten Zeit einige Ueberfalle hier vorgekommen. Haben Sie nichts davon gehört?«
»Nein, gar nichts.«
»Damen sind ihres Schmuckes beraubt worden.«
»Dann wäre es besser, Sie nähmen einen Wagen. Ich werde Ihnen einen besorgen.«
»Nicht doch! Die Ueberfalle geschehen fast immer im Wagen. Die Räuber öffnen die Türe, ohne daß es der Kutscher bemerkt, springen hinein und überwältigen ihr Opfer.«
»Das müssen ja freche Menschen sein.«
»Das sind sie. Mir ist bis jetzt noch niemals etwas zugestoßen, ich war immer so keck, aber jetzt ist mir plötzlich aller Mut gesunken. Wenn ich Sie nicht belästige, ersuche ich Sie, mich nach Hause zu begleiten.«
Die Erfüllung einer solchen Bitte darf kein Amerikaner abschlagen, – es sei denn, er befände sich auf dem Wege zu einem Sterbenden.
Mister Stephans hatte im trüben Scheine einer Laterne seine Begleiterin gemustert, allerdings nur scheu von der Seite, und fand in ihr eine nicht mehr allzu junge, aber noch recht hübsche und ansehnliche Dame. Ihre Toilette ließ nichts zu wünschen übrig.
Es war des jungen Mannes Pflicht, die ihn darum bittende Dame nach Hause zu führen, mochte sie sein, was sie wollte. Es gab höchstens einen Ausweg: sie dem Schutze eines Konstablers zu übergeben, doch ein junger Mann tut dies schwerlich.
Ihr Arm lag leicht in dem seinen, die herabhängende Hand, mit gelbem Glacé bekleidet, war klein und zierlich, den runden Knöchel umschloß ein goldenes Armband.
Mister Stephans war sehr einsilbig; man sprach erst vom Wetter, dann von der Unsicherheit New-Yorks, und schließlich erzählte die Dame, wo sie gewesen – in einem Theater, welches frühzeitig schloß. Sie befände sich nun auf dem Wege nach ihrer Wohnung – gar nicht weit von hier.
Stephans fand etwas in diesen Worten, was ihn veranlaßte, die Dame einmal genauer anzusehen, er begegnete ihren feurigen Augen, und gleichzeitig fühlte er seinen Arm gepreßt.
Wäre der junge Mann auch noch so unerfahren gewesen, er hätte doch sofort gewußt, zu welcher Klasse von Damen diese gehörte, die er nach Hause brachte – doch in Amerika gibt es keine solche unerfahrene Menschen.
Er räusperte sich verlegen.
»Hm, hm, Miß, ist es noch weit bis zu Ihrem Hause?«
»Wir sind gleich dort, die nächste Ecke.«
»Dann kann ich mich wohl empfehlen, hier ist die Gegend sicher.«
»O bitte, bringen Sie mich bis vor die Tür!«
»Gut, bis vor die Tür,« sagte Stephans mit Nachdruck.
Nach einigen Minuten blieb er stehen.
»Sie haben sich doch nicht verlaufen?« fragte er.
»Nein, warum denn?«
»Vorhin sagten Sie, die nächste Ecke, und jetzt sind wir schon an einigen vorüber.«
»Ja,« lachte die Dame, »ich bin eben an meinem Hause vorübergegangen.«
Stephans versuchte, seinen Arm freizumachen, er wurde aber festgehalten.
»Ich bedaure, Miß.«
»Was denn?«
»Sie nicht weiter begleiten zu können.«
»O, Sie sind unhöflich.«
»Durchaus nicht, aber Sie täuschen sich in mir.«
»Wieso?«
»Ich bin nicht geneigt, auf Ihren Vorschlag einzugehen.«
»Auf welchen denn?«
»Ich bitte Sie darum.«
»Nein – adieu.«
Die Dame ließ ihn nicht los. Sie hielt ihn fest und sah ihn im Scheine der Gaslaterne mit verführerischem Lächeln an.
»Wenn ich Sie nun aber recht herzlich bitte!«
Der junge Mann senkte die Augen zu Boden.
»Ich bin verheiratet,« brachte er dann schüchtern hervor.
Die Dame brach in ein helles Lachen aus.
»Hier in New-York?«
»In Philadelphia.«
Sie lachte noch lauter.
»O, was für ein Ausbund von Tugend sind Sie! Sie haben gewiß eine sehr strenge Frau.«
»Ja, das ist es eben.«
»Sie ist ja nicht hier.«
»Wenn sie es aber erfährt!«
»O, New-York ist groß. Wirklich, solch ein seltsamer Fall ist mir noch niemals passiert. Kommen Sie, bringen Sie mich nach Hause! Ihre gestrenge Ehegattin wird nichts erfahren.«
»Und ich kann dennoch nicht, so gern ich auch möchte,« seufzte er.
»Warum nicht?«
»Sie sehen mich für etwas anderes an, als ich bin. Ich bin nach hier gereist, weil ich in Philadelphia keine Beschäftigung finden konnte. Meine Geldmittel sind sehr knapp ...«
Die Dame sah ihn scharf an, lächelte dann aber wieder.
»Wissen Sie, Sie gefallen mir.«
»Sehr angenehm ...«
»Ich habe nicht nötig, Ihre Börse in Anspruch zu nehmen.«
Der junge Mann machte eine Bewegung.
»Haben Sie noch nie davon gehört, daß es Mädchen gibt, welche von denen, die sie lieben, kein Geld annehmen?«
»Nein.«
»So erfahren Sie es jetzt.«
Der junge Mann sträubte sich nur noch schwach, er ließ sich fortziehen, dann zog er den Arm seiner Begleiterin enger in den seinen und ging schneller – sein Widerstand war besiegt.
Sie öffnete die Tür eines recht stattlichen Hauses, das Gaslicht beleuchtete Marmortreppen, mit Teppichen belegt, diese Dame mußte also durch Feilbietung ihrer Reize einen ganz hübschen Verdienst haben.
Stephans ließ sich nicht mehr nötigen, er folgte rasch der Voraussteigenden, bis diese einen Korridor erreichte, von welchem aus viele Türen in Privaträume führten, die immer aus drei bis vier Zimmern bestehen mochten.
»Einen Augenblick,« sagte Stephans, als seine Begleiterin eine der Türen aufschloß. »Wohnen Sie allein?«
»Ganz allein.«
»In dieser Wohnung?«
»Sie besteht nur aus zwei Zimmern, einem Wohn- und Schlafzimmer. Es ist die kleinste Wohnung im ganzen Hause, in welchem Künstler und Künstlerinnen, Literaten und wohlhabende Junggesellen hausen.«
»Ich treffe keine Gesellschaft bei Ihnen?«
»Nein doch, Sie Furchtsamer, Sie werden bei mir so einsam wie Adam im Paradies sein.«
Sie schloß auf und trat ein. In diesem Augenblick flammte hinter ihr Licht auf; Stephans hatte eine brennende Wachskerze, in der Hand.
»Sie machen gar nicht den Eindruck eines verheirateten Mannes, viel eher den eines alten Junggesellen,« lachte die Dame; »die haben auch immer Lichter, Bindfaden, Pflaster, Medizinen und so weiter bei sich, um nie in Verlegenheit zu kommen.«
»Ich bin viel gereist, daher diese Angewohnheit. Soll ich das Licht wieder ausblasen?«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ganz gut, so kann ich schneller die Lampe finden. So –«
Sie hatte die Lampe angebrannt. Stephans sah sich in einem zierlich eingerichteten Schlafzimmer, zierlich von dem mit Spitzen besetzten, blauen Himmelbett bis zu den Fruchtschalen mit Obst, welche Tische und Kommoden schmückten und einen angenehmen Geruch im Zimmer verbreiteten.
Rosetta, wie sie sich genannt hatte, ließ ihren Begleiter nicht lange in diesem Zimmer Umschau halten.
»Das ist nichts für Ihre profanen Augen, Sie schüchterner, junger Mann,« sagte sie mit verheißendem Lächeln und schob ihn in das Wohnzimmer hinein, welches sehr elegant ausgestattet war. Dichte, schwere Vorhänge verdeckten die Fenster, der grüne Schirm der Lampe warf ein angenehmes Licht auf die kostbaren Samtmöbel. Alles machte den Eindruck der Neuheit, es schien fast, als ob alles soeben erst aus dem Möbelladen gekommen wäre, man meinte noch den Tapeziergeruch wahrzunehmen.
Stephans entdeckte in einer Falte der Fensterportiere ein Zettelchen, er besah es – die Angabe des Verkaufspreises.
»Ist der Zettel noch daran?« lachte Rosetta, seine Untersuchung bemerkend. »Ich habe sie mir heute erst gekauft. Doch nun machen Sie es sich bequem, als wären Sie zu Hause bei Ihrer gestrengen Gattin. Oder ist es Ihnen unangenehm, den Namen Ihrer Frau zu hören? Sie scheinen ja ein wahrer Ausbund von Tugend zu sein! Legen Sie ab, was Sie abzulegen haben. Genieren ist hier am unrechten Platze.«
Stephans hatte sich auf ein Sofa sinken lassen, während Rosetta die Mantille ablegte, die Handschuhe auszog und vor dem großen Spiegel ihr Haar ordnete. Dann nahm sie mit verführerischem Lächeln neben ihm Platz.
»Nun, wie gefalle ich Ihnen, mein Freund? Wenn Sie sich von mir ebenso angezogen fühlen, wie ich mich von Ihnen, so würden wir ein glückliches Paar abgeben.«
Sie ergriff seine Hände und blickte ihm in die Augen. Stephans mußte gestehen, daß seine neue Freundin jetzt noch besser aussah, als vorhin in Mantille und Hut.
»Zu einem guten Verhältnis ist Offenheit nötig,« entgegnete er, eine Hand freimachend, »und so muß ich Ihnen gestehen, daß ich vorhin nicht die Wahrheit gesagt habe.«
»Sie sind gar nicht verheiratet, nicht wahr?«
»Doch, ich bin's.«
»Aber Sie sind nicht das, als was Sie sich ausgaben.«
»Nein.«
»Sie sind kein armer Schlucker, der sich hier nur aufhält, um Arbeit zu suchen. O, ich wußte recht wohl, wen ich vor mir hatte. Nur Ihre Schüchternheit ersann alle diese Ausreden, damit Sie mir entgehen könnten. Jetzt ist es zu spät, Sie sind mein Gefangener, und Sie sollen es nicht bereuen.«
»Sie irren doch noch. Schüchternheit ist kein so großer Fehler, sie ist manchmal recht gut angewendet, aber Dummheit ist eine schädliche Schwäche, und Sie halten mich für etwas dumm.«
»O, mein Freund!«
»Gewiß, Sie tun es, aber ich bin's nicht, bin auch gar nicht so schüchtern, wie Sie glauben. Warum sagen Sie mir eigentlich nicht gleich offen und ehrlich, was Sie von mir wünschen, und gebrauchen solche Schliche?«
»Ich wünsche nichts, als Ihre Liebe.«
»Und dieses Papier.«
Stephans hatte das Pergament herausgezogen und hielt es der Dame hin.
Diese erblaßte. Selbst unter der Schminkeschicht war es zu sehen, sie wurde furchtbar verlegen.
»Was ist das?« brachte sie endlich hervor. »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.«
»Dann will ich's Ihnen sagen.«
Plötzlich hielt Stephans einen Revolver in der Hand und stand vor der bis zum Tode Erschrockenen. Jetzt war die Schüchternheit verschwunden, seine Augen sprühten Feuer, er drückte Rosetta fest auf das Sofa nieder.
»Keine Bewegung, keinen Laut!« herrschte er sie an. »Fürchten Sie nicht für Ihr Leben, ich bin kein Raubmörder und habe diesen Revolver hier nur, um mich gegen Ihre etwaigen Helfershelfer zu wehren. Ein Ruf von mir bringt zahlreiche Hilfe herbei, dies Haus ist bereits umstellt, Ihr Plan ist schon durchschaut, und nun gilt es nur noch, einen Vogel zu fangen. Dazu sollen Sie uns helfen. Wollen Sie? Ja oder nein.«
Die Überfallene war zu erschrocken, um Antwort geben zu können; sie zitterte.
Stephans änderte sein Benehmen, er setzte sich wieder, legte den Revolver vor sich auf den Tisch und hielt nur die Hand der Dame fest.
»Wollen Sie mir Antwort geben?«
»Wer sind Sie?« hauchte Rosetta.
»Kein Detektiv, wie Sie vielleicht meinen.«
Rosetta wollte sich erheben, doch Stephans drückte sie nieder.
»Meinen Sie deshalb nicht, ich hätte nicht das Recht, so aufzutreten,« fuhr er schnell fort, »ich könnte Sie sofort der Polizei übergeben.«
»Ich habe nichts verbrochen.«
»Doch, Sie sind eine Verbrecherin!«
»Sie lügen.«
»Sie sind die Helfershelferin von Verbrechern gewesen und sind es noch.«
»Beweise!«
»Sie sollten mir im Taumel der Leidenschaft dieses Pergament nehmen.«
»Ich kenne es gar nicht –«
»Und es Eduard Flexan bringen.«
Mit einem leisen Schrei sank Rosetta zurück, die Nennung dieses Namens hatte ihren Widerstand völlig gebrochen.
»Sie sehen, ich bin völlig in Ihre Pläne eingeweiht,« fuhr Stephans mit sanfter Stimme fort, »ich bitte Sie, mir offen Rede und Antwort zu stehen. Wollen Sie?«
»Ich will,« hauchte Rosetta, »ich weiß ja, ich bin doch verloren. Wer aber sind Sie, wenn kein Detektiv? Erst beantworten Sie mir diese eine Frage.«
»Ein Mann, welcher Eduard Flexan fangen, nicht aber Sie verderben will. Sagen Sie mir, wo sich Flexan befindet, seien Sie mir behilflich, ihn zu fangen, und Sie sind frei, sollen auch noch die Mittel bekommen, Ihre Freiheit zu behaupte«.«
»Leere Versprechungen, um mich gesprächig zu machen.«
»Nein, denn ich brauchte Ihnen keine Versprechungen zu machen, Sie würden einfach den Händen der Justiz ausgeliefert werden. Doch das will ich vermeiden. Sie sind ein Opfer von Eduard Flexan.«
Rosetta senkte den Kopf.
»Ja, sein letztes.«
»Sie haben keine Genossen mehr?«
»Nein.«
»Wer war der Kellner, welcher mich im Hotel Atlantik belauschte und mir berauschende Getränke vorsetzte?«
»Ich merke, Sie wissen alles.«
»Darum antworten Sie mir. Wer war das?«
»Er war nur von mir bestochen worden.«
»Sie wußten um das Pergament?«
»Ja.«
»Auch der Kellner?«
»Etwas, nicht alles.«
»Sie verkehren mit Flexan direkt?«
»Ja.«
»Und sollten ihm das mir geraubte Pergament bringen?«
»Ja.«
»Wann?«
»Sobald ich konnte, womöglich noch diese Nacht.«
»Erzählen Sie mir, wie der Plan ausgesonnen ist!«
»Flexan suchte mich hier auf und fand mich in großem Elend. Er erzählte mir von einem verloren gegangenen Pergament, welches ein großes Geheimnis enthielte. Besäße er dieses, so wäre er ein reicher Mann. Das Pergament war gefunden worden, der Finder war hier in New-York. Ich ging auf Flexans Pläne ein, er wollte dann seinen Reichtum mit mir teilen. Er brauchte mich, weil er sich nicht auf der Straße sehen lassen darf, man erkennt ihn sofort.«
»Ich weiß, weiter.«
»Zuerst galt es, Dick, den Finder, zu beobachten, denn er hatte das Pergament auf der Redaktion des ›New-York Herald‹ nicht abliefern wollen.«
»Woher wußte das Flexan?«
»Durch mich. Ich mußte mich auf seinen Befehl hin immer auf der Redaktion aufhalten, hörte Dicks Weigerung selbst, seinen Namen, seine Wohnung, und erfuhr auch sehr viel durch die Portiers. Dann bestach ich den Kellner, mit Dick Freundschaft zu schließen und ihn zu beobachten. Flexan stellte mir Geldmittel zur Verfügung, richtete mich auch hier ganz neu ein. Dann kamen Sie. Das übrige wissen Sie selbst – ich habe mich in Ihnen getäuscht. Nun aber, wer sind Sie?«
»Erfahren Sie zunächst, daß Flexan in unsere Falle gegangen ist. Der Verlust und Fund des Pergamentes war nur simuliert ...«
»Aber Sie haben es doch.«
»Ein ganz wertloses Papier. Wir wußten, wie gierig Flexan nach dem Besitze des Originals trachtet.«
»Sie haben triumphiert. Was nun?«
»Nun geben Sie Flexan auf und helfen mir.«
»Wie?«
»Sie zeigen uns Flexans Versteck.«
Rosetta schüttelte den Kopf.
»Gehe ich zugrunde, so soll man mir wenigstens nicht nachsagen, daß ich andere mitgerissen habe.«
»Sie scheinen noch die Gefühlvollste aus der ganzen Bande des Meisters zu sein. Unsinn, ich verrate Sie nicht, wenn Sie die meine sind.«
»Geben Sie mir Sicherheit!«
»Kennen Sie den Namen Nikolas Sharp?«
Rosetta sprang erschrocken auf, sank aber gleich wieder, wie gelähmt, zurück.
»Sie sind ...«
»Nein, der bin ich nicht, aber sein Bruder, Redakteur am ›New-York Herald‹. Sehen Sie, dem Besitzer des ersten Pergaments ist ungeheuer viel daran gelegen, ebenso wie auch anderen, Flexan dingfest zu machen, er hat schon große Summen daran gewendet. Jeder, der ihm dabei behilflich ist, erhält 10 000 Dollar bar, Dick hat sie schon weg, ich bekomme sie noch, und Sie, liebe Miß, erhalten dieselbe Summe, wenn Sie mir sagen, wo Flexan zu finden ist.«
Rosetta sah den jungen Mann lange an.
»Sprechen Sie die Wahrheit?«
»Die lautere Wahrheit. Sehe ich wie ein Lügner aus?«
»Nein.«
»Kommen Sie morgen nach dem ›New-York Herald‹, fragen Sie nach dem Redakteur Mister Lind – das ist mein Name – und Sie erhalten 10 000 Dollar von nur ausgezahlt; das Geld, daß Sie in ein anderes Land reisen können, empfangen Sie von mir extra. Hier meine Hand darauf.«
Rosetta nahm sie.
»Gut, ich will Ihnen das Versteck Flexans mitteilen.«
»Halt, wir können nicht ohne weiteres gehen, wir werden vielleicht beobachtet.«
»Nein, ich bin die letzte, die zu Flexan gehalten hat.«
»Er hat keinen anderen Helfer mehr?«
»Nein.«
»Trotzdem,« sagte Lind – unser alter Freund mit dem Spitznamen Youngpig – nach kurzem Ueberlegen, »Vorsicht ist besser als Nachsicht. Wir tun, als wäre Ihr Plan geglückt. Hier haben Sie das Pergament, es ist völlig wertlos, Sie gehen, und ich bleibe. Wie hatten Sie es ausgemacht, mit Flexan zusammenzutreffen?«
»Ich sollte ihn einfach in seiner Wohnung, einem erbärmlichen Kellerloch, aufsuchen.«
»Gut, so gehen Sie jetzt! Ich bleibe noch einige Stunden hier und entferne mich dann ruhig, denn dann muß unser Unternehmen schon geglückt sein.«
»Wie das? Soll ich allein Flexan gefangen nehmen? Das kann ich nicht.«
»Nein, das wäre Ihren Kräften auch zuviel zugemutet. Gehen Sie sorglos nach Flexans Wohnung! Sofort, wenn Sie auf die Straße kommen, wird sich Ihnen ein Mann anschließen, der Sie dorthin begleitet und mit Ihnen eintritt.«
»Nur einer?«
»Flexan ist stark, und wenn er wütend wird, besitzt er die Kräfte eines Riesen. Merkt er, daß ich ihn verraten habe, so wird er in Tobsucht fallen.«
»Nun, und?«
»Ein Mann genügt nicht, ihn zu überwältigen.«
»Ihr Begleiter genügt vollkommen.«
»Wer ist es?«
»Der Detektiv? Ah, er ist also auch mit dabei?«
»Ja, ich helfe ihm nur.«
»Gut, ich bin bereit zu gehen. Mister Lind, darf ich Ihnen wirklich vollkommenes Vertrauen schenken?«
»Unbedingtes. Noch eine Frage! Stehen Sie mit der Polizei auf gutem Fuße?«
»Nicht eben.«
»Haben Sie noch etwas auf dem Kerbholz?«
»Nein, nicht mehr.«
»Dann rechnen Sie auf mich, ich werde Ihnen behilflich sein, daß Sie von hier fortkommen, und wenn es Ihnen zusagt, ein neues Leben anfangen können.«
»Was bewegt Sie zu solcher Teilnahme?«
»Ich handle nicht nur nach eigenem Ermessen, sondern auch nach dem meines Bruders. Leicht ist es, Wunden zu schlagen, aber schwer, Wunden zu heilen. Die Justiz soll den Verbrecher nicht bestrafen, um seine Uebeltat zu rächen, sondern um ihn dadurch zu bessern. Doch dazu gibt es noch andere Mittel, als Kerker und Galgen. Auf Wiedersehen morgen, Rosetta!«
»Leben Sie wohl, ich werde Ihrer Worte gedenken,« entgegnete sie mit zitternder Stimme. »Sie geben einer Sklavin die Möglichkeit, sich von ihrem Peiniger zu befreien.«