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Ellen schlug die Augen auf, sie lag im Wigwam, sie lag sehr weich, sie wollte sich aufrichten, es gelang ihr nicht. Dann tastete sie an ihrem Kopfe.
»Ich lebe noch?« flüsterte sie.
Ihre Hand wurde ergriffen, Munro's Gesicht beugte sich über sie.
»Gott sei gelobt, Sie sind gerettet, und Sie werden nicht einmal etwas nachbehalten.«
»Aber – ich hatte doch eine Kugel in den Kopf bekommen.«
»Nein, oh nein. Sie sind nur am linken Beine verwundet worden.«
Lange sann Ellen nach.
»Ja – ja – jetzt fühle ich es,« sie legte die Hand an der betreffenden Stelle auf die Decke, »es ist ganz steif – aber Schmerz empfinde ich nicht – es ist ganz steif ...«
»Nicht bewegen!!«
Wieder eine lange Pause, Ellen tastete auf der Decke.
»Es ist so – still – Und ich bin ... wie lange – liege ich denn schon?«
»Vier Tage.«
Diesmal eine lange, lange Pause der Ueberlegung; Ellen hatte die Augen geschlossen.
»Mein – linkes Bein – ist – geschient. Sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Nun, ich will es Ihnen sagen, einmal erfahren Sie es doch; Sie brauchen nicht die geringste Sorge zu haben. Allerdings der Schenkelknochen ist gebrochen, aber ohne jeden Splitter, die Kugel hat ihn glatt durchgeschnitten und ist auf der anderen Seite wieder herausgegangen. Es war nur eine kleine Operation nöthig, dann nur noch Verbinden und Schienung. Ich garantire dafür, dass Sie den Gebrauch des Beines vollkommen wieder erlangen, keine Spur wird zurückbleiben. Ein Glück war es nur, dass Sie in solch' tiefer Ohnmacht lagen und dass jeder Roughrider antiseptische Verbandwatte und Bandagen bei sich hat.«
Ellen stöhnte schmerzlich.
»Oh mein Gott,« weinte sie, »der arme Starke – wo ist er – ich will ihn sofort sehen – er soll nicht glauben ... oder,« fuhr sie hoffnungsfreudig auf, »er weiss nicht, dass er mich geschossen hat?«
Sie erschrak. Munro hatte einen Schrei nicht unterdrücken können, wahrhaft entsetzt prallte er zurück.
»Sie erinnern sich ...?«
»Ich sah es, er schoss auf einen gerade an mir vorbei springenden Indianer. Aber er weiss es doch nicht, dass er mich traf?!«
Es lag eine namenlose Angst in ihrer Stimme und da brach auch der Jammer bei dem Baronet hervor, wie er halb stöhnend, halb schluchzend fortfuhr:
»Oh, Ellen! Ellen!! Was haben meine Augen erblickt! Ich habe den von Schmerz wahnsinnig gewordenen Achill gesehen – wie er im Blute watete und ich habe ihn fluchen hören. – Nun kann Alles zu Hölle gehen! schrie er – und er erwischte einen fliehenden Indianer hinten am Fusse, wirbelte ihn um den Kopf und zerschmetterte ihn am nächsten Baum ...«
»Hören Sie auf, hören Sie auf!« stöhnte Ellen.
Ein junger Mann betrat das Zelt, durch ein schlichtes Merkmal an der prunklosen Uniform als Officier gekennzeichnet. Trotz seiner Jugend war er schon ein verwitterter Soldat und dabei dennoch ein gebildeter Mann. Er entschuldigte sich, er habe im Krankenzelte sprechen hören und sich erst überzeugt, dass er eintreten könnte. Mit der ehrlichsten Herzlichkeit gab er Ellen die Hand, aber ganz vorsichtig, legte seine andere noch auf die ihre. Der Schuss hätte ja gar nichts zu sagen, meinte er, in drei Monaten könne sie wieder wie ein Wiesel springen, und er und ein Dutzend seiner Reiter ständen ihr mit Leib und Seele zur Verfügung.
Erst wollte Ellen hören, was geschehen sei, und sie erhielt Aufklärung.
Starke war von Hassan eingeholt worden und am dritten Tage an der Cisterne zurückgewesen; aus einem Versteck hatte er die Duellscene und Alles beobachtet. Vielleicht hätte ein Deadly Dash helfen können, meinte der Offizier. Er brauchte es nicht zu riskiren; er sah die Gefangenen vorläufig dem Leben erhalten, und er machte sich zum zweiten Male auf den Weg nach Port Lamarie. Jetzt aber hatte man es mit dem ganzen Stamme der Schwarzfüsse zu thun, und das Fort konnte doch nur vierzig Mann abgeben. Ein Zufall und Glück war es, dass sich dort gerade gegen dreissig Roughriders aufhielten, eine Art von Gendarmerie, garnisonlos. Diese schlossen sich natürlich dem Rachezuge an, waren die Hauptmacher. Es war keine leichte Aufgabe zu lösen. Abgesehen davon, dass der Feind in doppelter Stärke war – und man musste auch noch mit anderen Stämmen, mit einem ganzen Indianeraufstande rechnen – wusste er sich verfolgt, zog beständig hin und her, um den Gegner zu täuschen und schlug sein Lager nur an Plätzen auf, wo er vor einem Ueberfall gesichert oder bedeutend im Vortheil war. Bis man ihn hier im Sumpfe hatte, da war er geliefert. Denn gerade in diesem Sumpfe wusste der den Soldaten auch als Oberst Horst wohlbekannte Deadly Dash genauen Bescheid, dann kam auch noch eine sehr kalte Nacht zu Hülfe, welche das trügerische Wasser fest genug gefrieren liess. Den Weg musste man freilich immer noch Schritt für Schritt kennen, um Pferde lebendig hindurch zu bringen. Die berittene Infanterie sass ab und liess sich mit den Rothhäuten in eine Plänkelei ein, während Starke dieRoughriders auf Schleichwegen durch den Sumpf führte, und als es die Indianer merkten, war es schon zu spät für sie. Im offenen Kampfe hielten auch 300 Rothhäute nicht den 30 Pallaschen stand.
Ja, es hatte Blut gekostet. Nähere Angaben über die Verluste wollte der Officier nicht machen. Er war von seinem Vorgesetzten commandirt worden, zum Schutze der Schwerverwundeten mit einem Dutzend Gensdarmen hier zu bleiben. Die Leichtverwundeten, die gefangenen Indianer und Frauen und Kinder waren bereits von einigen Garnisonsoldaten nach dem Fort transportirt worden. Die Hauptmacht verfolgte den Feind, bis dieser aufgerieben war oder die Waffen gestreckt hatte, und dann wurden alle Ueberlebenden vom Stamme der Schwarzfüsse nach dem Indianerterritorium verpflanzt, wo sie unter strengerer Aufsicht standen. Dasselbe galt von jenem kleinen Stamme, der sich an dem Ueberfall gegen friedliche Reisende betheiligt hatte, in dessen Händen sich Munro und Dick schon einmal befunden hatten.
»Und Mr. Starke?« fragte Ellen, als er schwieg.
»Sie meinen Oberst Horst? Er ist der Führer der Verfolger.«
»Auch Mr. Schade hat sich ihm angeschlossen,« setzte Munro hinzu, »unsere Cowboys natürlich erst recht.«
»Und Starke weiss, dass er mich versehentlich getroffen hat?«
»Ja,« entgegnete der Officier leise, »und er scheint der Ansicht gewesen zu sein, Sie getödtet zu haben, obgleich er sich nicht darüber vergewisserte, er – raste. Doch jetzt weiss er auch bereits, dass Sie gerettet sind, er erfuhr es noch an demselben Tage, und da ... lassen Sie mich nicht darüber sprechen. Er soll schon einmal aus Versehen eine Frau erschossen haben.«
»Ich glaube, Leutnant,« sagte Munro, »Sie könnten nun Ihre Leute ihre Kochkunst beweisen lassen.«
»Auf der Stelle. Die Boys kochen schon seit vier Tagen jede Stunde Tag und Nacht die frische Bouillon, welche der Doctor verordnet hat, wenn die arme Miss wieder zum Bewusstsein kommt.«
Der Leutnant eilte hinaus. Eine Zeit lang blieb Ellen mit geschlossenen Augen still liegen.
»Sir Munro,« erklang es dann leise.
Dieser hatte sich mit den Verbandsachen zu schaffen gemacht, welche auf einem Holzklotz ausgebreitet waren. Er trat an ihr erhöht angebrachtes Lager.
»Was wünschen Sie, Ellen?« fragte er, als sie ihn nur immer ansah.
»Ist hier ein Arzt?«
»Der aus Port Lamarie war hier, aber er ist mit den Anderen gegangen, es giebt doch noch viel zu thun für ihn, nachdem er sich überzeugt hat, dass ich auch ohne Doctorexamen die hier untergebrachten Verwundeten behandeln kann.«
»Und wer ist der Arzt, der mich operirt und geschient hat?«
Munro blieb die doch so einfache Antwort auf diese merkwürdige Frage schuldig. War er schon vorhin etwas erröthet, so färbte er sich jetzt dunkelroth, Ellen blieb bleich und so sahen sich die Beiden an.
»Brauchen Sie keinen weiteren fachmännischen Berather in meinem Falle?«
»Nein.«
»So möchte ich auch in keines anderen Arztes Behandlung.«
Und jetzt erglühte auch sie wie eine Purpurrose, als sie den Kopf wieder zurücksinken liess.
»Robin,« wurde er nach einer Weile abermals an ihr Lager gerufen.
»Was wünschen Sie, Miss Howard ?« musste er abermals fragen. Aber Beide hatten die Anrede gewechselt.
Sie sagte nichts und er verstand nicht, warum sie ihm immer die geschlossene Hand hinhielt, so unsicher, so flehend – bis er hastig danach griff – es war der oxydirte Kupferring, der ihren Namen trug und als der Leutnant eigenhändig die Bouillon brachte, sah er den zierlichen Siegelring, der bisher Sir Munro's kleinen Finger geschmückt hatte, an ihrem Zeigefinger glänzen.
Die kräftige Natur des Mädchens überstand die Krisis des Wundfiebers. Als Ellen wieder Interesse für ihre Umgebung hatte, befand sie sich zwar noch in derselben Lichtung des im Winterschmuck prangenden Urwaldes, aber in einem schmucken Blockhäuschen, wie solche die zurückgebliebenen Roughriders zur Unterbringung der Verwundeten und als Winterquartiere im Handumdrehen eine ganze Menge hatten entstehen lassen. Denn es waren ehemalige Cowboys oder lumberers, Holzfäller, und die verstanden so etwas, und die meisten von ihnen waren Deutsche, welche, wie schon die alten Germanen, so gerne in fremde Kriegsdienste treten. Ellen machte merkwürdige Beobachtungen an ihnen.
Wahrhaftig, wenn diese Burschen auch kein Hauptwort sagen konnten, ohne ein »blutig« vorzusetzen und den Tabak pfundweise in den Mund pfropften, der fremden Dame gegenüber waren sie Gentlemen vom Scheitel bis zur Sohle, und geradezu rührend war die Aufmerksamkeit, welche sie der Kranken entgegenbrachten; Ellen merkte es wohl, wie sie sich in den Dienst in der Krankenstube theilten; heute wurde diese von dem Einen, morgen vom Zweiten gereinigt und so fort, Einer wollte es immer besser machen als der Andere, und Jeder brachte ihr immer etwas mit, einen neu geschnitzten Löffel, der zimmerte ihr ein bequemes Schreibpult zurecht, jener besohlte ihre Mocassins und brachte sie ihr neben dem Suppenteller herein.
»Heute habe ich ihr das Essen zu kochen,« hörte sie draussen sagen.
»Aber heute bin ich daran, ihr Messer zu putzen.«
»Sie hat gesagt: Ich danke Ihnen, mein Lieber – das hat sie zu mir gesagt!« verkündete draussen Einer, der sie eben verlassen.
»Aber zu mir hat sie gestern gesagt: Ich danke Ihnen vielmals, mein lieber Tom – sie weiss schon meinen Namen,« triumphirte ein Anderer.
Ja, Ellen wurde richtig verkauft, abermals ausgeknobelt.
Sir Munro erzählte ihr, zwei Roughriders hätten gewürfelt, der Eine verlor Alles, auch seine Löhnung im Voraus, da habe der Andere verlangt, er solle seinen morgenden Tag einsetzen, den er als Krankenwärter bei der fremden Lady habe, aber darauf sei jener nicht eingegangen.
»Was haben denn nur Ihre Leute mit mir?« fragte sie einmal den Leutnant, einige ihrer Beobachtungen erklärend.
»Ach, Miss, es thut unsereinem so wohl, wieder einmal eine weisse Dame zu sehen – noch dazu, wenn's eine anständige ist.« lautete die herzlich offene Antwort, und dabei strahlte der junge Officier im ganzen Gesicht.
Von den anderen Verwundeten bekam Ellen nichts zu merken.
Ein stilles Begräbniss wurde ihr erst recht verschwiegen. Ab und zu kam eine Meldung aus Fort Lamarie, in drei Tagen schnellen Reitens erreichbar, oder auch direct von der Front.
Die Schwarzfüsse suchten die canadische Grenze zu erreichen, der Weg wurde ihnen verlegt, wiederholt hatten neue Kämpfe stattgefunden. Starke hatte einen Stich in die rechte Schulter erhalten, aber er war noch immer an der Spitze.
Ein Reiter ging nach Fort Lamarie ab, welches an der Pacificlinie liegt und Telegraphenstation ist. Ob Ellen etwas mitzugeben habe. Sie setzte ein Telegramm für 160 Dollars auf, welches dem Lady-Champion-Club ziemlich ausführlich ihr Schicksal erzählte.
»Sir Munro behandelt mich. I am engaged,« schloss die Depesche.
Nach sechs Tagen kam der Bote zurück, meldete einen ihm langsamer folgenden Waarentransport an und brachte ein Telegramm mit, welches im Fort Lamarie schon vor zwei Wochen für Miss Ellen Howard eingelaufen war, bezahlt für eventuelle Weiterbeförderung. Man hatte es dort festgehalten; die Bestellung, auch gar nicht so einfach, war bei den Verhältnissen, die jetzt in dem Fort herrschten, doch vergessen worden oder aus irgend einem Grunde unterblieben.
»Gwaliorminen pleite. Judith spurlos verduftet. Ist ruinirt. Ich auch. Bin verlobt. In vierzehn Tagen Hochzeit. Bitte um stilles Beileid. Oliva.«
Das gab viel zu denken, besonders der zweite Theil des Inhalts.
»Jetzt bleibt die Weltgeschichte stehen!« rief Ellen in hellem Staunen. »Die tolle Oliva heirathet! Wen denn eigentlich? Das zu sagen hat Sie natürlich vergessen. Am Ende weiss sie es selbst noch nicht! Und gleich in vierzehn Tagen! In vierzehn Tagen! Da könnte sie ja jetzt schon die Hochzeit gefeiert haben.«
Es vergingen zwei Wochen. Ellen war noch auf dem Lager festgebannt und würde es noch länger bleiben, an einen Transport nach dem Fort war noch nicht zu denken, Ellen wünschte es auch nicht, sie hatte den Urwald im Winterschmuck, auf den sie wenigstens ab und zu einen Blick bekam, bereits lieb gewonnen, und wenn draussen der Schneesturm tobte, würde es in dem mit Moos ausgefütterten Blockhäuschen erst recht gemüthlich.
An einem schönen Nachmittage hörte Ellen draussen seltsame fremde Töne schnell näher kommen, und doch kamen sie ihr so bekannt vor, sie wusste gar nicht, wo hatte sie das doch schon gehört ... »schneffschneffschneffschneff« ging es immer, es verstummte, und mit einem Male stürzte eine Dame herein, in ein pompöses Pelzcostüm gehüllt, eine Hutschachtel in der Hand.
»Ach Du allerärmstes Würmchen!«
»Die – die – Oliva!!«
Ja, es war und blieb Thatsache, es war die Oliva Hobwell, die im Urwalde von Dacotah an Ellen's Brust lag, nachdem sie erst vorsichtig gefragt hatte, ob sie das auch dürfe, und welche dann die Hutschachtel aufriss und über das Bett einen Regen von Bonbons und Chocoladen-Confect ausgoss.
»Na nu iss doch.«
»Ja, aber, Oliva, wie in aller Welt kommst Du denn hierher?!«
»Mit dem Automobil. Na nu iss doch,«
»Ja, aber, Oliva, ich denke, Du bist jetzt schon verheirathet?!«
»Noch nicht ganz. Pass auf. Die Geschichte ist schon fix und fertig, es ist der Morgen vom Hochzeitstage, ich habe schon mein Traukleid an, warte nur noch auf meinen Zukünftigen ...«
»Aber wer ist es denn nur, wer ist es denn nur?!«
»Der Lord – der Lord – der Lord Dingsda ... na, wie heisst der Kerl doch gleich ... Aujust ist sein Vornamen...«
»Lord Worthingham.«
»Jawohl, der Lord Worthingham ist es. Also ich habe schon das Traukleid an mit Allem, was dazugehört, draussen halten ein paar Hundert Equipagen, Aujust ist auch schon da, da bekomme ich Deine Depesche, ich lese sie – – Ellen angeschossen, liegt da in ihren Schmerzen einsam und allein im Urwalde von Amerika – – höre, Aujust, das hilft nichts, da muss ich hin, da musst Du noch ein bischen warten, und wenn Du's noch nicht kannst, dann musst Du's eben lernen – – wenn ich mich beeile, kann ich in Southampton gerade noch einen Dampfer erwischen; ich habe noch so viel Geistesgegenwart, die weissen Lumpen abzureissen und ein anderes Kleid überzuwerfen, auch den Pelzmantel, drüben soll's schon sehr kalt sein, nun aber fort, auf der Strasse merke ich, dass ich keinen Hut aufhabe, ich kaufe fix einen, ich muss meiner Ellen doch auch etwas mitbringen, also in die nächste Conditorei, die Hutschachtel mit Bonbons gefüllt, nun im Galopp nach der Victoriastation, ich kriege gerade noch den Zug, ich kriege auch gerade noch den Dampfer – – – auf dem Schiffe merke ich erst, dass ich noch meine weissen Atlasschuhe anhabe – – – hört, Kinder, im Pelzmantel ohne Hut, mit weissen Atlasschuhen – – – die Leute haben mich alle für verrückt gehalten.
»Als ob ich's überhaupt nicht immer wäre. Ich habe sie gegen die Stiefel einer Stewardess vertauscht – – hier, guckt mal, diese Galoschen. In New-York habe ich den rechten auf der Strasse einmal vom Fusse fallen lassen. Und ich merkte es in meiner Rage nicht einmal, ein Junge brachte ihn mir nach. Na, Kinder, ich sage Euch. Hier, Sir Munro, gucken Sie mal meine Strümpfe an. Sie denken wohl, das sind schwarze Strümpfe? Ne – weisse sind's – sie müssen bloss wieder mal gewaschen werden – – – Was heulst Du denn, Ellen?«
Munro konnte sich nicht mehr halten; er lehnte an der Wand, um vor Lachen nicht umzufallen, während Ellen, den ganzen Mund voll Chocolade, plötzlich in Thränen ausbrach.
»Und da hat Starke gesagt, es gebe keine ehrliche Freundschaft!« schluchzte sie.
»Ach, Nonsens. Meine Geschichte ist noch lange nicht fertig. Das Beste kommt erst noch. In New-York höre ich, dass ich Glückspilz abermals gerade noch den nächsten Pacificzug erwischen kann. Auf dem Schiffe hatte ich mich natürlich schon orientirt, wohin und wie dann weiter. Wie ich nach der Station galoppire, sehe ich in einem Laden ein famoses Automobil stehen – halt, denke ich, Oliva, sei gescheidt, ehe es zu spät ist, von Fort Lamarie aus hast du ja noch hundert und etliche Meilen zu machen – ich also in den Laden – – – dabei habe ich noch das Fenster von der Thüre eingeschmissen – dieses Automobil sofort transportfähig nach der Station – – – wird gemacht, Madam – – – ich geniales Weib denke an Alles, auf dem Fort könnte es kein Petroleum geben, also nehme ich gleich zehn Gallonen Petroleum mit ...«
»Pardon, was hat das Fahrzeug gekostet?« unterbrach Sir Munro die Sprecherin. Denn er hatte das draussen stehende Automobil gemustert und so viel verstand er auch davon, dass dies ein Luxuswagen war, ein Prunkstück im Schaufenster eines Radsportladens, in dem die amerikanischen Milliardäre ihre Einkäufe machten.
»Was das Ding kostet? Keine Ahnung. Ich habe einen Blanco-Wechsel gegeben. Nun sitze ich also mit meinem Automobil, mit der Chocolade und dem Petroleum im Zuge. Ich komme in dem Fort an. Keine Umstände, Leute, sage ich, gebt mir einen Führer und dann fort. Das Automobil wird ausgepackt, ich nehme mein Petroleum her, will füllen ... Kinder, da ist das ein Spiritusmotor!«
Das Allerkomischste in der Erzählungsweise lag darin, wie sich die Oliva jetzt herumdrehte und gebückt durch das Zimmer schlich. Munro fing auch an zu weinen vor Lachen.
»Gab es auf dem Fort keinen Spiritus?«
»Eine einzige Flasche denaturirten Brennspiritus, und die war auch schon halb ausgetrunken. Aber ich bin eben ein Glückspilz. Die Frau des Commandanten machte nämlich Schnaps, wahrscheinlich für die Indianer – eine rothe Nase hat sie freilich selber – und die hatte ein ganzes Fass Branntwein da, d. h. neunzigprocentigen, versteuerten, sie wollte Cognac machen, die Cognacessenz hatte sie schon hineingegossen, ihn aber zum Glück noch nicht mit Wasser verdünnt– ich gleich Beschlag darauf gelegt, kaufe ihr das ganze Fass ab, das Liter zu acht Schilling – – – Kinder, nehmt den Hut vor mir ab – ich bin die drei Tage mit Cognac gedampft.«
Munro als Arzt bat die Erzählerin, entweder aufzuhören oder hinauszugehen, die Patientin dürfe nicht so lachen. Es gab auch noch vieles Andere zu erzählen. Zunächst kam Ellen daran.
»Nein, Du und Lord Worthingham!« schloss sie ihre eigene Abenteuer- und Liebes- und Leidensgeschichte. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass eine Oliva Hobwell überhaupt nur an's Heirathen denken kann.«
»Nicht ich? Na wozu sind wir Frauenzimmer denn sonst da? Ach, Ellen, das war eine nette Geschichte. Ich war am Abend in einer Gesellschaft gewesen und hatte mich wieder einmal entsetzlich bezecht. Aber man hatte es mir wohl nicht angemerkt. Am anderen Morgen kommt es mir unklar zum Bewusstsein, dass ich ein Eheversprechen gegeben habe, jawohl, in meinem Schädel wird es immer klarer, ich bin verlobt – aber gegen wen? – Keine Ahnung. Na, denke ich, er wird schon kommen, bin doch neugierig. Richtig, er kommt, aber wer? Heinrich Joachim Puff, Kohlenhändler, Hamburg – London, lese ich auf der Karte. Kenne ich nicht. Herein mit ihm. Und herein kommt ein altes, dürres Männchen, hinten und vorn ausgewachsen, einen stark wehmüthigen Zug um die Beine. Mir fiel vor Schreck gleich das Herz in die – in die – Schuhe. Mylady, Sie hatten die Güte, mir gestern Abend zu versprechen ... Ne, ne, mein lieber Heinrich Joachim Puff, daraus kann nichts werden ... Aber Mylady haben es mir doch versprochen ... Ne, ne, das thut mir leid, das kann ich nicht, ich will gern Reugeld zahlen, verklagen Sie mich ... Aber es ist doch gar nichts weiter dabei ... Na, ich danke, Herr Joachim Puff ... und so drucksen wir also noch eine ganze Weile herum, bis es endlich herauskommt, dass der Mann Präsident von einem Mässigkeitsverein ist, er will auch eine weibliche Branche gründen, ich habe ihm gestern Abend versprochen, die Präsidentschaft üher die versoffenen Weiber zu nehmen. Jawohl, das kann er haben. Ellen, ich bin Präsidentin von einem Mässigkeitsverein. Dann kam noch so ein Mann mit Leichenfrack und Angströhre, Lord Augustus Worthingham – na, der war mir lieber.«
Ellen wusste ja, dass zwischen ihrer Freundin und diesem Lord schon längst ein Verhältniss bestanden hatte. Sie übertrieb überhaupt immer, hatte so ihre eigenthümliche Erzählungsweise, machte sich immer selbst schlecht. Aber dass sie am Tage ihrer Hochzeit ausgerissen war, vierzehn Tage später in einem Urwalde im Herzen Nordamerikas mit einem mit Cognac gespeisten Motorwagen eintraf, das war Thatsache; und wenn auch die Engländerinnen und noch mehr die Amerikanerinnen in abenteuerlichen Reisen gross sind – so etwas brachte doch nur die tolle Oliva Hobwell fertig.
»Ob ich glücklich bin? Na und wie! Aber mein Papa, der ist erst glücklich, dass er mich los wird. Der springt noch jetzt mit dem Kopfe gegen die Decke. Ach, Du, Ellen, mit meinem Papa habe ich noch eine Geschichte gehabt. Ich hatte doch also wegen Deiner Reise ein Wettbureau aufgemacht, nahm zwei zu eins für Dich an. Schliesslich wurde mir die Geschichte langweilig, Niemand kam mehr, weil es doch gerade aussah, als wenn Du gewinnen würdest, und nun wollte ich doch gerade, dass die armen Leute etwas verdienten – ach, dachte ich, Du hörst auf. Du zahlst Reugeld, gerade so, als hätte ich verspielt, also zwei zu eins. Ich annoncirte – na, da kamen sie aber gelaufen! Wie mir nun die Abrechnung vorgelegt wird, was ich zu bezahlen habe – Herr Gott, wie wird mir da zu Muthe – frage nicht, Ellen, frage nicht, wieviel's gewesen ist – Du würdest's nicht glauben oder denken, ich wollte renommiren. Ich hätte ein Dutzend Kirchen davon bauen können. Ja, was soll ich thun? Das konnte ich nicht irgendwo zusammenpumpen. Ich gehe zu Papa's Bankier – hier, mein lieber Lewis, seien Sie so freundlich. Der hebt erst die eine Schulter, dann hebt er die andere Schulter, schiebt die Augenbrauen bis hinauf in die Haare – nein, das thäte ihm leid, das könnte er mit nicht so ohne Weiteres auszahlen, da müsse erst mein Papa unterschreiben. ... Was? Wo? Hier. Oder einen Check. Ach, denke ich, wenn es weiter nichts ist! Ich gehe nach Hause, passe auf, wenn Papa einmal das Checkbuch nicht in der Tasche hat, reisse ein Formular heraus, fülle es aus mit der Summe, die ich brauche, eine Unterschrift Papas ist schnell gefunden, ich lege das Papier an die Fensterscheibe, den Check darauf und male den Namenszug hübsch und fein nach ...«
»Oh, oh, oh,« liess sich Sir Munro vernehmen.
»Ja, Sie können gut ohohohn. Nun bekam ich das Geld gleich. Aber am anderen Tage merkt's der Papa! In's Zuchthaus gehörte ich, in die Tretmühle! Ich denke, er will mich hau ... na, ich will nur offen sein: ich habe eine fürchtbare Maulschelle bekommen, dass ich mich gleich wie ein Kreisel herumdrehte. Dann verlobte ich mich – ich hatte an dem Abend immer noch eine ganz geschwollene Backe – und da war Alles wieder gut. – Na, Ellen, und wie ist es denn nun mit ...«
Die unverbesserliche Schwätzerin stockte. Und rieb sich mit dem Zeigefinger das Näschen. Ihr Blick war auf der Freundin Hand gefallen, an der ein kleiner Herrenring funkelte, und ihr Blick entdeckte auch an Sir Munro's Hand etwas Besonderes.
»Hm, Du hattest uns ja telegraphirt, dass Dich Sir Munro behandelte und dass Du verlobt seiest, aber eigentlich ... hm.«
Robin verschwand schnell, die blasse Ellen erröthete und nun kam sie an die Reihe des Erzählens.
Hatte die Oliva aus den Briefen, die sich am meisten mit dem starken, kalten Manne beschäftigten, herausgelesen, wie es mit der Freundin gestanden? Wenn nicht völlig, so erfuhr sie es jetzt aus Ellen's eigenem Munde mit rückhaltloser Offenheit.
Ja, sie hatte ihn geliebt, den starken, kalten Mann, sie liebte ihn noch jetzt. Sie liebte ihn noch jetzt wie – so wie man seinen Gott liebt, wie man einen göttlichen Helden anbetet, ihn bewundert. Aber eine menschlich-irdische Liebe war es nie gewesen. Auf dem Krankenlager war ihr dies voll zum Bewusstsein gekommen.
Doch an dem Anderen hatte sie stets mit echt weiblicher Liebe gehangen, und wenn sie auch noch so oft gesagt, sie hasse ihn. Ja, er hatte Recht, jene Liebe wäre als solche, wie sie dieselbe aufgefasst haben wollte, eine Verirrung gewesen.
Und hatte Sir Munro sich nicht ihre Liebe verdient? Auch er war ein Held. Auch er hatte sie aus schlimmeren Händen als aus denen des Todes befreit. Er hatte um sie gekämpft, mit dem Schwerte, wie nur je ein Ritter um die Braut gekämpft hat.
Und dann kam die verwundete Jungfrau und der hülfeleistende Arzt dazu.
Der Mensch hatte den Gott besiegt.
»Ich werde mit Robin glücklich sein,« schloss Ellen weinend, »ich habe ihn stets lieb gehabt, er ist ein so treuer Mensch, er wird mich stets lieben, auch wenn er weiss, dass ich den Anderen nie vergessen kann.«
Der wieder eintretende Munro hatte es gehört, und er drückte ihr die Hand und küsste ihr den Mund.
Aber wenn sie den Anderen nun wiedersah? Ellen erzitterte.
Und diese Stunde kam für Ellen, an einem Morgen mit freundlich lächelndem Sonnenschein, in welchem sich die Kranke vor der Blockhütte wärmte, in der Freundin Pelz gehüllt, auf einem langen Stuhle liegend.
»Er kommt,« sagte Munro leise.
Ellen schrak empor, und da sah sie ihn schon kommen, und nach der ersten jähen Röthe wurde ihr Antlitz weiss wie der Schnee, durch welchen er zwischen den Bäumen schritt, neben sich Hassan. Er hatte ein Gewehr über der Schulter, und die hohe Mannesgestalt, welche sonst immer so aufrecht wie eine eherne Statue wandelte, hatte den Kopf tief gesenkt.
Da stürmte Hassan mit mächtigen Sätzen herbei, die Reisegefährtin zu begrüssen, doch er überfiel sie nicht, dicht vor ihr war er wieder der vernünftige Beduinenhund; er äusserte seine Freude über das Wiedersehen nur so weit, als man es bei einer Schwerkranken darf, ohne ihr wehe zu thun.
Ellen streichelte ihn und sprach mit ihm und dieses erste Wiedersehen hatte dem zweiten schon etwas die Gefährlichkeit genommen.
Starke hatte sie erreicht, setzte den Gewehrkolben in den Schnee, sie blickten sich an, er streckte die Hand aus, wollte sprechen, konnte nicht, nur seine Lippen zuckten.
»Um Gottes Willen – Starke – nicht weinen – weinen Sie nicht – nur von Ihnen kann ich es nicht sehen!!« jammerte Ellen.
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen – es war wieder vorbei.
»Wie geht es Ihnen, Miss?« fragte die eherne Metallstimme.
»Gut, ganz gut. Sir Munro als Arzt versichert mir, dass ich in drei Monaten wieder gehen kann, ohne zu hinken ...«
»Werden Sie auch wieder radfahren?«
»Nein ...«
»Ja,« sagte Munro.
»Wir scheinen die Rollen zu wechseln. Sie sind verwundet worden?«
»Nicht von Bedeutung. Sie hätten die Tour um die Erde in 300 Tagen gemacht. Sie haben die Kraft und die Ausdauer dazu. Behaupten Sie immer noch, dass Sie es könnten, berufen Sie sich auf mich. Götter sind wir natürlich nicht. Aber ich hätte auch ganz andere Bedingungen für die Wette gemacht. Immerhin sollten Sie noch den Fall einem Comité vorlegen, moralisch sind Sie nicht verpflichtet, die Gegnerin auszuzahlen, meiner Ansicht nach hat sogar, wenn es gerecht zuginge, Ihre Gegnerin verloren ...«
»Lady Barrilon ist durch den Bankerott einer Firma vollständig ruinirt.«
»So? Nun, Miss Howard, Sir Munro, ich möchte mich verabschieden.«
Er hielt ihr schon wieder die Hand hin.
»Oh, so bald! Bleiben Sie doch noch etwas.«
»Nein, ich kann nicht. Good bye.«
Sie hatte den rechten Pelzhandschuh ausgezogen und gab ihm die Hand.
»Wo gehen Sie hin?« brachte Ellen nur mühsam hervor.
»Erst habe ich noch ein Privatgeschäft zu erledigen, dann suche ich mir wieder einen Dienst als Führer bei einer Expedition oder bei einem ähnlichen Unternehmen. Leben auch Sie wohl, Sir Munro.«
Kalt liess er ihre Hand los, um die seine Munro zu geben.
»Wir müssen doch noch abrechnen ...«
»Nein. Sprechen Sie nicht davon. Ich bin nicht zufrieden mit den Diensten, die ich Ihnen erwiesen habe ... nein, ich will nicht. Good bye. Komm, Hassan.«
Und er schulterte das Gewehr, drehte sich um und ging, er ging wirklich, so entfernte er sich, hochaufgerichtet, stark und kalt wie eine eherne Statue, so wie ihn die Beiden zuerst kennen gelernt hatten.
Ellen musste es glauben, dass er wirklich ging, ohne noch ein Wort, ohne noch einen Blick zu haben.
Hassan hatte sich an ihrem Lehnstuhle emporgerichtet, blickte sie an und winselte leise. Ellen schlang ihren Arm um seinen Hals.
»Lebe auch du wohl, mein guter, treuer Hassan,« weinte sie mit hellen Thränen.
»Komm, Hassan!« erklang es noch einmal zwischen den Bäumen hervor.
»Gehe, mein Hassan, bleibe ihm der gute Freund und Kamerad.«
Hassan liess die Vorderpfoten von der Armlehne herabfallen und machte einige Schritte nach der Richtung, in welcher sein Herr noch zu erblicken war. Dann aber blieb er stehen, drehte sich halb zur Seite, blickte nach seinem Herrn, winselte, blickte nach Ellen, blickte wieder nach dem weiter Schreitenden – und kam mit tiefgesenktem Kopfe zurück, sich vor Ellen's Füsse legend.
Ellen hatte die Blicke des Hundes gesehen, aber das waren keine Blicke eines Thieres gewesen, und da plötzlich hörte sie deutlich eine Stimme aus der Vergangenheit sprechen; gleichgültig und trocken erzählte sie: einmal hatte ich gegen eine Person eine herzliche Zuneigung, sie ahnte es nicht, Niemand ahnte es, ich wusste meine Gedanken zu zähmen. Plötzlich war der Hund um diese Person herum, liebkoste sie, rieb sich an ihr – ich staunte selbst – Hassan hätte mich bald verlassen, um ihr zu folgen ...
»Starke! Starke!! Rufen Sie Ihren Hund!«
Aber Starke antwortete nicht, er war schon im Walde verschwunden.
»Robin – um Gottes Willen,« jammerte Ellen ausser sich, »jage ihm den Hund nach – zwinge ihn ...«
Hassan ging nicht, liess sich nicht zwingen.
Ellen jammerte den ganzen Tag; sie wollte das treulose Thier gar nicht mehr sehen, und auch noch in der Nacht netzte sie das Kissen mit ihren Thränen.
»Nun hat er auch noch seinen letzten Freund verloren, nun hat er gar nichts mehr.«
Zwei Tage später – Ellen hatte ihren Schmerz noch immer nicht überwunden, überhäufte aber jetzt Hassan mit doppelter Zärtlichkeit, sie musste es thun; denn das Thier wusste wohl, was es gethan, und eben deshalb klammerte es sich an seine neue Herrin förmlich an – traf in dem Urwaldscamp ein indianischer Läufer eines nördlichen Sioux-Stammes ein, brachte aus seinen Leggins einen Zettel hervor, eine Botschaft von Deadly Dash an die weisse Squaw.
»Geben Sie ihm niemals Krebse oder Krabben, er frisst sie leidenschaftlich gern, wird aber stets krank davon. Mit Gruss Curt Starke.«
Nichts weiter.
»Ein merkwürdiger Mensch,« meinte Munro lächelnd. Ellen lächelte nicht.
Der Indianer konnte nichts weiter angeben. Der dem Stamme befreundete Deadly Dash war eben in das Lager gekommen, hatte den Häuptling um einen Boten nach hierher gebeten, hatte ein Pferd gekauft, war auf diesem gleich wieder nordwärts fortgeritten.
Ellen sollte so bald nichts wieder von dem modernen Lederstrumpfe hören.
Auch die in den Kampf gezogenen Roughriders kamen nach hier zurück, bauten noch einige Blockhäuser, und ihre Wintergarnison war fertig, welche sie nicht eher verlassen würden, als bis indianische Unruhen oder etwas Anderes, wobei die Polizei einzuschreiten hat, Alle oder Einzelne abrief. Inzwischen beobachteten sie die Indianerstämme der Umgegend und schafften durch Jagd Nahrungsmittel herbei. Mehl, Conserven, Tabak und Anderes, was sie brauchten und nicht selbst erzeugen konnten, bezogen sie gegen Schein ihres Führers von dem nächsten, immer reichlich verproviantirten Fort, das war hier Lamarie, und dass solch ein Transport über acht Tage in Anspruch nahm, hatte für diese amerikanische Truppe gar nichts zu sagen. Im Sommer aber müssen sie, wenn sie frisches Gemüse essen wollen, dieses selbst bauen; Erbsen und Bohnen ziehen sie auch immer; daneben halten sie stets Schlachtvieh und Hühner, und doch kann täglich ein Befehl eintreffen, der sie Hunderte von Meilen weit fortführt, dass sie Alles in Stich lassen müssen. Heirathen giebt es bei solch einem unsteten Leben natürlich nicht.
Mit ihnen war auch Mr. Schade wieder eingetroffen, doch nur, um sich zu empfehlen. Er hatte gehört, dass der »Spion« eingegangen sei, da müsse er schnellsten's nach New-York. Von seinen Photographien wolle er Copien schicken.
Ellen empfand nicht die mindeste Sehnsucht, ihr Krankenlager nach dem bequemeren Fort zu verlegen. Hier fühlte sie sich nun schon zu Hause, sie hatte in dem verschneiten Urwalde schon ihre Lieblingsplätzchen, nach denen sie sich hintragen liess, und ebenso dachten Sir Munro und Lady Oliva, welch Letztere von einer Heimreise zum Bräutigam nichts wissen wollte. Erst das Vergnügen, dann die Pflicht, erklärte sie in ihrer Weise. Und wenn im Fort ein Brief ankam, so setzte sich dort solch' ein Soldat auf seinen mageren Klepper, hinten auf dem Sattel den Futtersack für sich und das Thier, und ritt die 120 englischen Meilen in drei Tagen durch Sturm, Schnee und Eisschollen; in der Nacht wickelte er sich in seine Decke und schmiegte sich an den warmen Pferdeleib, und dann gab er den Brief ab; wenn für ihn gerade ein Glas heissen Grogs vorhanden war, so schmunzelte er im ganzen Gesicht; und dann ging es wieder stracks zurück. Fürwahr, das Wort, welches der Yankee so gern und so stolz im Munde führt – »Amerika ist gross« – es hat seine ganz eigene Bedeutung.
Ja, als in der ersten Zeit von den Londoner Freundinnen täglich eine Depesche für Ellen auf Fort Lamarie eintraf, waren immer sechs solcher Reiter gleichzeitig auf dem Wege, bis Ellen nach London bat, ihr doch wöchentlich höchstens einmal zu depeschiren, und so hielt sie sich auch nur wöchentlich erscheinende Zeitungen. Von solcher Dienstwilligkeit wurde man ja wirklich beschämt, wenn diese verwitterten Gesellen es auch nur als kleine Spazierritte betrachteten.
Nun waren schon wieder vier Wochen vergangen, seitdem der Mann den frostigen Abschied genommen und doch sein Herz im Urwalde von Dacotah zurückgelassen hatte, als in den Londoner »Weekly News« ein sensationeller Artikel gelesen wurde.
»Ein mysteriöser Vorfall. – Rache oder Richter Lynch? – Er schweigt.
»Ein mysteriöser Vorfall beschäftigt die Gemüther der Bevölkerung von Smithstown, einem Städtchen im südöstlichen Canada. In einem der besseren Gasthöfe war ein Gentleman abgestiegen, welcher zu warten schien, bis die eingeschneite Bahnlinie nach Montreal wieder frei würde. Er hatte sich als Andrew Brown aus New-York eingeschrieben, war aber seinem Dialect nach offenbar ein Engländer. Eines Abends wurde die Aufmerksamkeit der Strassenpassanten durch den taumelnden Gang eines gut gekleideten Mannes erregt, erst wich man ihm als einem Betrunkenen aus, dann bemerkte man bei jedem Schritte Blutspuren im Schnee, das Blut floss ihm aus den Hosenbeinen heraus, er brach ohnmächtig zusammen. Man brachte ihn auf die nächste Polizeistation, es war jener Andrew Brown, man fand aber auch Briefe mit anderen Namen, unter denen »Jenkins« am häufigsten vorkam. Die weitere Untersuchung an dem Bewusstlosen ergab, dass der Mann ausgepeitscht worden war, und zwar auf eine fürchterliche Weise, jedenfalls mit einem Lederriemen.
Sein ganzer Rücken war zerfleischt. Alles nur noch blutige Fetzen. Wie der Mann unter den Händen des Arztes wieder zur Besinnung kam und die Uniformen der Constabler um sich sah, schrie er sofort und ununterbrochen: Ich sage nicht, wer mich gepeitscht hat, ich verrathe nichts! – und dabei blieb er. Da sonst nichts gegen ihn vorlag, musste man ihn laufen lassen, er schleppte sich in sein Hotel zurück; am nächsten Morgen reiste er ab. Die Aussage einer alten Negerin schien erst Aufklärung in die Sache bringen zu wollen, machte sie aber womöglich nur noch dunkler. Die Frau hatte an jenem Abende im nahen Walde Holz gesammelt, als sie aus einer einsamen, verfallenen Blockhütte ein schreckliches Schmerzgebrüll ertönen hörte. Sie beobachtete die Hütte, soweit eine alte Negerin im finsteren Walde zu so etwas fähig ist, da sah sie im Mondschein einen riesengrossen Mann, ganz auffallend in einen gelben Anzug gekleidet, ein Gewehr über der Schulter, aus der Hütte treten und zwischen den Bäumen verschwinden. Bald darauf wankte ein zweiter Mann heraus und dessen Beschreibung stimmt mit der Person des Geschlagenen überein. Nun, jedenfalls hat dieser Mr. Brown oder Jenkins die fürchterliche Tracht Prügel sich ehrlich verdient gehabt, da er sie so gehorsam hinnahm und auf jede Klage und Anzeige verzichtete.«
In dem Urwaldcampe von Dacotah hätten einige Personen sagen können, wer der gelbe Unbekannte gewesen und warum er jenen ausgepeitscht hatte.
Das war also das Privatgeschäft, von dem Starke so trocken beim Abschiede gesprochen hatte, und dieser moderne Lederstrumpf verstand also eine Spur auch bis in den hohen Norden, bis in die Strassen einer Stadt zu verfolgen. Freilich räthselhaft genug, aber dies Alles, wie er es so stillschweigend ausgeführt hatte, entsprach doch wieder ganz seinem räthselhaften Charakter.
Ende Februar betrat Ellen in Liverpool wieder Englands Boden, völlig hergestellt.
Was von Gewinnen oder Verlieren der Wette zu halten war, hatte Starke mit kurzen, klaren Worten gesagt. Doch Ellen hielt ihr Wort, welches Munro nicht hatte gelten lassen wollen: sie fuhr nicht mehr Rad – sie ging nämlich zum Kraftwagen über, und Munro folgte ihr bald nach. Aber es war doch nicht nur einfach eine Aenderung im Geschmack, es war auch noch etwas Anderes dabei. Ellen wurde nie wieder den leisen Schauder los, der sie sofort befiel, wenn sie nur versuchsweise ein Rad bestieg, und Starke hätte noch hinzusetzen sollen: Das Rad ist nicht dazu da, um jeden Tag zehn Stunden lang darauf zu liegen, um auf ihm um die Erde zu fahren, und abnorme Leistungen an Schnelligkeit und Ausdauer, wie solche Schaustellungen allerdings nöthig sind, um einem gesunden Sport immer mehr Freunde zu erwerben, so etwas sollen wir denen überlassen, welche sich dazu speciell ausbilden.
Ellen war erst einige Tage zurück, als sich der katholische Geistliche der französischen Colonie Londons vorstellte. Er drückte erst lange herum, eigentlich habe sie doch die Wette verloren, Lady Barrilon sei vollständig mittellos, werde wegen Schulden verfolgt, halte sich verborgen ...
»Kennen Sie ihre Adresse? Wollen Sie die zehntausend Pfund übermitteln?«
Dazu war der Mann ja hier, und vier Tage später erhielt Ellen die Quittnug über diese Summe aus Paris mit Judith's hochachtungsvoller Unterschrift.
»Nein, ich hätte sie zu mir kommen lassen, um ihr wenigstens erst noch ein paar Ohrfeigen zu geben,« meinte die Oliva.
Ellen war edel gewesen. Was hätte Starke dazu gesagt? Schliesslich war er auch edel gewesen, als er den Verfasser von »Happy England« nur ausgepeitscht hatte. Starke liess nichts wieder von sich hören, und sie musste seine Adresse doch wissen, um ihm die 20 000 Dollars für das Halsband mit Zinsen zurückzuzahlen. Das war überhaupt eine theuere Geschichte, sie wollte die Summe auf Abzahlung auf ihr Vermögen nehmen – oder – ein besserer Gedanke – wozu hatte sie denn den reichen Bräutigam?
Die Oliva holte die so plötzlich unterbrochene Hochzeit nach, sie sollte das Geschmeide als Brautgeschenk haben. Das kostbare Packetchen war bei jenem Bankhause richtig deponirt, Ellen ging hin, öffnete es – da lag oben darauf die Schuldverschreibung – zerrissen. Solch' ein grossmüthiger Heuchler! Nun aber behielt sie das Halsband selbst und sie vergoss einige Thränen, wie sie überhaupt noch recht oft schwermüthige Stunden haben konnte.
Die drei Monate im verschneiten Urwalde hatten einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Im Mai sollte die Hochzeit sein. Dann gleich eine Hochzeitsreise? Um Gottes Willen nicht!
»Nun, wie wäre es denn mit einer kleinen Radtour über die Alpen nach der Riviera,« meinte Robin mit dem ernstesten Gesicht.
Ellen verbat sich derartige dumme Witze. Oder die Londoner Saison mitmachen? Auch nicht. Sie kauften sich als Stammsitz der zukünftigen Barone im waldigen Kent eine grosse Farm, dorthin in die ländliche Stille sollte es sofort gehen.
»Es ist auch schon Hassans wegen,« sagte Ellen, »er braucht Zerstreuung.«
Am Tage der Hochzeit zeigte es sich, dass der unsichtbare Mann in London einen Spion hatte, der ihm berichten musste. Auch aus New-York traf eine Depesche ein.
»Herzlichen Glückwunsch. Ich schliesse mich der New-Yorker Nordpol-Expedition an. Curt Starke.«
Der Eine ging zur Hochzeit, der Andere zog den Nordpol vor. Sir Munro hatte gesiegt, der Andere war nie unterlegen.
»Sir Munro, vernehmen Sie von mir ein grosses Wort, welches sonst vermessen klingt, aber nicht von mir, denn ich spreche es aus mit kühler Ueberlegung: Sie sehen vor sich einen zufriedenen Mann, dessen Glück durch nichts, durch gar nichts zu erschüttern ist. Ich habe der Welt entsagt, und deshalb gehört mir die ganze Welt ...«
Nicht einmal zu lügen brauchte er! Auch seines einzigen Freundes konnte er entsagen!
Die Ballmusik spielte »Deasy Deasy«, die befrackten Herren und die geputzten Damen hopsten im Saale herum, da fühlte es Ellen plötzlich wie einen Ekel in sich aufsteigen, dem eine unsagbare Sehnsucht folgte.
»Komm, Geliebter, wir wollen mit Hassan nach unserer stillen Farm gehen.«