Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6. Capitel.
Ach, wenn er doch käme.

Ja, Ellen fühlte sich äusserst beleidigt in ihrem ganzen Geschlecht.

Sie dachte recht vernünftig über die Frauenfrage, sie gehörte nicht zu denen, welche das Weib am Ruder der Menschheit sehen und das Vaterland vertheidigen lassen wollen, welche den Mann an den Waschtrog gestellt wissen möchten. Die Frau soll im Erwerbs- und Geistesleben jede Stellung einnehmen, zu welcher sie befähigt ist, an welcher ihr Geschlecht sie nicht hindert, in welcher sie sich kraft ihrer Geschicklichkeit und Kenntnisse behaupten kann. Dazu vielleicht noch Stimmberechtigung, besonders in gewissen Sachen. Und das kommt ja Alles von ganz allein, das ist der Lauf der Entwickelung, Niemand kann es hindern, und die Querköpfe, die von ihren Isolirschemeln dagegen eifern, werden auch noch einmal einsehen, dass sie sich lächerlich gemacht haben. Allerdings giebt es Berufe, Stellungen, Aemter, zu denen sich die Frau nicht eignet, oder wenn sie sich dazu eignet, passen sie nicht für sie, eben weil es eine Frau ist, hierzu ist ein Mann fähiger, und indem Ellen diese Ueberlegenheit des Mannes in vieler Hinsicht offen anerkannte, durfte sie mit Recht eines von ihm fordern: Achtung vor der Frau.

Und nun sah sie sich einem Manne gegenüber, der hierüber dieselben Ansichten hatte wie ungefähr ein Hottentotte, wie ein Indianer! Der die Frauen wie ein Türke in den Harem sperren wollte!

Nein, das konnte sie ihm nicht verzeihen. Oder konnte sie es, so war das doch keine Gesellschaft für sie. Gebildet war er, aber Bildung und Gemüth ist zweierlei. Er war gemüthsroh. Eigentlich schade. Aber nun mochte sie eben auch nicht mehr in seiner Gesellschaft bleiben, hoffentlich wurde sie in Indianopolis von seiner Begleitung erlöst.

Es ging bergan, es wurde immer steiler, Ellen brachte ihre Maschine nicht mehr vorwärts, sie kippte um. Starke fuhr immer noch, dazu, wie sie jetzt bemerkte, nur mit einem Fusse; er sprang neben ihr ab und zeigte das abgebrochene Pedal.

»Ich habe mir die Maschine selbst gebaut, hatte aber vor zwei Jahren noch nicht die Erfahrung wie jetzt, und auch meine Muskelkraft ist gewachsen; ich glaube, jetzt trete ich Alles durch. In einer Stunde ist der Schaden reparirt.«

Sie hatten den Gipfel des Hügels erreicht, unten lag ein hübsches Dörfchen, jenseits erhoben sich jäh die Alleghany-Berge.

Grafik6

»Sehen Sie, gleich am Wege das Häuschen mit dem rauchenden Schornsteine, es ist eine Schmiede, hat auch eine gute Drehbank. In einer Stunde ist der Bolzen fertig, selbst wenn ich ihn erst schmieden muss.«

»So werde ich einstweilen vorausfahren, kommen Sie nach.«

»Nein, Miss, warten Sie diese Stunde auf mich. Sie müssen nach Ludgate, kaum 12 Meilen von hier entfernt; das dort ist der Bärenpass, ganz leicht zu befahren, aber allein würden Sie den Weg sicher verfehlen.«

»Ich werde ihn zu finden wissen, und im Uebrigen befolge ich Ihre Vorschrift: immer pedantisch den Stundenplan einhalten. Jetzt wird gefahren.«

Sie rollte den Hügel hinab. Starke war wieder an ihrer Seite.

»Hören Sie auf mich, Miss. Ausnahmen kommen immer einmal vor. Es treiben sich arbeitslose Goldwäscher und Bergleute hier herum. Fortwährend durchkreuzen Schluchten und Thäler den Pass; die siebente grössere Schlucht müssen Sie links einschlagen, aber das ist eine ganz ungenaue Angabe, es kommen unzählige andere dazwischen. Finden Sie nicht die richtige Schlucht, so kommen Sie auf ganz unfahrbare Wege, verirren sich in ein Labyrinth, oder Sie erreichen die offene Prairie, und heute giebt es noch Regen.«

Aber Ellen that, als höre sie nicht. Das Thal hatte sie erreicht, sauste eben in voller Fahrt an der Schmiede vorbei, als plötzlich Starke, schon zu Fuss, eine Hand an der Lenkstange, die andere am Sattel, ihr Rad mit einem Ruck zum Stehen brachte.

Wie er dies fertig gebracht, wusste sie nicht, wunderte sich jetzt auch nicht darüber.

»Lassen Sie mich los!« rief sie, hochroth vor Entrüstung.

»Nur eine Stunde. Ich sorge mich wirklich um Sie, Sie werden sich verirren.«

»Wollen Sie mich jetzt freigeben, Sie unverschämter Mensch?!«

Statt dessen zwang er sie durch Umlegen des Rades zum Absteigen.

»Wenn Ihnen mein Hund folgte, würde ich Ihnen den zum Schutze mitgeben.«

»Ich würde ihn erschiessen! Ich brauche keinen Schutz!«

»Ich hätte Lust, einen Schlauch zu zerschneiden, dass Sie nicht weiterkönnen.«

»Ja, das sähe Ihrer Rohheit ganz ähnlich!« stiess Ellen hervor, jetzt vor Entrüstung bleich werdend.

Starke bat nicht, drohte nicht; seine ruhige Stimme war keiner Wandlung fähig.

»Gut, folgen Sie Ihrem Willen. Prägen Sie sich meine Worte dem Gedächtniss ein. Von hier bis zum Anfange des Passes, den Sie schon merken werden, sind es fünf Meilen. Die fahren Sie in einer halben Stunde. Dann sehen Sie nach der Uhr, fahren Sie schnell 25 Minuten lang, Sie werden drei Meilen machen können, beachten Sie nicht die Querthäler, sondern spähen Sie nach diesen 25 Minuten immer rechts nach einem metergrossen Steine an der Felswand, der gerade wie ein Menschenkopf aussieht. Zu verkennen und zu übersehen ist er nicht, wenn Sie nur nach rechts sehen. Hinter diesem die erste Schlucht links ab, das ist der richtige Weg; und wenn er auch anfangs etwas holperig ist, er wird bald besser, und dann immer gerade aus, Sie kommen direct nach Ludgate. Mögen Sie Ihren Eigensinn nicht bereuen.«

Er trat zurück, Ellen stieg auf und jagte davon. Hatte er sie nicht auch eigensinnig genannt? Solch' ein Unhold.

Immer noch zürnend, passirte sie den Eingang des Passes in die Felsen, was allerdings nicht zu verkennen war, denn diese Felsen hüben und drüben, himmelhoch ansteigend, erhoben sich jäh aus ebenem Boden, und bei diesem Gegensatze von Berg und Ebene blieb es, das war ein richtiger Engpass, und man kommt auf die Vermuthung, dass dieser Bärenpass einst das Bett eines Stromes gewesen ist, der sich durch die Felsen gebrochen hat, obgleich hiermit nicht die vielen Querthäler übereinstimmen wollen.

Das ganze Alleghany-Gebirge setzt sich aus solchen parallelen Gebirgsstreifen zusammen; hier treten sie in Form von Felswänden am dichtesten zusammen, nur zwei deutsche Meilen breit. Es war einst die Hauptstrasse, die jetzt, seitdem die Eisenbahn hinüberfährt, kaum noch benutzt wird.

Der Weg war von Natur ausgezeichnet, der Felsboden glatt wie ein Tisch, nur wenig ansteigend, dazu Rückenwind, Ellen flog spielend hinauf. Links und rechts aber, in den Schluchten, da sah es fürchterlich aus, da hätte man wohl, das Rad über die Schulter, von Stein zu Stein balanciren müssen.

So flog sie immer weiter, bewunderte die schauerliche Romantik der Zwischenthäler und freute sich über diesen glatten Weg im Gegensatz zu jenen, bis sie an das Linksabbiegen dachte. Einen menschenkopfähnlichen Stein hatte sie noch nicht gesehen, leider auch nicht nach der Uhr; jetzt war es bald elf, sie fuhr und fuhr, und der Stein wollte immer noch nicht kommen. War sie schon daran vorüber? Wie in aller Welt sollte man denn aber auch in solch' einer Schlucht fahren können? Die bezeichnete musste doch wohl noch kommen.

Aber weder der auffallende Stein noch ein links liegendes Thal mit passablem Weg war zu erblicken. Dafür erreichte sie jetzt die Höhe. Nun war sie sicher vorbei geradelt. Gut, dann ging es einmal in die offene Prairie, so hatte er ja wohl gesagt. Diese herrliche Thalfahrt konnte sie sich nicht entgehenlassen. Sie brauchte sich ja dann nur links zu halten, so musste sie wieder auf den richtigen Weg kommen. Also die Füsse auf die Stützen gestemmt, die Bremse vorsichtig in die Hand, und hinab ging es in sausendem Fluge. Der Luftzug milderte die Hitze, dabei vergass sie auch die Trockenheit des Gaumens.

Dort vorn wurde der Weg anders. Er war mit Steinen bedeckt, ein herabgestürzter Felsblock mochte zersplittert sein. Ehe Ellen abbremsen konnte, war sie mitten drin, über einige kleine Steine hinweg, grössere konnte sie umfahren, sie hatte das Rad wieder in der Gewalt, es wurde ihr etwas ängstlich um's Herz, weil die Steine gar so spitz waren ...

Pfffhhh – sagte es, und durch Ellen's Körper ging ein unangenehmes Rütteln.

Erschrocken sprang sie ab. Sie hatte einmal gehört, dass man nicht auf leeren Schläuchen fahren könne, die Felgen würden sich gleich verbiegen.

Der Hinterreifen war schlaff. Das Loch war leicht zu finden, der spitze Stein steckte noch drin. Nun, für solche Fälle war sie ja mit Allem versehen. Die Werkzeugtasche aufgeschnallt, das Reparaturkästchen herausgenommen, auch das Instrument, um den Laufmantel abzuheben.

Eigentlich ist es gar nicht so einfach, einen Laufmantel abzunehmen, als es sich zusieht, wenn es ein anderer macht. In ihrem ganzen Leben hatte es Ellen noch nie gethan, noch weniger einen Luftschlauch geflickt. Wenn ihr in England einmal so etwas passirte, ging sie in die nächste Reparaturwerkstätte, oder war ihr das zu weit, in's nächste Wirthshaus, gegen Bezahlen der Kosten und ein gutes Trinkgeld wurde ihr die kranke Maschine nach Hause geschickt, sie selbst fuhr mit der Eisenbahn voraus.

Aber sie brachte den Schlauchmantel herab, wenn auch nicht ohne Schwierigkeit. Dem Kästchen lag eine Gebrauchsanweisung bei, sie wurde aufmerksam studirt; nun konnte sie es. Alles war vorhanden, sie kratzte, pinselte und klebte so, nun die Luftpumpe heraus, wozu erst der Widerstand der infamen Schnalle überwunden werden musste. Sie pumpte. War das fürchterlich heiss unter der Mittagshitze in diesem Engpass. Und dieser Durst! Sie pumpte und pumpte – wurde er denn noch immer nicht fest? Keine Spur. Die Zähne zusammengepresst, pumpte sie weiter, bis sie endlich merkte, dass die Luft ebenso schnell aus der Wunde wieder entwich, wie sie durch das Ventil hineinkam. Also nochmals die Anweisung gelesen, nochmals gekratzt, gepinselt und geklebt, nochmals gepumpt. Und das war heiss! Und dieser Durst! Aber nun hielt es auch, der Schlauch schwoll. Nicht allzufest, bei dieser Gluth könnte er leicht platzen. Ellen wäre sehr fröhlich gewesen, wenn nicht wieder die elende Schnalle an der Rahmentasche zu überwinden gewesen wäre.

Diesen spitzen Steinen traute sie nicht mehr. Die schienen bald aufzuhören. Ellen nahm das Rad über die Schulter, und wenn es auch wie Feuer brannte, sie trug es wie ihr geliebtes, krankes Kind, wohl eine viertel Stunde lang.

Wirklich, jetzt war der Weg wieder frei von den bösen Steinen.

Ihre Liebe wurde belohnt. Nun aufgestiegen und frisch drauf ...

Pfffhhhtsch – sagte das Hinterrad.

Ellen hätte die ganze Maschine am liebsten gegen die Wand werfen mögen. Hatte sie das etwa verdient? Nein. Das war eine Niederträchtigkeit, besonders von dem Hinterrade.

Aber Energie besass Ellen doch. Sie fing noch einmal an. Zunächst die verfl... Schnalle, Ellen fluchte wirklich, und da gab die Schnalle klein bei. Also nochmals gekratzt, gepinselt, geklebt und gepumpt, wenn auch unter Thränen. Nein, dieser Durst, dieser Durst! Und der Pumpencylinder brannte wie glühendes Eisen in ihren Händen. Sie hatte es noch nicht für nöthig befunden, sich eine Korbflasche zuzulegen, unnützer Ballast hier mitten in der Cultur. Starke hatte immer eine grosse Lederflasche in der linken Jackentasche, und wenn der jetzt hier wäre, sie wollte trinken, trinken, trinken ... Herr Gott, der Schlauch wollte schon wieder keine Luft annehmen!

»Nein, das ist doch zu schändlich!« weinte Ellen. »Ach, lieber Gott, mach mir doch meinen Schlauch voll.«

Das Gebet wurde nicht erhört, und ihre Seele dem Teufel zu verschreiben, daran dachte sie im Augenblicke nicht, sonst würde sie es vielleicht gethan haben.

Gebrochen sank Ellen auf einen Stein. Sie trug sich mit Todesahnungen herum. Was sollte denn auch aus ihr werden? Den Weg von 8 Meilen zurück zu Fuss? Es graute ihr schrecklich davor. Bei dieser furchtbaren Hitze! Schliesslich aber blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Zunächst wollte sie warten, ob Starke nicht käme. Es war zwar eine kühne Annahme, dass Starke ebenfalls diesen offenbar falschen Weg einschlagen würde, doch Ellen baute fest darauf, mindestens musste sein Hund ihrer Spur folgen können, wozu hatte er denn sonst einen Hund, wozu hatte denn dieser Hund sonst eine Nase, und Ellen hatte wohl Recht, wenn sie sich diesen Mann vorstellte, wie er sofort erkennen würde, aus irgend einem Anzeichen, dass sie nicht den richtigen Weg eingeschlagen habe; er war ja so ein halber Trapper, dann musste er auch Indianersinne besitzen, und es war wohl auch richtig, wenn sie sich vorstellte, wie der kluge Hund, die Nase am Boden, der Fährte des Gummireifen folgen würde.

Zunächst glaubte Ellen, die ersten Qualen des Verschmachtungstodes durchzukosten. Schon sah sie in der öden Felsenwildniss grüne Oasen mit springenden Quellen, der glitzernde Spiegel eines See's winkt ihr – das heisst, sie bildete sich nur ein, schon solche Visionen zu haben, weil sie davon gelesen hatte; so weit war es doch noch nicht mit ihr. Was sie aber plötzlich veranlasste, mit einem Schmerzensschrei aufzuspringen, diese Empfindung war echt: der Stein, auf dem sie sass, war heiss wie eine glühende Ofenplatte, es ging nach und nach durch das Lodentuch.

»Starke, so kommen Sie doch nur endlich!« jammerte sie.

Das Echo verspottete sie.

»Ach, mein lieber Starke, kommen Sie doch, ich will ja auch immer zu Ihnen gut sein!«

»Gut sein – gut sein,« lachte das Echo, und Ellen empfand den Spott; Scham überkam sie.

Lächerlich, es war ja nichts weiter als ein kleines Löchelchen in dem Gummischlauche, sollte denn das nicht zuzustopfen sein? Andere konnten es ja auch, und es war so einfach, wenn man zusah. Ellen kratzte und pinselte und brachte ihren ganzen Vorrath von Gummi darauf. Nun wieder gepumpt. Es hielt, es hielt! Sie legte sich schwer auf den Sattel – es hielt, er liess keine Luft mehr! Vorwärts, aufgesprungen, sie musste heraus aus diesem schrecklichen Felsenpass, sie musste doch hier, in einer bevölkerten Gegend, bald auf Menschen stossen, wenn sie nur fuhr, und wenn sie erst ihren Durst gelöscht hatte, dann wollte sie auch wieder den richtigen Weg finden.

Sie hatte erst einige Radumdrehungen gemacht, als die Strasse abermals sehr steinig wurde, sie wollte den defecten Reifen lieber schonen ... Bhhh – sagte da dieser schon, diesmal ganz bescheiden.

Nun freilich war es mit Ellen vorbei. Sie liess die Maschine fallen, wie sie fiel, und fiel selbst daneben, jetzt nicht mehr den heissem Boden achtend, der ihr auf die Haut wirkliche Blasen zog.

Das ist mein Tod, dachte sie, hier wird man eine Leiche finden. Und das hat Judith nur gewollt. Fluch ihr, Fluch der ganzen Radlerei. Starke, Starke, du bist gerächt! – Und dann dachte sie trotzdem: ach, wenn er doch käme!

Aber Starke kam nicht.


 << zurück weiter >>