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Drei Tage später, fünfzehn englische Meilen vor Springfield.
Links ein Wald, rechts Kartoffeläcker, und dazwischen die sich über das hügelige Terrain ziehende Landstrasse, an welcher im Waldesschatten auf einem Baumstumpf ein kleiner, dicker Mann sass, mit carrirten Pumphosen, carrirter Weste und Jacke, carrirten Strümpfen und carrirter Mütze, uncarrirt nur die zu diesem schottischen Costüm unvermeidlichen Schnürstiefel; vorn am Riemen ein mit Leder überzogener Kasten, in der Hand ein abgeschnittenes Stöckchen, an dem er ein weisses Taschentuch befestigt hatte.
Im Gegensatz zu dem rot, grün und blau carrirten Anzuge war das Gesicht des kleinen Dicken ein so gewöhnliches, dass es nicht beschrieben zu werden braucht. Höchstens die abnorm runden Eulenaugen und die grossen, weitabstehenden Ohren verdienen noch eine Erwähnung.
Er malte mit dem Stöckchen im Sand, verscheuchte mit dem Taschentuche die aufdringlichen Fliegen, welche es auf die schönen, grossen Ohren abgesehen hatten, spähte manchmal die Strasse hinauf, und wenn er auch keine Aehnlichkeit mit einem Tyrannenbefreier hatte, so schien sein ganzes Verhalten doch zu sagen: durch diese hohle Gasse muss er kommen.
Ein Ochsenwagen kam, und Tell liess ihn passiren, ohne nach dem Ochsen oder nach seinem Lenker den Bolzen entsendet zu haben. Ein Radfahrer sauste vorüber und wurde auch nicht erschossen. Ein Fussgänger blieb unbeachtet. Da aber ...
Dort drüben auf dem Kartoffelfelde hackte ein junges Mädchen, ein Mann kam zu ihr, zeigte unter heftiger Gesticulation eine Flasche vor und gab dem Mädchen eins hinter die Ohren. Vielleicht hatte sie die Whiskyflasche während der Abwesenheit des Vaters ausgetrunken, jedenfalls musste sie die Maulschelle verdient haben, denn sie hackte ruhig weiter, und damit war die Sache erledigt.
Aber der Mann hatte das Mädchen geschlagen, das schien dem kleinen Carrirten ein empörendes Verbrechen zu sein, blitzschnell, doch ohne aufzustehen, griff er in die Brusttasche und – riss einen Bleistift und ein dickes Notizbuch heraus. Erst kratzte er sich mit dem Bleistift etwas die Nase und dann schrieb er:
»Springfield, den 23. September. Eine grässliche Blutthat hat die Gemüther der ganzen Stadt nebst sämmtlicher Umgegend erschüttert. Starke Männer weinen, zarte Frauenherzen verbluten sich langsam. Alice Butterfly, eine holde Jungfrau von achtzehn Lenzen, in ganz Illinois bekannt und beliebt durch ihren sittsamen Fleiss, hackte auf dem Felde Kartoffeln. Wie sie einmal, erschöpft durch die ungewohnte Arbeit, für einen Augenblick kraftlos die zarten Arme sinken liess, stürzte sich sofort ihr eigener Vater, ein notorischer Trunkenbold, auf sie, schlug sie mit der Hacke zu Boden, trat auf sie, spuckte auf sie und ruhte so nicht eher, als bis Alice Butterfly unter seinen Füssen ihre unschuldige Seele ausgehaucht hatte. Hierauf schleifte Harry Butterfly – dies der Name des grausamen Wütherichs – sein Opfer an den Haaren nach dem Kaskaskia, dessen trübes Wasser seine Blutthat mit einem undurchdringlichen Schleier für immer verhüllen sollte. Allein der scheussliche Vorgang war beobachtet worden, der unmenschliche Vater wurde in das Gefängniss geliefert, nachdem ihn vorher die empörte Bevölkerung zu Tode gelyncht hatte. Nach vier Stunden konnte die Leiche des unglücklichen Mädchens vom Grunde des Kaskaskias aufgefischt werden. Leider blieben alle Wiederbelebungsversuche erfolglos.«
Der Schreiber kratzte sich wieder mit demBleistift überlegend die Nase und fuhr dann fort:
»24. September. Zu unserem Bericht über die Mordthat bei Springfield bemerken wir, dass es nicht Springfield im Staate Illinois., U. S. war, sondern die Ansiedelung Wurrenup in Westaustralien. Das unglückliche Mädchen hiess nicht Alice Butterfly, sondern Moritz Schmidt, ein unbescholtener Bäckerjunge deutscher Abstammung, welcher sich nach redlich gethaner Arbeit gebadet hat. Ob sein Vater noch lebt, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. In Springfield selbst haben sich die Gemüther wieder beruhigt, weil dort gar nichts von jener abscheulichen That bekannt ist. Dagegen soll in Springfield gestern Nacht von Bubenhänden eine Fensterscheibe aus Versehen eingeschlagen worden sein. Sonst haben wir nichts mehr hinzuzufügen.«
Der kleine Dicke steckte das Notizbuch bedachtsam wieder ein, dann aber schnellte er lebhaft auf – dort, von Osten, kamen des Weges zwei Radfahrer daher, zur Seite ein grosser gelber Hund. In der Mitte der Strasse stehend, liess der Carrirte sie bis auf dreissig Schritt herankommen, dann schwenkte er den Stock mit der weissen Flagge.
»Halt, absteigen, hier wird geschossen!« schrie er ihnen entgegen.
Den Weltfahrern blieb nichts anderes übrig, als schnell zu bremsen und abzuspringen. Wenn die Beschaffenheit des Terrains auch nicht das Vorhandensein eines Steinbruchs vermuthen liess, so konnte doch in anderer Weise geschossen werden. In Amerika benutzt man auch Schiessbaumwolle, um Bäume zum Sturz zu bringen.
Sie standen, die Räder haltend, dicht vor dem kleinen Carrirten.
»Wo, was und womit wird denn hier geschossen?« fragte Starke.
»Hiermit,« entgegnete jener, an den Lederkasten klopfend, trat auf Ellen zu und hielt ihr den Kasten dicht vor das Gesicht.
»Bitte machen Sie ein etwas intelligentes Gesicht ...«
Knacks, ging es, Ellen war photographirt, der Kasten fiel an dem Riemen herab, der Kleine legte einen Finger an die Mütze und schnellte ihn nach vorn.
»Danke, never mind.«
»Das ist aber doch stark!« konnte Ellen nur hervorbringen. Starke lehnte in aller Gemüthsruhe auf seiner Maschine.
»Adam Noah Abraham Isaac Jacob,« fuhr der Carrirte fort, zum leicht begreiflichen Staunen Ellen's, dabei eine Brieftasche ziehend, »Berichterstatter vom »New-Yorker Spion,« hier meine Karte.«
Ellen nahm die dargereichte Karte.
»Starke!« Der Gerufene trat heran, Ellen zeigte ihm die Karte.
»Adam Noah Abraham Isaac Jacob, Berichterstatter des New-Yorker Spion« – es stimmte.
»Dessen Eltern haben sich auch keinen schlechten Witz erlaubt,« meinte Starke trocken. »Mr. Jacob?«
»Ist meine Name. Mr. Curt Starke aus Nowawes? Never mind. Miss Ellen Howard aus London? Never mind. Gestatten Sie, dass ich Sie interviewe.«
Notizbuch und Bleistift kamen zum Vorschein. Ellen blickte nach Starke.
»Lassen Sie sich interviewen, einmal müssen Sie doch daran glauben«, sagte dieser.
Das Ausfragen begann. Name, wo geboren, wann; der Bleistift notirte.
»Haben Sie noch andere Vornamen als Ellen?«
»Isabel Harriet.«
»Isabel Harriet Ellen. Sonst keine mehr?«
»Nein.«
»Schade. Verheirathet?«
»Nein.«
»Schade. Lebt Ihr Mann noch?«
»Ich bin unverheirathet, sagte ich Ihnen doch.«
»Unverheirathet? Schade. Haben Sie Kinder?«
»Herr Gott!« rief Ellen entrüstet. »Sagen Sie 'mal, Mr. Jacob, sind Sie ...«
»Lassen Sie ihn nur,« fiel ihr Starke gleichmüthig in's Wort, »das ist ein degenerirter Reporter, bringen Sie ihn doch nicht um seine Centzeilen.«
Der degenerirte Reporter war für nichts empfänglich, er schrieb und Ellen lachte.
»Wieviel Kinder?«
»Ich habe gar keine Kinder, Sir!«
»Also keine. Schade. So, das wäre das eine. Sind Sie einmal krank gewesen?«
»Nein.«
»Schade,« sagte der Schreibende. »Wirklich niemals krank? Masern, Pocken, Ruhr, Dyphteritis, Rhachitis, Cholera, Trichinose – gar nichts?«
»Nein doch, nein,« lachte jetzt Ellen aus vollem Halse, »gar nichts!«
»Schade. Nun Ihre äussere Erscheinung. Haare? Roth.«
»Ich bitte sehr! Aschblond ist mein Haar.«
»Aschblond? Nicht roth? Schade. Also aschblond. Augen?«
Er trat noch näher an sie heran und blickte ihr in die Augen.
»Grün.«
»Grau wollen wir sagen.«
»Nicht grün? Schade. Teint? Braun. Gebiss? Fehlen Ihnen Zähne? Haben Sie hohle Zähne, plombirte Zähne, falsche Zähne? Machen Sie mal den Mund auf, dass ich hineingucken kann.«
»Nun hören Sie aber auf. Ich habe alle meine gesunden Zähne noch.«
»Alle gesunden Zähne noch? Schade.«
Ellen wusste nicht, was sie davon denken sollte. Sie war entrüstet und musste doch lachen, und daneben sass Starke gleichmüthig mit untergeschlagenen Armen auf dem Sattel der schief stehenden Maschine.
»Was war denn Ihr Vater, Mr. Schade?« fragte er jetzt. Mit sichtbarem Staunen liess der Berichterstatter das Notizbuch sinken und wandte sich dem Frager zu.
»Wie nennen Sie mich? Woher wissen Sie denn, dass meine Collegen mich immer Mr. Schade nennen?«
»Nun, weil Sie dieses Wort doch beständig im Munde führen,« lachte Ellen.
»Ich? Fällt mir ja gar nicht ein! Was mein Vater war? Der war Reporter.«
»Und Ihre Mutter?«
»Die war auch Reporter.«
»Und Ihr Grossvater?«
»Der war ein berühmter Circusclown, damals gab's noch keine Zeitungen, und eine Schwester von dem bekannten Barnum war meine Grossmutter.«
»Sehen Sie, Miss Howard, ich hatte Recht, das ist ein degenerirter Reporter,« sagte Starke unverfroren wie zuvor, »bei dem ist das angeerbte Genie in Wahnsinn umgeschlagen.« Und zu Mr. Schade setzte er hinzu: »Was ist denn das für eine Zeitung, für welche Sie schreiben? Habe noch nie etwas vom »New-Yorker Spion« gehört.«
»Nicht? Schade! Hier.« Der Reporter zog aus der Seitentasche eine umfangreiche Zeitung und gab sie Starke. »Später will ich Ihnen erklären, was der »Spion« bedeutet. Gestatten Sie, dass ich mein Interview fortsetze. Allgemeine Erscheinung? Gewöhnlich. Nase? Gewöhnlich. Mund? Gewöhnlich. Ohren? Gewöhnlich. Alles in Allem: menschenähnlich. Haben Sie besondere Kennzeichen?«
Obgleich die menschenähnliche und ganz gewöhnliche Ellen noch nicht recht wusste, was sie von alledem denken sollte, ob sie hier einen Irrsinnigen vor sich hatte, oder ob dies die Art und Weise ist, wie ein amerikanischer, etwas überspannter Reporter interviewt, so sah sie doch schon aus Starke's Verhalten, welcher ruhig in der Zeitung studirte, dass hier keine Gefahr drohte, und so fasste sie dieses seltsame Interview als humoristischen Zwischenfall auf, liess sich die stärksten Fragen gefallen, antwortete und amüsirte sich über das curiose Kerlchen.
»Ich habe keine.«
»Sie haben keine? Schade. Keine Narbe, Muttermal oder dergleichen?«
»Nein, nicht einmal faules oder wildes Fleisch.«
»Schade. Nun wollen wir zu den Körpermaassen übergehen,« sagte Mr. Schade und entrollte ein Metermaass.
Körpergrösse, Gewicht und Taillenweite konnte Ellen selbst angeben, doch das genügte nicht, der gewissenhafte Reporter wollte Alles ganz genau wissen.
»Bitte, heben Sie einmal Ihren rechten Hinterfuss,« sagte er, hinter sie tretend, und auch diesem Wunsche willfahrte Ellen, um sich die Sohle messen zu lassen, und so ging es noch eine Weile fort.
Dann kam der Anzug daran, bis zum letzten Knopfe wurde er beschrieben, und dann wollte Mr. Schade auch noch Intimeres wissen.
»Nein, oh nein, mein Herr, Sie werden zu gründlich, und nun könnten Sie überhaupt bald aufhören.«
»Aufhören? Schade. Erst wollen wir noch zu Ihren täglichen Gewohnheiten übergehen. Was geniessen Sie des Morgens ...«
»Nun wollen wir uns auf's Rad setzen und weiterfahren,« sagte Starke, steckte die Zeitung ein und schickte sich an, sein Rad zu besteigen.
Mr. Schade machte seine grossen Augen noch grösser. »Ich bin aber noch nicht fertig.«
»Das glaube ich Ihnen. Sie werden überhaupt nie fertig. Kommen Sie, Miss.«
»Halt!« rief aber Mr. Schade eifrig, ehe noch Starke oben war. »Dann nur noch eine Frage an Sie. Ihre Personalien sind mir bekannt bis auf Einiges. Wann sind Sie geboren, Mr. Starke?«
»Am 31. Februar 1993. Sonst noch etwas? Machen Sie schnell.«
»Geboren am 31. Februar 1993,« wiederholte der Reporter beim Notiren, und jetzt machte Ellen grosse Augen, als sie, ihm in's Buch blickend, sah, dass er dies wirklich aufschrieb. Hätte sie das gewusst, dann hätte sie ihm etwas ganz Anderes erzählt.
»Zu Nowawes. Wo liegt Nowawes?«
»An der Wolga und ist die Hauptstadt von Sachsen. Vorwärts, Miss Howard.«
»Nowawes, Hauptstadt von Sachsen, liegt an der Wolga,« erklang es hinter ihnen.
Ellen war vor Lachen kaum auf das Rad gekommen und konnte sich nur mit Mühe im Gleichgewicht halten.
»Nun sagen Sie in aller Welt, Starke,« rief sie dann, »ist dieser Mann so erzdumm oder wirklich verrückt, oder ist dies der Typus eines amerikanischen Reporters?«
»Ich will Ihnen meine Meinung in der Mittagspause sagen,« entgegnete Starke, »denn ich muss Ihnen dazu diese Zeitung zeigen. Beim oberflächlichen Lesen derselben ist mir nämlich eine eigentümliche Vermuthung aufgefallen, welche richtig sein dürfte. Ein echt amerikanisches Yankee-Stückchen. Etwas dumm sieht dieser Mr. Schade mit seinen abstehenden Elephantenohren ja aus, aber es kann auch ein ganz geriebener Kopf sein, in seinem Fache ein Genie, wenn ich auch bei der Behauptung bleibe, hier handelt es sich um eine Art von Degeneration. Der Grossvater Possenreisser, die Grossmutter Barnums Schwester, Vater und Mutter Zeitungsreporter, der Sohn auch – das lässt die Natur nicht ungestraft, und Genie und Wahnsinn grenzen nahe aneinander. – Hollah, der Kerl hat ja auch ein Rad!«
Die leichte Rennmaschine, auf welcher Mr. Schade wie ein dicker, carrirter Affe kauerte, musste im Walde versteckt gestanden haben. Flugs hatte er sie eingeholt und sich zwischen die Beiden gedrängt.
»Der New-Yorker Spion,« begann er sofort, »ist das weitverbreitetste Zukunftsblatt der Erde. Der Spion hat in jeder Hauptstadt und in jedem Dorfe der Welt seinen Correspondenten. Der Spion hält seine Leser immer auf dem laufenden Fusse. Wenn der Kaiser von China Zahnschmerzen hat – es steht im New-Yorker Spion, ehe ein anderes Blatt eine Ahnung davon hat. Wenn eine Dynamitfabrik in die Luft fliegt – Sie können im Spion alle Einzelheiten lesen, noch ehe die Explosion erfolgt ist. Lachen Sie gern? Im Spion ist eine Ecke zum Todtlachen. In einer anderen Ecke können Sie sich den Kopf zerbrechen. Wir bringen Räthsel, die wir selber nicht lösen können. Wir haben extra ein grosses Irrenhaus bauen lassen für die, welche unseren Feuilleton-Roman lesen. Die Redaction wagt ihn selber nicht zu lesen. Zehntausend Setzer haben darüber schon den Verstand verloren. Der Corrector sitzt in der Tobzelle. Der Spion besitzt auch noch andere Eigenschaften. Mit keiner Zeitung der Erde kann man so gut Feuer anmachen als mit dem New-Yorker Spion. Aus dem Spion lassen sich Papierhüte und Schiffe fertigen. Hat man einmal sein Taschentuch vergessen – man nimmt einfach den New-Yorker Spion. Der New-Yorker Spion besitzt gerade das richtige Format, um ein Butterbrot einzuwickeln. Ja, auch das muss ich erwähnen: Der New-Yorker Spion wird auf dem denkbar weichsten und doch dabei sehr zähen Papier gedruckt, und sollten Sie nun einmal in die Verlegenheit kommen ... halt, halt, ich komme nicht mit, steigen Sie ab!«
Es ging einen sehr steilen Hügel hinauf, die Rennmaschine konnte die Steigung nicht nehmen, Mr. Schade kippte um. Aber die Beiden hielten nicht an.
»Na da warten Sie doch! Sie wissen ja noch gar nicht, wieviel die ganze Geschichte kostet!«
Vergebens, die Beiden erklommen den Hügel weiter. »Mr. Starke, Sie haben ihren rechten Stiefel verloren!« schrie Schade.
Die kluge List glückte nicht.
»Miss Howard, Sie haben kein Hinterrad mehr an der Maschine!«
Vergebens, nur Ellen's helles Lachen antwortete.
»Der New-Yorker Spion ist die beste und billigste Zeitung in der Welt!« brüllte der Reporter noch einmal mit Aufgebot all' seiner Lungenkraft, und die Beiden waren hinter dem Hügelkamm verschwunden.
»Schade,« brummte Mr. Schade, als er seine Maschine hinaufzuschieben begann. »Aber wartet, ich hole Euch schon wieder ein, entgehen sollt Ihr mir nicht.«
Wieder war es ein idyllisches Plätzchen, welches Starke Punkt elf Uhr zur Mittagsrast erreichte, und hier faltete er vor Ellen die grosse, 8 Seiten enthaltende Zeitung auseinander.
Der »Spion«, täglich einmal erscheinend, Preis der einzelnen Nummer 5 Cents – Abonnement giebt es in Amerika nicht. Das war ganz ausserordentlich theuer, das war doch eine ganz gewöhnliche politische Zeitung, die Hälfte davon bestand aus Annoncen und Reclamen, und solche Holzschnitte bringt jedes andere Blatt auch! Wo steckt da der Werth?
Zwar war es eine schon spätere Nummer des Jahrganges, doch die Einleitung, was der »Spion« Alles brachte und seinen Lesern bot, wurde nochmals wiederholt, und zwar in einer noch viel übertriebeneren Weise.
Ellen las den Leitartikel, ihr Gesicht wurde immer erstaunter.
»Was ist denn das?« murmelte sie. »Bin ich so schwach von Begriffen oder hat das ein Irrsinniger geschrieben?
Sie blätterte weiter, sie las die Annoncen Alles strotzte von Albernheiten, von Blödsinn. Dasselbe galt von den Bildern.
Da waren neben einander vier bartlose Lockenköpfe gesetzt, ganz genau dieselben, also ein und derselbe Holzschnitt. Unter dem Ersten stand der Name eines sehr bekannten Staatsmannes, der aber im Leben ein alter Mann mit Vollbart war. Unter dem zweiten stand: Miss Alice R. Yocker, welche täglich eine Schachtel Beecham-Pillen einnimmt; unter dem dritten: Mr. Noel Z., Schornsteinfeger; unter dem vierten: Diese Person, kennen wir selbst nicht.
Dann war in einfachen Umrissen eine Bohne hingemalt, daneben zwei Bohnen, daneben drei Bohnen übereinander, und darunter stand: das ist eine Bohne; das sind zwei Bohnen; das sind drei Bohnen.
In einem spaltenlangen Aufsatze schlug ein Philosoph vor, die Frage, wie sich das Menschengeschlecht entwickelt habe, auf folgende ganz einfache Weise zu lösen: man solle innerhalb von zehn Jahren dafür Propaganda machen, dass sich am 1. Januar 1911 sämmtliche auf der Erde lebende Menschen die Gurgel durchschnitten, alte und junge, Europäer wie Hottentotten, nur zwei Ehepaare nicht, welche das Geschlecht erhielten, und diese würden nun das Tagebuch anfangen, wie sich die Menschenrace wieder entwickelt. Man konnte es dem unterzeichneten Philosophen – Jonathan Killer, Fleischermeister – gar nicht verdenken, dass er als das eine überlebende Ehepaar sich selbst und seine Frau vorschlug, als das zweite die Familie seines Freundes, eines Messerschmiedes, welcher gleichzeitig auf die Billigkeit seiner Rasirmesser aufmerksam machte.
Der Annoncen- und Reclametheil war natürlich erst recht aus dem haarsträubendsten Blödsinn zusammengesetzt.
»Wissen Sie nun, was das ist?« fragte Starke, als Ellen ihn noch immer ganz fassungslos anblickte. »Nicht eigentlich ein Witzblatt, mehr eine Parodie, eine Persiflage auf das amerikanische Zeitungswesen, richtiger Zeitungsunwesen. Sie haben doch schon Gelegenheit gehabt zu beobachten, wie dieses hier beschaffen ist, wie jeder Kleinigkeit eine übertriebene Wichtigkeit beigemessen wird, diese krampfhaften Bemühungen, das Publicum zu unterhalten, diese schauderhaften Holzschnitte, der Unfug, welche mit der Statistik getrieben wird, wie man berechnet, wie viele Meilen es geben würde, wenn man die Haare sämmtlicher Menschen aneinanderknüpfte, dann der Auswuchs des Reclamewesens u. s. w. u. s. w. Das ist hier in amerikanischer Weise parodirt, und es ist gar nicht nöthig, dass gerade ein Verleger mit diesem Blatte ein Geschäft machen will – da braucht sich nur einmal so ein amerikanischer Crösus über den sinnlosen Inhalt einer Zeitung geärgert zu haben, eine Idee kommt ihm, er setzt ein paar tausend oder zehntausend Dollars daran, flugs ist solch ein Carnevalsblatt gegründet; verdient er etwas dabei, dann ist's gut, setzt er das Geld dabei zu, dann hat er sich einen kleinen Spass geleistet. Aber es wird schon gehen, das ist so nach amerikanischem Geschmack, Alles nur möglichst verrückt, dann ist's witzig, Hauptsache ist, dass das Blatt zum Ausfüllen geeignete Mitarbeiter hat, und an solchen fehlt es hier in Amerika auch nicht; dieser Mr. Schade ist solch' ein Kopf, in dem sich Genie mit Wahnsinn paart.«
Nun wusste es Ellen, da aber kam ihr auch ein furchtbarer Gedanke.
»Mein Gott!« sagte sie erschrocken. »Jetzt fällt es mir ein – dieses verrückte Interview – wie er sogar meinen Fuss mass – ich sollte rothe Haare und grüne Augen haben – jetzt werde ich auch so in dieser Zeitung parodirt!«
»Seien Sie ohne Sorge,« entgegnete Starke tröstend, »wenn es sich nicht um politische Wahlen handelt, beleidigen die amerikanischen Zeitungen nicht so leicht; ich habe in den Spalten keine Beleidigung entdecken können, und jener bekannte Staatsmann wird vergnügt lächeln, wenn er das Bild sieht, das ihn vorstellen soll, man erweist ihm nur einen Dienst. Und sollte man sich mit der Person der Weltenradlerin beschäftigen, dann wird man es schon so thun, dass Sie sich selbst nicht wiedererkennen.«
Ellen war beruhigt. Aber auch Starke ahnte nicht, wie sich dieser degenerirte Reporter noch mit ihnen beschäftigen würde.