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»Haben Sie etwas Verzollbares bei sich? Spitzen, Pretiosen, Spirituosen?«
Unter dem scharfen Blicke des amerikanischen Zollbeamten erröthete Ellen bis in die Schläfen, sie wurde immer verlegener, konnte nur noch flüstern – gerade jetzt, da sie sich vorgenommen hatte, offen aufzutreten, und sie hatte ja auch gar nichts bei sich. Und nun erröthete sie.
Erstens machte sie der Gedanke verlegen, dass jetzt die Augen aller Passagiere mit spöttischem Staunen auf sie gerichtet seien, denn Angesichts der Freiheitsstatue im New-Yorker Hafen präsentirte sie sich zum ersten Male in ihrem Weltreisecostüm, und zu diesem gehörten Hosen; denn sie benutzte ein Herrenrad, und Hosen hatte Ellen noch nie gegen den eleganten Radlerrock vertauscht gehabt.
Der Spiegel in der Cabine, in welcher jetzt ihr Reisekleid dem zur Verfügung stand, der es zuerst fand, hatte ihr zwar gesagt, dass sie recht fesch in dem abenteuerlichen Herrencostüm aussah, in dem dunkelbraunen Lodenanzug, mit den hohen, gelben Schnürstiefeln, wie unter dem schottischen Mützchen die blonden Locken hervorquollen, ein frisches, edles Gesicht einrahmend; auch der Revolver im Futteral am Gürtel gab ihr etwas von ritterlicher Verwegenheit, der Tornister auf dem Rücken entstellte das ganze Bild auch nicht – ja, sie sah recht gut aus, aber sie hätte schon kaum gewagt, aus der Cabine herauszutreten, und als sie dann ihr Rad über Deck fuhr, und als sie einen Mann vor Staunen förmlich zurückprallen sah, da wünschte sie, schon in der einsamen Mongolensteppe zu sein. Ach, diese Hosen! Es war ein grässlicher Gedanke.
Zweitens kam nun der Zollbeamte mit seinem durchdringenden Blick.
Sie hatte schon genug davon gehört, sie fühlte sich bereits von fremden Händen ausgeschält. Jacke, Weste, Hose, Stiefel, Strümpfe aus, Alles aus bis auf's Hemd, ob sie nicht eine Leibbinde von Brüsseler Spitzen trüge, und wenn es auch Frauenhände waren, in einer abgeschlossenen Kammer, es war doch furchtbar – und es musste so kommen, denn sie erröthete ja immer mehr, obgleich sie doch gar nichts Verzollbares hatte.
Aber Ellen irrte sich. Einmal hatten die Passagiere soviel mit ihren Koffern und mit sich selbst zu thun, dass sie das Mädchen im Männercostüm gar nicht beachteten, und dann wissen die Zollbeamten, dass gerade jene Damen und Jünglinge, welche gleich so erröthen und zittern, die allerunschuldigsten sind, die geben sich nicht mit Pascherei ab. Aber die, welche ein keckes Nein sagen und dreist den Blick erwidern, die haben sie schärfer im Auge, und überhaupt, diese Zollbeamten sehen, riechen und fühlen mehr als andere irdische Menschen, manchmal scheinen sie wirklich hellsehend zu sein.
»Nein, ich habe wirklich nichts,« stammelte Ellen.
»Ringe? Es ist nur ein Diamantring frei.«
Gehorsam streckte Ellen die Hände aus. Die linke trug nur einen oxydirten Kupferring, der nicht einmal einen Australneger gereizt hätte, und für Ellen vertrat er die Visitenkarte. »Ellen Howard, London« war darauf eingravirt, falls man einmal eine Leiche, nach Jahren ein Skelett finden sollte. »Dieses neue Rad muss verzollt werden.«
»Ich will – ich möchte – um die Erde fahren,« stotterte Ellen mit bittendem Blick und knöpfte das Jäckchen, auf, um den englischen Pass hervorzuholen.
»Schon gut,« wehrte der Beamte ab, der nicht einmal das leiseste Staunen bei dieser Erklärung zeigte. »Schläuche auf – Schläuche auf, Schläuche auf!« drängte er, als seiner Aufforderung nicht gleich nachgekommen wurde.
Ellen stützte sich auf das Rad, es zischte; sie sank etwas zusammen. Eine fremde Hand war es gewesen, welche die Ventile geöffnet hatte, eine braune, muskulöse Hand, die sich aus einem gelben Lederärmel hervorreckte. Nur wie im Nebel sah Ellen neben sich einen gelben Riesen stehen, der auch ein Rad bei sich hatte.
Der Beamte hob die Maschine etwas, wirbelte die Räder herum und brachte das Ohr in die Nähe der schlaffen Gummireifen. Denn was kann der intelligente Mensch nicht Alles in diese hineinpfropfen! Im Anfange, als die Pneumatics aufkamen, waren die vom Continent nach England gehenden regelmässig mit Tabak gepolstert, aber auch Schnaps wurde hineingepumpt, und das wurde im Grossen betrieben, bis die Zöllner eben dahinter kamen.
Der Zollbeamte ging. Plötzlich stand neben dem Schnelldampfer ein grosses Haus. Wie es hierher kam, wusste Ellen nicht, da aber alle Passagiere hineingingen, wollte sie es auch thun. Halt, erst musste sie ja die Schläuche wieder aufpumpen. Ach, nun fing die Aufschnallerei mit der Rahmentasche an, und sie brachte die Schnalle immer nicht auf und nicht wieder zu, und die schreckliche Pumperei ...
»Lassen Sie nur, Miss,« sagte der gelbe Mann neben ihr. Ellen sah ihn niederknieen, ein kleines, blankes Ding zog sich in seinen Händen meterlang aus, eins – zwei – voll waren die Reifen und die Ventilstöpsel wieder darauf.
Ehe Ellen noch danken konnte, wurde sie fortgeschoben. Gott mochte wissen, wo sie sich eigentlich befand, sie nicht. Es war ein grosses Bureau.
Fragen wurden gestellt, woher, wohin, ob sie verheirathet oder sonst schon einmal krank gewesen sei, ob sie auch lesen und schreiben könne.
»Haben Sie denn einen Waffenpass?«
»Nein, aber ich will eine Radfahrt um die Erde machen, und wenn ich ...«
» Allright, allright, go on! Next one.«
»Curt Starke, geboren zu Potsdam,« hörte die weitergeschobene Ellen hinter sich eine tiefe Stimme sagen.
»Was, sind Sie schon wieder hier? Machen Sie, dass Sie fortkommen.«
Mehr hörte Ellen nicht, und dann stand sie plötzlich mit ihrem Rade auf einer breiten, von Menschen und Fuhrwerken wimmelnden Strasse. Zunächst wäre sie bald überfahren worden, dann drohte ihr ein getragener Balken den Kopf einzustossen.
»Bitte, wo ist hier der Weg nach Trenton?« redete sie einen Mann an.
Dieser blieb gar nicht stehen, und sie hätte noch lange fragen können. Wer wusste hier etwas von einem Wege nach Trenton.
Da tauchte wieder der grosse, gelbe Mann auf mit dem gelben Hunde, den sie schon immer an Bord gesehen hatte.
»Folgen Sie mir immer, ich zeige Ihnen die Landstrasse nach San Francisco.«
Ellen hörte nicht den Witz heraus, sie empfand nur die Erleichterung, hier einen Wegekundigen zu haben; er mochte vorhin ihre Frage nach Trenton gehört haben, dort fuhr er schon; schnell schwang sie sich auf ihr Rad und fuhr ihm nach.
Sie wusste, dass dies jener Stout oder richtiger Starke war, der Weltumradler. Auch sie hatte oftmals vom ersten Promenadendeck aus den hünenhaften Mann bewundert, dessen enganliegender Lodenanzug den athletischen Gliederbau zeigte, und diese Ruhe, die er beim Gange, bei jeder Bewegung offenbarte, war wahrhaft majestätisch zu nennen. Gepanzert musste dieser Mann sein, sitzend auf gepanzertem Schlachtross, in der gepanzerten Faust das Schwert, welches unsere heutige Generation nicht mehr zu regieren vermag – es war die eherne Statue eines ausgestorbenen Geschlechtes.
Wollte er schon wieder eine abenteuerliche Fahrt antreten? Doch was ging es Ellen an. Ja, sie stand mit ihm allerdings in inniger Beziehung, sie wollte ja seinen Weg machen, wollte beweisen, dass sie, ein Weib, dasselbe in wenig mehr als die Hälfte der Zeit leisten könne, was jener kraftvolle Mann geleistet, aber sie kam gar nicht dazu, mit ihm auch nur ein Wort zu wechseln, nicht darum, weil er zweiter Cajüte fuhr, sondern weil sich ihre Bewunderung bald in Abneigung gegen diesen Mann verwandelt hatte.
Einmal hatte sie beobachtet, wie eine Dame den an Deck Promenirenden lächelnd und fächerwedelnd ansprach. Und was that dieser Mensch? Er liess sie einfach lächelnd und fächerwedelnd stehen, gab einfach gar keine Antwort. Ellen konnte ja auch stolz und reservirt sein, aber diese amerikanische Sitte, einen freundlich fragenden Menschen als Luft zu behandeln, weil es Einem eben gerade nicht passt, mit ihm zu sprechen, fand sie empörend.
Ein andermal wollte eine Dame dem schönen Hunde Zucker geben, und als er diesen nicht nahm, streichelte sie ihm wenigstens den Kopf.
»Lassen Sie doch meinen Hund in Ruhe!« rief der Kerl in barschestem Tone.
Da war es aus. Sie hasste den Grobian förmlich. Na, was sollte man auch von solch' einem Weltenbummler viel verlangen, ein ungebildeter, ungehobelter Geselle war's. Nein, sie hasste ihn nicht, jetzt war er Luft für sie.
In diesem Augenblicke, wie sie hinter ihm her fuhr, allerdings nicht. Da sorgte sie, dass sie ihn nicht aus den Augen verlor. Er schien doch wieder eine lange Radreise antreten zu wollen.
Auch er trug einen Tornister auf dem Rücken, nur viel umfangreicher als der ihre, hinten auf der sehr starken Maschine war noch ein grosses Pack angeschnürt; vorhin hatte sie gesehen, dass er am Gürtel zwei gewaltige Revolver in Futteralen hängen hatte. Die Landstrasse nach San Francisco wollte er ihr zeigen? Gut, sie benutzte ihn als Führer, bis sie aus der Stadt heraus war, dann, wenn sie den Weg allein wusste, blieb sie zurück oder sie jagte mit einem Worte des Dankes auf ihrem leichten Rade an ihm vorbei.
Dann drängte sich ihr mit Macht ein Gedanke auf: nun geht es los! Und mit einem Male hätte sie, schon hier zwischen Häusermauern im Strassengewühl, laut aufjubeln mögen. Nun geht es los! Geradeaus, immer geradeaus in die schöne Welt hinein! Es giebt keine Rückfahrt, keine Heimkehr mit der schmutzigen Eisenbahn! Immer geradeaus auf geflügeltem Stahlross!
Der zehn Schritt vorausfahrende Starke blickte sich einmal nach ihr um. Er wusste sehr geschickt stets den freiesten Weg zu nehmen. Und merkwürdig, der grosse, gelbe Hund hielt sich nie neben seinem Herrn, sondern immer dicht neben ihrem Rad.
Wagen und Menschen wurden spärlicher, Starke bog in eine breite, einsame Strasse ein und schlug auf dem Asphalt ein sehr flottes Tempo an. Die folgende Ellen bemerkte jetzt, dass er für seine grosse Maschine eine recht kleine Uebersetzung hatte, kleiner als die ihre, und dann wunderte sie sich, wie der Hund neben ihr bei dieser raschen Fahrt lief. Er jagte nicht in Sprüngen, sondern er trabte immer noch, warf die Vorderbeine einzeln hoch, es erinnerte ganz an den Lauf des mächtig ausgreifenden, englischen Wagentrabers. Diese Ruhe, wie der Hund gleich wie auf elastischen Sprungfedern vorwärts flog, ohne Hast, ohne Keuchen; das fiel ihr wirklich auf, es imponirte ihr.
Es kamen Gärten mit Villen, die Häuser wurden kleiner, dann wieder das rege Treiben einer Fabrikvorstadt mit dampfenden Schloten; hier roch es nach verbranntem Horn, dort nach parfümirterSeife, dann war der Duft kein Geruch mehr zu nennen, wieder eine ruhige Strasse, wieder Villengärten, die Häuser wurden immer ländlicher – und da eine Chaussee, eine richtige Landstrasse mit Aepfelbäumen, und da grünte in der lachenden Morgensonne das erste Feld!
Ellen hatte bedauert; dass der Antritt der Reise nicht in das Frühjahr fiel. Und nun war sie im September, dennoch plötzlich im Frühling! Dort sprang ja eben erst die Saat mit frischem Grün aus der Erde.
Es war die zweite Aussaat, welche noch in dem Nordamerika eigenthümlichen Nachsommer, dem sogenannten indianischen, zur Reife kommt; und jetzt war der Frühling dieses indianischen Sommers. Die Uhr der letzten Dorfkirche zeigte die neunte Morgenstunde. Jubilirend stieg eine Feldlerche auf.
Jetzt musste sich der gelbe Mann dort vorn verabschieden, damit sie ungestört mitjubiliren konnte.
Zuerst versuchte sie ihn zu überholen. Es gelang nicht. Er schien es zu merken, fuhr noch schneller. Nun, so fuhr sie einmal fünf Minuten langsam, dann war er verschwunden. Sie that es. Der Hund schoss an ihr vorüber, war mit drei Sätzen an seines Herrn Seite; und plötzlich fuhr dieser auch langsamer. Sie noch langsamer, er blickte sich um und that desgleichen.
Was sollte das? Nun vorwärts, vorbei an ihm! Und sie flog vorüber.
»Besten Dank, Mr. Starke.«
»Immer gerade aus, bis nach Newark sind es sieben englische Meilen.«
So, nun hatte sie ihn hinter sich. Richtig, nach Newark hätte sie fragen sollen, nicht nach Trenton. Rüstig trat sie in die Pedale, immer schneller, sie wollte ihn weit hinter sich bekommen. Er hatte sich ja jetzt recht freundlich gezeigt, aber sonst war sein Wesen so roh wie sein Gesicht roth.
Die Aepfel reiften. Im schnellen Vorbeifahren haschte sie einen rothwangigen, und wie sie ihn in der Hand hielt und schon zum Munde führen wollte, fiel ihr der Diebstahl ein. Vor ihr war ja Niemand, neben der Landstrasse lief der hohe Eisenbahndamm, aber hinter ihr? Sie wendete sich etwas im Sattel.
»Immer pflücken Sie ab, das ist hier erlaubt, wenn man nicht gerade mit dem Wagen einsammelt.«
Da war dieser Mensch schon wieder dicht hinter ihr! Er musste ihr überhaupt immer so nahe gefolgt sein. Sie fuhr langsamer – er kam nicht an ihr vorüber. Sie fuhr ganz, ganz langsam, blickte sich um – er fuhr auch ganz, ganz langsam. Sie fuhr schneller – er auch. Sie sprang ab – er kippte mit dem Rade um und pflückte einen Apfel ab. Jetzt war aber Ellen nicht mehr befangen.
»Was wünschen Sie eigentlich von mir, mein Herr?«
»Nichts.«
»Ja, was haben Sie eigentlich vor, mein Herr?«
»Ich beabsichtige jetzt diesen Apfel zu essen.«
»Sie wollen mir folgen.«
»Jawohl,« kam es mit unerschütterlichem Gleichmut aus kauendem Munde.
»Wissen Sie nicht, dass dies unanständig ist?«
»Nein.«
»Ich verbitte es mir aber!«
»Sie können es sich wohl verbitten, es mir aber nicht verbieten.«
Was sollte Ellen thun? Sie konnte nur die Stirn runzeln und dem Unverschämten drohende Blicke zuschleudern.
»Wie weit habe ich denn noch Ihre lästige Begleitung zu ertragen? Doch nicht bis nach Newark?«
»Vorläufig bis nach San Francisco.«
Eine Art von Erstarrung überkam Ellen.
»Bis – nach – San – Fran ...«
»... cisco. Allein kämen Sie überhaupt gar nicht hin.«
»Sie wollen mich begleiten?« fuhr sie auf. »Herr, das verbiete ich Ihnen!«
»Sie können es nicht. Diese Landstrasse steht mir so zur Verfügung, wie Ihnen. Halten Sie sich doch nicht auf, es nützt nichts, ich bleibe bei Ihnen.«
Von New-York her kam ein Schnellzug gebraust. Ein Mann stand am Coupéfenster, schien sich schnell zurückziehen zu wollen, blieb aber doch stehen, wedelte mit einem Taschentuche. Dann war der Zug wie ein Phantom vorüber.
Sir – Robin – Munro! Und plötzlich ging ihr eine fürchterliche Ahnung auf, als sie sich mit wahrhaft entgeisterten Augen an den sich gleichmüthig auf sein Rad stützenden Mann wendete.
»Hat Sie vielleicht ein Sir Robin Munro engagirt, mich zu begleiten?«
»Jawohl.«
Ellen wollte ihr Rad gegen den Apfelbaum lehnen, aber damit war das Rad nicht einverstanden, eigensinnig lief es in den Graben; sie liess es liegen, machte mit geballten Fäusten einen Gang über die Landstrasse. Als sie zurückkam, hatte er es aufgehoben und fest gegen den Stamm gelehnt.
»Das werden Sie nicht thun! Ich brauche Ihre Begleitung nicht!«
»Ich werde es doch thun.«
Ellen sah ein, dass mit Schreien gegen solchen kalten Gleichmuth nichts auszurichten war, sie bezwang sich, schlug einen ruhigeren Ton an.
»Mr. Starke, lassen Sie vernünftig mit sich reden. Ich halte Sie für einen Ehrenmann, und wenn ich Ihnen deshalb sage, dass ich diesen Baronet hasse ...«
»Ich denke, Sie sind seine Braut.«
Da war es schon wieder vorbei mit ihrer Ruhe.
»Was, das hat er gesagt?« rief sie ausser sich.
»Na, dann liebt er Sie wenigstens. Geben Sie sich keine Mühe, mich werden Sie nicht los.«
»Sie – Sie – sind mir ein Ekel,« ging jetzt Ellen zu Beleidigungen über.
»Mir ganz gleichgültig.«
»Sie sind ein Schurke!«
»Oh, oh, Miss! Erst nennen Sie mich einen Ehrenmann und nun einen Schurken. Sie werden inconsequent. Wer mich kennt, glaubt Ihnen das auch gar nicht. Und warum halten Sie mich denn für einen Schurken?«
»Sie sind von Sir Munro engagirt worden, mir Schwierigkeiten in den Weg zu legen; ich soll meine Wette verlieren, er will mich demüthigen!«
»Ganz im Gegentheil, werthe Miss. Ich werde mein Möglichstes thun, dass Sie gewinnen, und dafür bezahlt mich Sir Munro. Bitte, überlegen Sie sich die Sache doch ruhig. Dass Sie die Kraft und die Ausdauer haben, meine Strecke in 300 Tagen zurückzulegen, daran zweifele ich nicht. Aber Sie haben vergessen, dass ich mir diesen Weg erst gesucht habe, Sie vergessen, dass es schon hier in dem doch ziemlich cultivirten Nordamerika keine Landstrasse mit Wegweisern nach San Francisco giebt, und nun kommen Sie erst nach Asien. Sie werden wochenlang geradeaus fahren, plötzlich gebietet Ihnen eine Schlucht Halt, Sie müssen wochenlang zurückfahren, um auf den richtigen Weg zu kommen, und es ist vielleicht doch noch nicht der richtige. Jetzt aber weiss ich den Weg, ich werde Ihnen als Führer dienen, und Sie werden glänzend gewinnen, dennoch durch eigene Kraft, und gegen die Bedingungen geht meine Begleitung ja nicht, Sie wünschen mich nicht, das haben Sie mir deutlich genug gezeigt, ich aber lasse mich nicht abweisen, ich stehe in den bezahlten Diensten eines Anderen.«
Es waren ruhige, vernünftige Worte gewesen. Er hatte auch nicht, nun ihren Charakter kennend, von Beschützung und dergleichen gesprochen. Nur am Schlusse hatte er den guten Eindruck in etwas wieder verdorben.
Aber Ellen hatte ihn überhaupt gar nicht gehört, wollte nichts hören. Sie wurde ganz von dem Gedanken beherrscht, dieser ihr so unsympathische Mann solle ihr ständiger Gesellschafter werden. Und dann blitzte ihr ein rettender Gedanke auf; sie riss ein Checkbuch aus der Tasche.
»Wieviel zahlt Ihnen Sir Munro für Ihre Dienste?«
»Pro Tag drei Pfund Sterling inclusive Spesen. Doch schreiben Sie keinen Check aus, ich nehme ihn nicht an, ich bin unbestechlich.«
Diese Ruhe, die allein schon seine Stellung ausdrückte, sagte mehr als viele Worte. Hier war Alles vergeblich. Wüthend schob Ellen das Buch in die Tasche zurück und machte noch einen Gang über die Landstrasse. Dann blieb sie vor ihm stehen, die Hand am Revolverkolben.
»Ich möchte Sie niederschiessen!«
»Erstens dürfte Ihnen dies nicht gelingen. Zweitens, wenn es Ihnen gelänge, wären Sie eine Mörderin und würden jedenfalls gehenkt. Drittens aber würden Sie nicht gehenkt, denn in demselben Augenblick, wo Sie die Waffe gegen mich erheben, würde Ihnen dieser Hund die Kehle durchbeissen. Nun probiren Sie es – oder fahren Sie lieber weiter.«
Ellen fuhr herum, nahm das Rad vom Baume und sprang darauf.
»Bleiben Sie mir wenigstens aus den Augen, Sie – Sclavenseele.«
»Ueber meine Aufdringlichkeit werden Sie sich nie zu beklagen haben.«
Die Morgensonne lachte noch, die frische Saat grünte und die Lerche jubilirte noch ebenso – aber Alles nicht mehr für Ellen. Für sie war plötzlich Alles finster und todt geworden, die schöne Reise, auf welche sie sich während der letzten Tage wirklich gefreut hatte, sollte ihr also eine widerliche Fahrt werden, denn immer war ja dieser Kerl um sie und an alledem war Sir Munro schuld.
Wie sie, Thränen der Wehmuth in den Augen, zornig in die Pedale trat, das hatte wenigstens das Gute, dass sie schnell vorwärts kam, die ständige Steigung der Strasse merkte sie gar nicht.
Eine grosse Heerde Ochsen mit riesigen Hörnern wandelte des Weges einher. Vielleicht mochten sie noch keinen Radfahrer gesehen haben, vielleicht doch schon – jedenfalls fesselte diese Weltenradlerin ihr Interesse. Sie blieben stehen, brüllten, senkten die furchtbaren Hörner und blähten die Nüstern. Ellen's Herz stockte, sie trat langsamer. Ochsen sind immer Ochsen, sie können unangenehm werden, zumal, wenn sie solche Schraubenzieher am Kopfe haben.
»Frisch mittendurch, die Stiere thun uns nichts, sie weichen aus; folgen Sie dem Hunde!« rief es hinter ihr. Vor ihr trabte der gelbe Hund, und wirklich, achtungsvoll traten die intelligenten Ochsen zurück.
Als sie die vermeintliche Gefahr hinter sich hatte und der Hund wieder verschwunden war, überkam Ellen etwas wie Scham, die sie jedoch schnell in Aerger über sich selbst zu verwandeln wusste. Ochsen sollten sie nicht wieder bange machen.
Sie erreichte Newark, fuhr die Hauptstrasse immer geradeaus, bis sie an das leicht erkennbare Postgebäude kam. Hier wollte sie an den Champion-Club ein Telegramm absenden. Nun konnte sie dem Begleiter auch gleich beweisen, wie überflüssig er war. Auch Starke war abgestiegen, und anstatt ihr Rad unter seiner Aufsicht zu lassen, hing sie es sich über die Schulter, erklomm mit der Last die Steintreppe, trug es immer weiter, bis sie es in dem Telegraphenbureau an die Wand lehnte. Sie schrieb die Depesche, warf noch einen Blick nach der Maschine, trat an den von ziemlich viel Menschen umstandenen Schalter. Sie kam in's Gedränge, kam wieder heraus – weg war das Rad.
Noch einen erschrockenen Blick durch das Zimmer, dann wusste sie nicht, wie sie die Treppe hinabgekommen war. Unten stand Starke, ihr Rad haltend.
»Ich nahm es dem Burschen ab. Arretiren habe ich ihn nicht lassen, gab ihm ein Paar hinter die Ohren. Der verliebt sich sobald nicht wieder in ein fremdes Rad.«
Nur um ihre Schamröthe nicht merken zu lassen, schwang sich Ellen schnell anf ihre Maschine und jagte davon.
Ich hätte mir einfach eine andere gekauft, beruhigte sie sich wieder.
»Sie fahren ja zurück, Miss Howard,« erklang es da abermals.
Ach, was kann einem Culturmenschen, der den Instinct des Wilden verloren hat, doch nicht Alles passiren!
»Ich weiss es,« sagte sie trotzig, lenkte langsam um, fuhr einem Gentleman in den Rücken, ohne die Balance zu verlieren, und radelte nun erst recht mit fieberhafter Eile vorwärts. Die Hauptstrasse spaltete sich, sie fuhr geradeaus.
»Zurück und links ab, dort geht es direct nach dem Nordpol,« ertönte eine Stimme hinter ihr.
Was sollte sie thun? Nach dem Nordpol wollte sie nicht, sie müsste wohl oder übel umkehren, und sie beugte ihr schamgeröthetes Gesicht nur noch tiefer über die Lenkstange. Ueber ihre Empfindungen vergass sie auch ganz, dass sie irgendwo etwas hatte trinken wollen, und erst, als sie die Stadt schon weit hinter sich hatte und sie einen hübschen Ornamentbrunnen erblickte, der den Eingang eines Villenparkes schmückte, erinnerte sie sich des quälenden Durstes.
Sie stieg ab, zog den Gummibecher aus der Jackentasche, drückte den Knopf, spülte in dem Strahle der Wasserleitung den Becher aus und leerte ihn mehrere Male. Dann beschäftigte sie sich mit der Maschine, untersuchte die Kette, welche etwas zu knacken begann, und beobachtete dabei Starke. Dieser nahm den breitkrempigen Hut, ebenfalls von Leder, vom Kopf, wischte den Schweiss etwas mit dem Ellenbogen aus, liess ihn voll laufen und trank.
Das sah solche einem Bummler so recht ähnlich! Hätte er den schweissigen, staubigen Hut nicht wenigstens erst ausspülen können? Hierauf liess er den Hund aus dem Hute saufen und – wahrhaftig, er trank nochmals von demselben Wasser, in welches schon das Thier seine Nase gesteckt hatte!
Die prüde Engländerin schüttelte sich vor Grauen. Was wollte er nun wieder von ihr? Er trat auf sie zu, hielt etwas in der Hand, was ihr so bekannt vorkam; wortlos überreichte er es ihr ...
Auch das noch! Sie hatte ihre Brieftasche, Checkbuch und alles Papiergeld enthaltend, verloren gehabt!
Nur ein gemurmeltes »Danke«, dann weiter, immer weiter!
Schliesslich beruhigte sie sich. Es will eben Alles in der Welt gelernt sein, selbst eine Brieftasche einstecken. Der be- und erfahrene Radler, wenn er die Ausrüstung zur langtägigen Tour zusammenstellt, wird sich vielleicht lächelnd erinnern, wie unpraktisch er doch war, als er seine erste Landparthie antrat. Er hat sich seine Erfahrung wirklich erfahren. –
Obwohl die Gegend hin und wieder schon hier, wo es Ellen noch gar nicht vermuthet hätte, im cultivirtesten Theile dieses Erdtheils, recht an Prairie erinnerte, gute, chaussirte Wege führten doch immer durch. Solche meilenweite Prairiestrecken findet man aber auch noch in England genug, in der dichtesten Nähe von London. Nicht etwa Wiese, keine Weiden, sondern noch völlig jungfräuliches Land, noch von keinem Spaten berührt. Das hängt mit der ausgebreiteten Schafzucht zusammen.
Es war Mittag geworden. Sonnendurchbrannt machte Ellen in einem Städtchen mit nur einer Strasse Halt vor einem Gasthause, dessen reizendes Gärtchen mit seinen Weinlauben zur Rast einlud. Schon diese Weinlauben verriethen den deutschen Wirth.
Sie verwahrte das Rad, wusch sich und liess sich in einer Laube nieder. Starke that desgleichen in einer anderen. Sie verlangte Mittagsessen, oder richtiger ihren »Lunch«. »Beefsteak mit irgend welchem Gemüse,« bestellte sie, nichts weiter. Sie hattet vorhin geglaubt, Hunger zu haben, aber die Nähe dieses Menschen verbitterte ihr selbst das Essen.
Unterdessen studirte Ellen die Karte des Staates New-York. 23 Meilen war sie schon von der Küste entfernt, und wenn sie jetzt zur Zeit der Sonnengluth bis um 4 Uhr ruhte, konnte sie heute noch 20 bis 30 Meilen machen. Von morgen an begann das Tagewerk immer noch vor Sonnenaufgang.
Hier dürfte ein Sachverständiger kopfschüttelnd fragen, wie es möglich ist, dass Jemand, der ein Vierteljahr lang auf keinem Radsattel mehr gesessen hat, am ersten Tage 12 deutsche Meilen machen kann und am nächsten Tage noch vor Sonnenaufgang weiter will.
Ellen hatte die letzten Stunden ihres Aufenthalts in England auszunützen verstanden. Am 1. September früh um 9 Uhr musste sie in Liverpool an Bord sein. Kurz vorher traf dort der Londoner Schnellzug ein. Am Abend zuvor schickte sie ihr weniges Gepäck, von dem das schnell gefertigte Herrenkostüm die Hauptsache bildete, nach Liverpool, nahm Abschied vom Champion-Club, nur eine Freundin, eine enragirte Radlerin, begleitete sie. Sie benutzten den Personenzug; in Stote verliessen sie ihn Nachts um 3 Uhr, etwa 12 deutsche Meilen noch von Liverpool entfernt; es war schön und windstill, und nun stellte sich Ellen die Aufgabe, bis um 8 Uhr per Rad dort zu sein. Die Freundin diente als Schrittmacherin. Hielt sie nicht aus, so musste sie nur eine Hauptstation erreichen, um den Morgenschnellzug benutzen zu können. Aber es gelang, noch vor 8 Uhr war sie am Quai von Liverpool, freilich in welcher Verfassung! Sie fiel vom Rad, sie kroch über die Landungstreppe; drei Tage lang konnte sie weder gehen noch stehen, an Sitzen gar nicht zu denken, beim Liegen hatte sie die wenigsten Schmerzen; so machte sie auch die Seekrankheit durch, dann erholte sie sich – und nun war sie wieder sattelfest.
Das Essen kam. Zunächst erschrak Ellen vor dem ungeheuren Beefsteak, dann Kartoffeln, Cabbage, Blumenkohl und Spargel, dazu zweierlei Compots und Salate; zum Schluss, aber gleich mit auf den Tisch gestellt, verschiedenes Obst und einen appetitlichen Pudding. Ja, essen thut man in Nordamerika nicht schlecht.
Es ist zwar in Amerika Sitte, das Getränk gleich beim Empfang zu bezahlen, doch nicht das Essen. Der biedere Wirth musste wohl schon zechprellende Radler kennen gelernt haben, dass er gleich die Rechnung beglichen haben wollte. Ellen glaubte nicht recht gehört zu haben. Das sind 2 Mark, aber in Amerika bedeuten sie doch nur 50 Pfennige.
Und dennoch war dieser deutsche Wirth gar nicht so billig. Um die Lebenspreise richtig kennen zu lernen, orientirt man sich am besten unter kleinen Verhältnissen mit dem grössten Consum. In einem Boardinghouse, d. i. eine Arbeiterherberge im Centrum New-Yorks gelegen, kostet die volle Pension pro Tag einen Dollar, und dafür erhält man zum Frühstück Kaffee, Thee, frisch gebratenes Beefsteak, Eier, Schinken, Brot, Butter und verschiedenen Kuchen, Alles, so viel man mag; zum Mittag drei bis vier Gänge, darunter Fisch und Geflügel, alle Gemüse der Saison, Spargel und Artischocken, Früchte, Käse, mehrere süsse Speisen, und nicht etwa zur Auswahl, Alles steht auf dem Tische, immer frische Schüsseln kommen; am Abend noch einmal dasselbe, aber frisch, andere Sachen; wer Nachmittags Zeit hat, erhält Thee oder Kaffee mit Kuchen. Nur das Schlafen ist elend, kasernenähnlich.
Solch eine Mittagsmahlzeit nennt man table d'hôte und sie kostet in einer Restauration Deutschlands 4 – 5 Mark. Ein amerikanischer Arbeiter im schmutzigen Kittel stochert mit verdriesslichen Gesicht darin herum, und wenn einmal die Butter nicht rechtzeitig auf Eis gesetzt worden ist, so heisst es: kommt, wir gehen anderswohin.
Fleisch, Frucht, Gemüse kostet in Nordamerika ja fast gar nichts. Aber der Ochsentreiber will wie der Kirschenpflücker für sein Talent bezahlt sein, dann der Fleischer, der Kellner und nun erst der Koch! Wenn die Wandertauben kommen, kostet ein zartes Paar auf dem New-Yorker Markte einen Cent – vier Pfennige – und auf der Speisekarte im Hôtel am Broadway stehen sie mit einem Dollar, denn der Koch lässt sich sein Genie mit Geld bezahlen, der Wirth will auch etwas verdienen.
Je weiter man sich nun von der Stadt entfernt, desto billiger wird es, bis zuletzt Alles gar nichts mehr kostet, weil man sich freut, einen Gast bewirthen zu können.
Das mit der Essenverbitterung war von Ellen doch nur Einbildung gewesen, sie ass, was sie früher nie für möglich gehalten hätte, dieses ungeheure Beefsteak auf und dann – sie begann sich vor sich selbst zu fürchten –noch ein zweites, wofür sie natürlich noch einen halben Dollar zu bezahlen hatte. Dass freilich das Fläschchen Limonade auch einen halben Dollar kostete, das war eigentlich unverschämt. Starke arbeitete sein viergängiges table d'hôte ab, trank eine Flasche Wein dazu, und für alles dies zusammen wurde auch nur ein halber Dollar verlangt.
Sie hatte erst ihr Rad nachsehen wollen, fühlte sich aber doch recht müde. Ja, die Hängematte dort zwischen den Bäumen dürfe sie gern benutzen. Bald schwebte Ellen unter Baumesschatten in einem tiefen Schlafe.
Ein Schuss weckte sie. Starke hatte mit dem Revolver nach irgend einem Ziele geschossen. Merkwürdig, gerade um 4 Uhr, da sie fortfahren wollte, und ohne diesen Schuss hätte sie es verschlafen, wahrscheinlich bis morgen früh.
»Bitte, Miss, 50 Cents für die Hängematte,« sagte der Wirth, als sie von ihm das Rad forderte.
Der lernbegierige Deutsche war schon ganz ein braver Yankee geworden.
Das Rad stand im Schuppen, blitzblank geputzt, geölt.
»Wer hat mein Rad geputzt?«
»Ich. 50 Cents, für das Räderputzen, bitte.«
»Geben Sie es ihm nicht,« liess sich Starke vernehmen. »Ich habe es ja gethan.«
»Ah so. I beg your pardon. Richtig, dieser Gentleman war es.«
»Was kostet denn mein Revolverschuss vorhin?« spottete Starke, wenn auch in seiner gleichmüthigen Weise, dass man es für eine ernste Frage nehmen konnte.
Der Wirth blinzelte ihm nur pfiffig mit einem Auge zu, dann fuhr Ellen ab, ihr nach Starke.
Noch einige Städtchen und Ansiedlungen, manchmal schon recht hinterwäldlerisch aussehend, dazwischen Felder, Wiesen und jene prairienähnlichen Weiden mit viel Vieh, ein grosser Wald, für ein Londoner Kind schon ein undurchdringlicher Urwald, aber immer guter Weg; auf der Landstrasse Viehheerden, Wagen, Reiter und Fussgänger, ab und zu auch ein Radfahrer, einmal gleich fünf Automobile hintereinander; einmal eine Rast in einem idyllischen Farmhause, in welchem man Milch, Maiskuchen und die köstlichen Aepfel durchaus nicht bezahlt haben wollte, und mit der untergehenden Sonne sah sich Ellen nach einem Nachtquartier um.
Sie hatte wirklich fast noch 30 Meilen gemacht, heute im Ganzen 50, und das in aller Bequemlichkeit. Allerdings unter den günstigsten Bedingungen, am Nachmittage hatte sich der Weg immer gesenkt. Aber dafür war es auch der erste Tag, ihre Leistungsfähigkeit würde sicher zunehmen. So sagte sie sich.
An einem Kreuzwege stand ein Gasthaus, etwas armselig aussehend, nur eine Schänke für Viehtreiber. Ach was, Hôtels gab es in England genug, sie brauchte nur ein Bett, nur ein Brett; sie musste sich doch daran gewöhnen.
»Bis nach Shrywell, einer ansehnlichen Stadt, sind nur noch 2 Meilen.«
Nun natürlich erst recht hinein!
Der grosse, von einer Hängelampe erleuchtete Raum diente gleichzeitig als Wohnstube, als Schankzimmer und als Küche, vielleicht auch noch zum Schlafen für die Familie. Hinter der mit Flaschen und Gläsern besetzten Bar hantirte der Wirth; die unsauber aussehende Frau schälte Kartoffeln und schimpfte über die um sie herumspielenden Kinder; vor dem offenen Heerdfeuer, über dem einige Kessel hingen, sassen vier Männer, die Füsse auf dem Ofensims, und spuckten abwechselnd unter die Töpfe in's Feuer. Es mochten Ochsen- oder Schweinetreiber sein, verwitterte Gestalten, auch ihre Kleider mehr verwittert als zerlumpt. Mit einem Grusse trat Ellen, ihr Rad durch die Thüre zwängend, ein, ihr nach Starke. Einen Augenblick aufmerksamer Musterung, die vier Männer hörten auf, zu spucken, wendeten die Köpfe; dann wurde tactmässig weiter gespuckt. Es waren Amerikaner, deshalb mokirten sie sich nicht, selbst wenn sie noch keine Dame im Herrenkostüm gesehen hätten, besonders darum nicht, weil es eben eine Lady war.
Ellen fragte den Wirth, ob sie ein gutes Zimmer und Abendbrot bekommen könne.
»Sind Sie englisch, Missis?« meinte Jener, in ihrer Sprache die NasalIaute der Yankees vermissend. »Ich bin's auch, halte mir noch den Londoner Morning Leader. Ja, ein Zimmer können Sie bekommen, haben schon einmal so ein paar drin geschlafen, die auf solchen Dingern gefahren kamen.«
»Natürlich für mich allein, ich kenne diesen Mann gar nicht!«
»So, so. Können Sie auch haben, ein feines Zimmer. Gekochtes Hammel- und Rindfleisch giebt es. Alte, bediene die Lady.«
Auf ihren Wunsch, sich zu waschen, wurde ihr in dieser Stube ein Pferdeeimer mit Wasser auf eine Bank gesetzt – draussen war es ja schon dunkel –, ein Stück Seife und ein wenigstens sauberes Handtuch daneben gelegt, auf welchem mit grossen Buchstaben gedruckt stand: gestohlen aus Jefferkins Boardinghouse.
Es ging wirklich schon recht hinterwäldlerisch zu, mitten im Staate New-York, und Ellen erfasste diese Romantik; lächelnd half sie sich, wie sie konnte. Gestern und heute, welch ein Unterschied! Denn sie übersprang im Geiste die ganze Seereise, sie durfte es thun, und von welchem Luxus und von welchen Bequemlichkeiten war sie da noch umgeben gewesen. Miss Howard wusch sich im Pferdeeimer, trocknete sich mit einem gestohlenen Handtuch ab, in solcher Gesellschaft – sie musste ein lautes Auflachen unterdrücken. Ja, es war wirklich herrlich. Einer der spuckenden Männer hob die Beine noch höher, um die Frau nach den Töpfen durchkriechen zu lassen, bald standen vor Ellen auf dem Holztisch zwei Teller, auf jedem ein Berg dampfendes Fleisch – so, Vogel, nun friss oder stirb. Alles sah so unappetitlich aus wie die Teller schmutzig waren, wie Messer und Gabel, wie der Tisch, wie die Frau.
Aber Ellen wollte nun einmal mitmachen, sie wollte sich auf Künftiges vorbereiten; wer wusste, was sie noch vorgesetzt bekam, und der Wille bezwingt Alles. Mit diesem Entschlusse langte sie zu, und dann wunderte sie sich doch selbst, wie ihr das so gut schmecken konnte, und zugleich freute sie sich. Als Starke, welcher sich einige Zeit entfernt hatte, wieder eintrat, hielt er ein frisch geschlachtetes, aber schon gerupftes Huhn in der Hand. Zuerst blickte er aufmerksam nach ihrem Tische, und wenn er auch nicht den Kopf schüttelte, Ellen glaubte es doch zu sehen. Dann traf er Vorbereitungen zu seiner Abendmahlzeit, er schien selbst kochen zu wollen, wusch auch noch ein rohes Stück Fleisch ab, scheuerte eine Pfanne aus, roch an der Butter.
»Macht Platz, Gentlemen, ich will mein Fleisch braten.«
Der Eine nahm die Stiefel vom Sims und rückte zur Seite, dass er an's Feuer konnte. Die Butter begann zu prasseln.
»Nun hört gefälligst auf zu spucken, wenn ich koche.«
Ein Murmeln entstand; sie meinten, das thäte doch dem Essen nichts schaden, wenn sie in's Feuer spuckten, in die Töpfe spuckten sie doch nicht.
»Ich liebe es aber nicht, wenn man mir unter die Töpfe spuckt!«
War bei dieser Beschreibung der Bissen in Ellen's Munde gequollen, so sah sie jetzt angstvoll nach den wilden, vom Feuer gerötheten Gestalten, welche ebenfalls das Revolverfutteral am Gürtel hatten. Hoch aufgerichtet stand Starke vor ihnen, mit dem Haupte fast die Decke berührend, und wenn er jetzt auch noch statt des Revolvers die prosaische Bratpfanne in der Hand hielt – Ellen ahnte, was kommen musste, sie hatte schon genug solche wilde Scenen gelesen, sie hörte schon die Revolverschüsse krachen.
Ellen hatte falsch geahnt. Die vier Männer standen einfach auf und setzten sich anderswo hin. Jetzt griff Starke in die Tasche und warf einen Silberdollar auf den Tisch.
»Einen drink für die Gentlemen.«
Wie ein Alp fiel es von Ellen's Brust. Sie beobachtete scharf und dachte gern über ihre Beobachtungen nach. Wenn er dies gleich gethan, hätte er klüger gehandelt; dass er aber erst nachträglich für die Männer ein Getränk bestellte, als er sein Ziel schon erreicht, das war entschieden männlicher.
Der Wirth bekam eine complicirte Aufgabe zu lösen. Der Eine verlangte Whisky mit wenig Wasser und viel Zucker, der Andere Brandy mit gar kein Wasser und wenig Zucker, der Dritte Gin und Pfeffermünz, der Vierte bestellte einen cock-tail und rührte die vielerlei Ingredienzien mit einem Eifer zusammen, wie der Alchimist die Substanzen zum Steine des Weisen. Starke trank Rum.
»Auf Ihre Gesundheit, Miss,« sagte er.
Mit einem Ruck fuhr Alles herum und hob ehrerbietig das Glas.
» Good luck, Miss.«
Ellen wäre kein Weib gewesen, wenn sie nicht erröthend und freundlich lächelnd gedankt hätte, und kein gebildetes, wenn sie nicht die ihr widerfahrene Ehre, oder den eigentlichen Kern der Huldigung, verstanden hätte. In diesem Augenblicke, als sie mit einem Glückwunsch das Glas gegen die fremde Dame erhoben, waren diese zerlumpten, rohen, wüsten Gesellen wirkliche Gentlemen, vornehm, stolz, und doch ehrerbietig. Es imponirte, das war amerikanisch, so etwas findet man bei keinem anderen Volke.
Starke wusch einen Teller ab und ass statt des ausgekochten und dennoch harten Fleisches Hammelcotelettes, Lendensteaks und ein junges Huhn. Ja, er verstand auf seinen Wanderungen doch zu leben, Ellen konnte noch viel von ihm lernen. Merkwürdig war nur, dass er jetzt so eigen mit der Sauberkeit war, während er heute Morgen nicht einmal den schweissigen Hut ausgespült, überhaupt gethan hatte, als sei jeder Wassertropfen Gold.
Der Wirth brannte ein dickes Wachslicht an und führte die danach Begehrende hinauf, ihr Rad tragend. Das »feine« Zimmer war eine elende Kammer, nichts weiter als ein mit Wolldecken belegtes Bett und einen alten Holztisch enthaltend, nicht einmal einen Stuhl. Aber ein Schlüssel war vorhanden.
Das Licht wurde auf den Tisch geklebt, und der Wirth schickte sich zum Gehen an.
»Sonst noch etwas? Wasser ist unten im Hofe. Wenn Sie frühzeitig abfahren wollen, wie die damals auch thaten – das Haus ist immer offen, die Hunde wachen, lassen Jeden hinaus, aber keinen herein. In einer halben Stunde bringt Jim den Morning Leader, wenn Sie ihn lesen wollen.«
Ellen bat darum und sie war allein. Erst putzte und ölte sie die Maschine, dann setzte sie sich auf das Bett, sann eine Weile vor sich hin und plötzlich begann sie zu weinen. Es war Heimweh. Nicht die nackte Kammer, nicht das erbärmliche Bett, es war eben Heimweh, sie sehnte sich nach ihrem Club, nach ihrer Zofe, nach Londons erleuchteten Strassen, sie kam sich so allein vor.
Lange währte dieser Gefühlsausbruch freilich nicht. Aergerlich über sich selbst lachend, wischte sie die Thränen aus den Augen. Vorwärts, um die Erde, morgen schien die Sonne wieder, und wenn es regnete, wurde einfach im Regen geradelt, und um am Tage Kraft zu haben, muss man des Nachts schlafen, was brauchte sie die englische Zeitung!
Sie schloss die Thüre ab und begann sich zu entkleiden. Da kam Starke, sie erkannte ihn schon am Schritt. Jetzt setzte er das Rad nieder. Ah, er schlief hier in der Kammer neben ihr. Halbangekleidet blieb Ellen auf dem Bette sitzen und lauschte, während ihr die Gedanken durch den Kopf jagten.
Er rumorte drüben, als habe er viele Möbel zum Umräumen. Dann wurde es still. Flötentöne. Ein Läufer, ein Triller, eine Fuge, sehr fingergewandt und rein, ein Volkslied, dann ging es in ein Stück über, welches Ellen doch – – richtig, am Beethoven-Abend in der Exceterhalle hatte sie es gehört. Wie kam denn dieser ungebildete Mensch dazu, dieses klagende Adagio von Beethoven auf der Flöte zu spielen, noch dazu in solch' schmelzenden Tönen?
Dann wurde es wieder still. Dafür ein neuer Schritt; der auf seine englische Zeitung an der Landstrasse ungemein stolze Wirth fragte, ob sie den Morning Leader haben wolle, und nun nahm ihn Ellen doch, liess sich das Papier durch die Thürspalte zustecken.
Die dicke Wachskerze brannte hell und sehr langsam.
Der »Morning Leader« ist ein Sensationsblatt ersten Ranges. Am liebsten ist es der Redaction, wenn jeden Tag ein Raubmord passirt und eine Pulverfabrik explodirt, und in jeder Feuilleton-Nummer wird Jemand lebendig begraben, wenn man ihn nicht zu Tode martert.
Es war die Nummer vom 1. September. Ein Raubmord fehlte, aber dafür fett gedruckt »Eine sensationelle Wette.«
Ellen las über ihre eigene Angelegenheit, im blüthenreichen Reporterstil abgefasst, und der Berichterstatter wusste Alles, als ob er selbst damals im Champion-Club zugegen gewesen sei, und dabei war nichts Wunderbares: die Züngelchen der Champion-Damen würden schon dafür gesorgt haben, dass die neueste Neuigkeit schnell unter das Publicum kam. Auch sonst wusste der Schreiber Alles – solch ein englischer Reporter ist ja überhaupt allwissend – sogar, in welchem Frisirsalon sie sich das Haar hatte kürzen lassen, um wieviel Decimeter und Millimeter – und da, richtig, da war natürlich auch ihr Bild. Sie sah schrecklich verwegen aus, sogar eine Elephantenbüchse hatte sie über der Schulter.
Die Leserin lächelte. Recht so, nach 300 Tagen sollte man sich noch viel mehr mit ihr beschäftigen. Dann aber erweiterten sich ihre Augen.
»Gleichzeitig hat Sir Robin Munro mit Lord Wood, dem bekannten Sportsman, eine andere Wette abgeschlossen, welche eng mit jener zusammenhängt. Sir Munro, obgleich ein grundsätzlicher Gegner alles Radfahrens, ist verlobt mit Miss Howard. Als es ihm nicht durch fussfällige Bitten und Thränen gelang, das zarte Mädchen von dem gefährlichen Wagestück abzuhalten, erhob er sich mit stolzer Manneswürde und erklärte seiner Braut, so werde er selbst sie begleiten, natürlich zu Pferd, denn noch nie hat Sir Munro ein Rad bestiegen, er wolle sie schützen gegen jegliche Gefahr, sie durch Feuer und Wasser tragen, und wenn sie ohnmächtig von der Maschine stürze, so wolle er sie auffangen und fragen, ob sie nun seine gehorsame, ihn liebende Gattin werden möge. Darauf eilte er hinweg, der Bitten seiner Braut, dies doch nicht zu thun, nicht achtend. Er traf seinen Freund Lord Wood, und diesem theilte er seine feste Absicht mit, zugleich hinzufügend, dass es Miss Howard, ein schwaches Mädchen, doch nicht einmal bis nach San Francisco aushielte. Lord Wood denkt anders über das schwache Geschlecht, insbesondere über Miss Howard. Hieraus entsprang die Wette, welche um nicht weniger als 60 000 Pfund Sterling geht. Lord Wood sagt: Miss Howard erfüllt ihre Bedingungen; und Sir Munro behauptet: sie kommt nicht einmal bis nach San Francisco, sie wird nie mehr radfahren, und ausserdem soll sie innerhalb von 100 Tagen, von heute an gerechnet, meine Frau sein ...«
Mit einem unterdrückten Schrei schleuderte Ellen das zusammengeballte Blatt an den Boden.
»Das mir, das mir!« keuchte sie, aufspringend. »Oh, dieser Elende! So will er mich demüthigen!«
Sofort wusste sie, was sie zu thun hatte; hastig kleidete sie sich wieder an, hob die Zeitung auf und öffnete die Thür. Sie musste etwas Schweres zurückschieben, das aber gleich von selbst wich. Es war der Hund gewesen, der vor ihrer Thür gelegen hatte. Sie klopfte an der benachbarten Kammer an.
»Mr. Starke, sind Sie noch wach?«
»Come in.«
Die Thür war nicht verschlossen. Er hatte alle Betten aus dem Holzgestelle geworfen, lag auf der Pritsche, statt des Kopfkissens seinen Tornister, war vollständig angezogen, Stiefel an, selbst den Hut noch auf dem Kopfe, rauchte und las in einem dünnen, abgegriffenen Büchelchen im Schein seiner Wachskerze.
»Was wünschen Sie?« fragte er, ohne aufzustehen, ohne seine Lage zu verändern.
»Hier, lesen Sie das!«
Er legte das Buch auf den Tisch und nahm die Zeitung.
Für fünf Minuten war Ellen beschäftigungslos. Sie sah auf dem Tische eine kleine, hölzerne, ganz einfache Holzpfeife liegen, und obgleich ihre aufgeregten Gedanken mit etwas ganz Anderem beschäftigt waren, wunderte sie sich doch in diesem Augenblicke, wie er diesem simplen Instrumente solche weiche Töne entlocken, mit ihm solche künstliche Melodien spielen könne. Und was las er? Das Titelblatt lag aufgeschlagen. Ellen traute ihren Augen nicht. Es war eine französische Ausgabe von Larochefoucauld's Reflexionen und Maximen!
So berühmt dieses Buch des philosophischen Herzogs auch ist, Ellen hatte es doch nur einmal zufällig in die Hände bekommen. Und die bitteren Betrachtungen über das Leben unter Ludwig XIII. und XIV. bildeten die Abendlectüre dieses Menschen? Sie sah auf der Innenseite des Einbandes etwas Geschriebenes stehen; sie beugte sich herab, es zu lesen: Seinem Freunde Gurt Starke zur Erinnerung, Paris, im Februar 1889 – Alexandre, Vicomte de Larochefoucauld.
»Mumpitz,« sagte Starke, und sie dachte nicht mehr an diese Widmung.
»Wie meinen Sie?«
»Das heisst auf englisch: nonsense. Das riecht nach englischem Zeitungsklatsch.«
»Sie glauben nicht daran? Aber ich! Ich halte Sir Munro für fähig, mich so im Schmutze herum zu ziehen. Solch eine Gemeinheit!«
»Nicht so schnell. Man soll keinen Menschen verurtheilen, ohne ihn erst gehört zu haben, Jeder muss sich vertheidigen können. In Indianopolis treffen wir uns wieder, und ich werde ihn fragen, ob dies auf Wahrheit beruht oder nicht. Wenn es der Fall ist, stehe ich nicht mehr in seinen Diensten.«
Ellen stutzte. Deshalb war sie ja eben gekommen. Doch konnte sie ihn auch nicht recht verstanden haben.
»Dann würden Sie mich nicht mehr begleiten?« fragte sie mit leisem Staunen.
»Dann stände ich nicht mehr in seinen Diensten. Ich glaubte mich von einem Ehrenmanne engagirt, und wenn er wirklich diese Wette hinter meinem Rücken abgeschlossen hat, so ist er ein Lump, und einem Lumpen diene ich nicht.«
Ellen bekam doch etwas Hochachtung vor diesem Mann und seinen Kraftausdrücken. Ausserdem aber sah sie sich schon von dem ihr so unliebsamen Begleiter befreit, und wenn selbst nur unliebsam deshalb, weil er ihren Ruhm schmälerte.
»Ich zweifle nicht im geringsten, dass er es gethan hat, er liess mir gegenüber thatsächlich ganz dieselben Worte fallen. Wann werden wir in Indianopolis sein?«
»In 12 – 13 Tagen, wenn Sie so weiterfahren. Ich will 15 bis 16 rechnen.«
»Wir können telegraphisch anfragen ...«
»Nicht telegraphisch, nicht brieflich. Ich muss ihm in's Auge sehen, wenn ich ihn frage, dann weiss ich, ob er die Wahrheit spricht oder nicht.«
»Also nochmals: wenn dieser Bericht den Thatsachen entspricht, so werden Sie mich verlassen?«
»Ja, wenn Sie es fordern.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Starke.« Sie nahm die Zeitung wieder mit.
Drüben las sie den Bericht noch einmal; erst jetzt brach die bittere Empfindung bei ihr durch, und diesmal waren es keine Thränen des Heimwehs, sondern solche des Jammers. Sie liebte ihn – oder sie hatte ihn doch geliebt, und unter Thränen schlief sie endlich ein.
Mitten in der Nacht erwachte sie. Der Mondschein hatte durch das unverhüllte Fenster ihr Gesicht getroffen, und dieser weckte sie immer. Ihre Uhr zeigte einhalb Drei. Einen Blick zum Fenster hinaus – klarer Himmel, Vollmond, anscheinend windstill. Schnell hatte das thatkräftige Mädchen seinen Entschluss gefasst. Jener Mann dort drüben sollte merken, dass sie ihn nicht brauchte, dass er ihr überhaupt gar nicht folgen konnte, wenn sie nicht wollte. Seine gelassene Ruhe, wie er gestern Morgen behauptete, er würde sie begleiten, ob sie nun wolle oder nicht, steckte ihr doch noch recht in den Gliedern, und diese Glieder waren auch recht steif; aber es würde gehen, es musste gehen, er sollte sie nicht einholen! Nur heimlich entfernen musste sie sich.
Also leise, ganz leise angekleidet, nicht einmal Licht gemacht, der Mond leuchtete hell genug, sie zog auch noch nicht die Stiefel an; nun zunächst die Thür geöffnet – aber oh weh, seinen Hund hatte sie ganz vergessen, den sie jetzt zurückschob.
Doch dieser schien sich nicht um die nächtliche Ausreisserin zu kümmern, lag wohl nur zufällig gerade vor der Thür. Er stand auf und rollte sich neben der Thür seines Herrn gleich wieder zusammen.
Jetzt das Rad über die Schulter genommen, auf dem Gange ein Streichholz angebrannt, geräuschlos schlich sie die Treppe hinab, geräuschlos öffnete sie die Hausthür, sie stand im Freien. Nun noch schnell die Stiefel angeschnürt und dann hinauf auf's Rad und losgetreten! Die Petroleumlampe brauchte sie nicht, es war tageshell; verfahren konnte sie sich nicht, hier gab es nur noch directe Hauptstrassen.
So, wenn dann die Sonne aufging, konnte sie ihr ungestört entgegenjubeln, und nun sollte er sie wieder einzuholen versuchen! Sie jubelte schon jetzt, weit genug entfernt war sie bereits.
Sie jauchzte nochmals auf, sie fühlte sich so leicht, so frei, gar nicht mehr so beengt ...
» Good morning, Miss!« sagte es da dicht hinter ihr. »Sie haben Ihren Gürtel mit dem Revolver und der Patronentasche liegen lassen.«
Beinahe wäre Ellen vor Schreck vom Rade gefallen.
Im Lady-Champion-Club war »kleiner Abend«. Die Erste, welche ihre Garderobe abgab, war Judith; dann kam als Zweite die tolle Lady Oliva Hobwell.
Judith konnte sonst dieses verrückte Weib mit ihrem verrückten Benehmen und haarsträubenden Redensarten um den Tod nicht leiden, heute eilte sie ihr gleich entgegen,
»Wissen Sie schon? Es ist Thatsache, Sir Munro hat jenen Curt Starke engagirt, Miss Howard zu begleiten. Hiergegen lege ich ...!«
»Sie legen gar nichts, weder Eier noch Proteste,« unterbrach sie die tolle Lady, während sie die Handschuhe von den diamantengepanzerten Fingern streifte. »Sonst mache ich Sie herunter, dass kein Hund ein Stückchen Brot mehr von Ihnen nimmt.«
»Waas?« hauchte Judith erbleichend. Das war toller als toll.
»Lassen Sie mich ausreden. Mir ist es ganz gleichgültig, ob Ellen diese alberne Wette gewinnt oder verliert, aber wenn Sie etwas dagegen einzuwenden haben, dass dieser Curt Starke die Ellen begleitet, so werde ich etwas von Ihnen erzählen. Ich war nämlich heute Morgen auf der Redaction der »Chronicle Post«. Dieses Schundblatt hatte ohne meine Erlaubniss mein Bild gebracht. Da hörte ich im Nebenzimmer eine Unterhaltung ... Sehen Sie? Trotz Ihrer dunkelen Couleur werden Sie weisser als ein Schneeball. Gut, Sie wissen also, was ich meine. So lassen Sie sich nur noch Eines sagen und Sie werden mir kein Wort erwidern: Sie sind ein ganz miserabeles Frauenzimmer. Pfui Deibel!!«
Und die tolle Lady warf die knisternde Seidenschleppe über den Arm, dass man ihre spitzenbesetzten Beinkleider trotz deren Kürze sah, und liess Judith stehen.
Es kamen hier manchmal wuchtige Scenen vor, besonders wenn sich die Champion-Damen in die Haare geriethen, aber solche starke Worte waren doch noch nicht gefallen.
Es war noch nicht Alles: Zwei andere Damen traten ein, freudestrahlend hüpfte die tolle Lady auf sie zu.
»Wissen Sie schon? Zu übermorgen hat Lady Judith uns alle zum Souper in ihre Wohnung, eingeladen. Und extra für mich will sie selber die Schlagsahne peitschen, das könnte sie grossartig. Nicht wahr, liebste Judith?«
»Wenn es den Damen angenehm ist,« lächelte Judith höflich.
Da war die Lady Oliva schon wieder bei ihr, klopfte ihr hinten auf die Schulter und blickte ihr ebenfalls lächelnd in's Gesicht.
»Aber recht steif schlagen, liebste Judith, nicht wahr? Sonst frisst mein Mops sie nicht.«