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«Ist Miss Ellen Howard zu sprechen? Dann bitte diese Karte abgeben.«
Mit Kennerblick musterte die Zofe den jungen Herrn. Dunkle Beinkleider bei der Hitze? Das hübsche Gesicht mit dem flotten Bärtchen war doch für gewöhnlich sicher nicht so feierlich wie jetzt? Und seit wann nennt man denn den Vornamen, wenn man einer Dame einen Besuch abstattet? Entweder war's ein Crimineller, die Gnädige hatte wieder einmal etwas auf dem Kerbholze, obgleich sie doch gar nicht mehr Rad fuhr – oder er wollte sie heirathen.
Der verdächtige Mann stand im Empfangssalon vor einem Gemälde und schlug mit dem Cylinder auf seinem eigenen Rücken den Tact zu dem Concert, welches »Die beiden Musikanten« machten.
Sir Robin Munro war der zweite Sohn eines Lords, führte daher nur den Titel Baronet mit einem »right honorable«, hatte keinen Sitz im Parlament, dagegen, als einziges Kind aus zweiter Ehe, eine sehr reiche Mutter gehabt, und so konnte er unabhängig Zinsen verzehren, die sein Stiefbruder, der Lord im Oberhause, nicht besass. Auch stand auf seinen gewöhnlichen Visitenkarten einfach »Robin Munro«, nichts weiter. Viele, die mit ihm schon jahrelang verkehrten, wussten nicht einmal, dass er mit jener gräflichen Familie auch nur verwandt sei, und aus alledem lässt sich schliessen, dass der junge Mann Verstand genug besass, um sich aus seiner Freiheit und seinem Gelde ein recht hübsches Leben zusammenzuzimmern. Anstatt die kostbare Zeit in tausend Thorheiten zu vertändeln, wie es meist die jeunesse d'oré that, erweiterte er seine Sprachkenntnisse; er trieb Musik, malte und daneben huldigte er mit weiser Vernunft einem gesunden Sport; er ritt, er spielte jeden Dienstag Nachmittag mit Anstand Lawn-Tennis; er übte Hand und Auge durch Fechtstunden, er war überhaupt keinem Sport abgeneigt – – – – aber nur nicht radfahren! Er hasste das Radfahren! Er verachtete alle Radfahrer! Radfahrer kamen gleich hinter Anarchisten! Rowdies, Raufbolde, Räuber, Raubmörder, Radfahrer ...
Er übertrieb immer etwas mit Absicht, lächelte über sich selbst. Aber nicht, wenn die Sprache auf die radelnde Frau kam! Oh Schmach der Menschheit, Scandal der Weltgeschichte, barbarischer Hohn aller Aesthetik! Jawohl, da sitzt sie und trampelt – womöglich gar noch in Pumphosen – und zu Hause liegen die zerrissenen Strümpfe; der Mann näht sich die Knöpfe selbst an, das Essen kocht über, und aus der Wiege stürzt das Kind. Wenn er in Eifer kam, konnte er auch noch weiter erzählen: der erschrockene Vater springt auf, reisst den Petroleumofen um, die Gardine brennt, die Stube brennt, das Haus brennt, die Strasse brennt, das Stadtviertel brennt, ganz London brennt, die Bank von England verbrennt mit, die Soldaten bekommen keinen Lohn, Meuterei, Irland reisst sich los, die Russen fallen in Indien ein, die Vereinigten Staaten nehmen Canada, Frankreich macht auch mit, Deutschland wird mit in den allgemeinen Weltkrieg verwickelt, Oesterreich und Italien helfen natürlich, die Chinesen gehen gegen die Japaner los – und dies Alles wegen solch einer Radlerin in Pumphosen! Doch nein, Scherz bei Seite – die radelnde Frau war ihm eine unästhetische Scheusslichkeit. –
Lady Barrilon war es gewesen, welche dafür gesorgt, dass Sir Munro einmal zu dem grossen Herrenabend des Damen-Clubs eingeladen wurde, denn sie hatte auf den jungen reichen Mann, dessen Titel so gut zu dem ihren passte, schon speculirt, als ihr kränklicher Gatte noch gar nicht richtig todt gewesen. Er war gekommen. Sie fuhren gern Alle Rad – na, schliesslich waren es doch auch Menschen, und er wollte sich diese Champion-Damen einmal in der Nähe betrachten.
Da hatte er auch Miss Howard kennen gelernt, und schon an jenem Ahend dachte Lady Judith ernstlich darüber nach, ob es nicht ein unauffällig, aber sicher wirkendes Gift gäbe, das die Gerichtsärzte dann nicht an der Leiche nachweisen könnten.
Sie sahen sich noch öfters, Miss Howard und Sir Munro, auf Bällen, im Theater, im Hyde-Park, und obgleich er sie auch mehrmals zu Rade gesehen hatte, sagte er doch eines Abends in einer Tanzpause, als sie in einer einsamen Fensternische sassen: Ich möchte Sie heirathen.
Das heisst, er gebrauchte viel mehr Zeit dazu; aber diese vier Worte bildeten doch den kurzen Inhalt seiner langen, wohlgesetzten Rede.
Sie hatte ein paar Mal den Fächer auf- und zugeklappt, betrachtete nachdenklich die Spitzen ihrer Tanzschuhe und wendete das Gesicht ihm zu.
»Nicht wahr, Sie fahren wohl Rad?«
»Nein, und wenn Sie meine Gattin sind, wenn Sie also Liebe für mich empfinden, so werden Sie mir zu Liebe das Radfahren aufgeben.«
»Ach, wie schade, mein lieber Sir Munro! Ich habe mir nämlich gerade gestern eine neue Maschine mit zweijährigem Garantieschein gekauft.«
»Und Sie wollen diesen Garantieschein erst abnutzen.«
»Wenigstens für ein Jahr. Länger hält das Ding doch nicht.«
»So werde ich mir erlauben, in einem Jahre wieder vorzufragen.«
Sprach's, stand auf, machte eine vorschriftsmässige Verbeugung und ging.
»Vorausgesetzt, dass Sie radeln,« erklang es ihm nach. Natürlich war es nur Scherz gewesen. Sie liebte ihn, er wusste es. Wie könnte ein Rad der Liebe im Wege stehen! Sie war noch jung, sie wollte noch ein Jahr frei sein, und er wartete geduldig. Aber radeln that sie doch noch. Allerdings nur noch dreiviertel Jahr, dann rannte ihr eine scheu gewordene Droschke in die Maschine. Sie kam mit einer verstauchten Hand weg, das Rad dagegen ging in tausend kleine Stücke, und das Geschäft, welches den Garantieschein ausgestellt hatte, wollte von einer kostenlosen Reparatur nichts wissen; sie solle sich an den Droschkengaul halten. Seit dieser Zeit radelte Ellen nicht mehr. Nun hätte er kommen können, aber er kam nicht; Munro war in allen Geschäftssachen auffallend pünktlich.
Aber jetzt war das Jahr um; jetzt hatte er seine Visitenkarte mit Titel und Adelswappen abgegeben.
»Miss Howard lässt bitten,« sagte die Kammerzofe, schloss hinter ihm die Thür und legte das Ohr an das Schlüsselloch.
Ellen sass vor einem Tisch, auf dem eine grosse Landkarte ausgebreitet lag, stand auf, neigte den Kopf, machte eine Handbewegung nach einem Stuhl und setzte sich selbst nieder.
»Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, Sir Munro?«
»Vor einem Jahre fragte ich Sie, ob Sie meine Gattin werden wollten,« steuerte der junge Engländer frischweg auf sein Ziel los. »In einem Jahre sollte ich die Frage wiederholen, ich thue es hiermit, denn meine Liebe zu Ihnen ist dieselbe geblieben.«
»Ich entsinne mich noch recht genau. Ja, Sir Munro, haben Sie unterdessen radfahren gelernt?«
Diesmal klang es gar nicht scherzhaft; sie sah auch recht bleich aus.
»Nein. Sie kennen meine Ansicht darüber. Dagegen weiss ich, dass Sie, seitdem Sie vor drei Monaten den schweren Sturz thaten, noch kein Rad wieder bestiegen haben.«
»Ganz richtig, aber was berechtigt Sie zu dem Glauben, dass ich deswegen nie mehr radfahren werde? Ich beabsichtige das Gegentheil, und ich muss fast annehmen, dass Sie Ihrer Frau diesen Sport verbieten werden. Ich aber würde mir das unschuldige Vergnügen nicht verbieten lassen.«
»Oh Ellen, wie können Sie so sprechen!« sagte er leise, und dabei blickte er sie so treuherzig und wehmüthig zugleich an, dass sie die Augen zu Boden schlagen musste. »Genügt Ihnen denn nicht meine Erklärung: Ich liebe Sie? Glauben Sie wirklich, ich könnte Ihnen eine Freude missgönnen, weil sie nicht mit meinen Neigungen oder Ansichten übereinstimmt? Nein, nein, Ellen! Fahren Sie ruhig Rad, und wenn Sie mich lieben, werden Sie es dennoch aufgeben, nicht meiner Launen wegen, sondern weil ich ständig in Todesangst sein werde, wenn ich meine geliebte Ellen durch die Strassen fahren weiss.«
Mit ihrer erkünstelten Fassung war es vorbei; tief liess sie das Haupt sinken.
»Ich kann nicht mehr,« flüsterte sie und ihre Augen füllten sich mit Thränen, »Sie sind zu spät gekommen.«
Eine lange Pause entstand. Schmerzlich blickte er sie an.
»Zu spät?« flüsterte auch er. »Dann freilich ...«
»Nein, nein,« unterbrach sie ihn hastig. »Ich bin frei. Aber ich habe vorhin gewettet, in 300 Tagen auf dem Rade um die Erde zu fahren und so müssen Sie wieder ein Jahr warten.«
Er glaubte nicht recht gehört zu haben. Es war aber doch eigentlich merkwürdig, sie sprach doch ganz deutlich und er hörte ganz gut. So beugte er sich etwas vor.
»Bitte, um – um – um was wollen Sie fahren?«
»Um die Erde.«
»Um – um – um die Erde?« lächelte er verlegen. »Bitte, ich verstehe immer noch nicht recht. Was ist das: die Erde? Habe noch nie davon gehört.«
»Nun, unsere Erde hier. In 300 Tagen.«
»Um – um unsere Erde hier wollen Sie fahren? Auf dem Rade? Sie meinen unsere Erde, auf der wir leben? Rund herum?«
»Jawohl, rund herum, dieselbe Tour, welcher jener Stout gemacht hat, aber in 300 Tagen, und zwar ganz allein.«
Munro fiel mit dem Rücken schwer gegen die Lehne des Stuhls, liess die Arme hängen, streckte die Beine aus, weiter als es der Anstand erlaubte, und machte sogar den Mund auf. So blieb er sitzen. Dann zog er wieder die Beine an, und um den geschlossenen Mund trat abermals jenes verlegene Lächeln, als er seitwärts nach dem Mädchen blickte.
»Nein – ach nein, Ellen! Nicht wahr, Sie machen nur ein Spässchen?«
»Leider nicht!« Und plötzlich brach ihre Verzweiflung aufrichtig durch. »Oh, Robin, warum sind Sie nicht gestern gekommen!!«
Da erstarb sein Lächeln, er sprang auf.
»Um Gottes willen! Was ist denn da passirt?« Sie erzählte. Er vergass sich so weit, dass er im Zimmer auf und ab rannte, er murmelte vor sich hin, es klang bald wie »verfluchter Club« und »verrückteWeiber«; als sie aber geendet und er vor ihr stand, da lachte er wieder fröhlich.
»Nu, was ist denn da weiter dabei! Da bezahlen Sie einfach die 10 000 Pfund und bleiben hübsch zu Hause.«
»Das kann ich nicht, nur das nicht,« wehrte aber Ellen, ihre Energie zusammennehmend, ab. »Ja, wenn es nicht gerade die Lady Barrilon wäre.«
Er sah sie aufmerksam an.
»Ah, Sie beabsichtigen, diese Dame zu ruiniren, Miss Howard, das ist – nicht schön von Ihnen.«
Jetzt stand auch sie auf, ihre Augen begannen zu blitzen.
»Sie werden mich nicht lehren, was recht ist und was nicht,« rief sie unmuthig. »Allerdings, ich möchte sie büssen lassen, und nimmermehr werde ich ihr 10 000 Pfund in den Schooss werfen.«
»Nimmermehr? Nun, Sie werden ihr die 10 000 Pfund ja doch geben müssen.«
»Wieso denn?«
»Miss Howard,« sagte er staunend, »glauben Sie denn wirklich ernstlich daran, diese Wette gewinnen zu können, diese sinnlose Fahrt überhaupt anzutreten ...«
»Wie meinen Sie das? Sinnlos?« unterbrach ihn Ellen entrüstet. »Ich werde es der Welt beweisen, was eine Engländerin zu leisten vermag.«
»Sie können es nicht, was meinen Sie denn wohl! 32 Meilen jeden Tag fahren! Schon innerhalb der ersten acht Tage brechen Sie verzweifelt zusammen.«
Ach, hätte er dies doch nicht gesagt! In anderer Weise wäre es ihm wahrscheinlich möglich gewesen, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.
»Ich könnte es nicht? Sie werden es sehen. Ich fahre übermorgen von Liverpool ab.«
Die Gefährlichkeit der Reise kam ihm erst jetzt richtig zum Bewusstsein, und er jammerte darüber.
»Sie wissen ja gar nicht, was Sie thun wollen! Und nun allein, mein Gott, allein!! Denken Sie doch nur an die Indianer, an die Thuys in Indien, an die Araber in Kleinasien, denken Sie an die Löwen, Tiger und Schlangen ...«
»Löwen giebt es auf meiner Tour nicht, und durch jenes prachtvolle Bild können Sie mich nicht bange machen. Ich werde beweisen, wie auch ein Weib mit etwas Courage und einem Revolver überall durchkommt.«
»Jawohl, aber Ueberschwemmungen, Tropenregen, Sonnengluth, Durst, Hunger, Fieber und Pestilenz, die sind nicht mit auf dem Bilde angegeben! Mein Gott, mein Gott! 8500 Meilen! Wissen Sie denn, eigentlich, wie viel das ist? Sehen Sie diesen langen Tisch, setzen Sie diesen acht und eine halbe Million mal zusammen, dann haben Sie 8500 Meilen.«
»Ich will keine Tische zusammensetzen, sondern ich will um die Erde in 300 Tagen radeln. Oder gut, setzen Sie die acht Millionen Tische aneinander, dann kann ich darauf fahren.«
Plötzlich verstummte der jammernde Baronet, steif blickte er sie an.
»Ellen, mir kommt ein Gedanke! Wenn Sie nun einmal darauf bestehen, so werde ich Sie wenigstens begleiten.«
Freudig schrak Ellen auf.
»Robin! Das wäre vortreff – – doch nein; ich darf ja Niemand zu meiner Begleitung auffordern – brauche ihn freilich auch nicht zurückzuweisen – nein, mein Herr, ich reflectire nicht auf Ihre Begleitung.«
Sie sagte es glücklächelnd – und da verdarb er wieder Alles.
»Ah, Sie meinen, ich werde noch in aller Schnelligkeit Radfahren lernen, um Ihnen Gesellschaft zu leisten? Nein, Miss Ellen, da irren Sie sich. Allerdings werde ich mich immer in Ihrer Nähe aufhalten, aber nur, um sofort zur Stelle zu sein, wenn Sie selbst aus Verdruss über Ihren Eigensinn Ihr Rad in Stücke schlagen, und dann werde ich Sie abermals fragen, ob Sie nun meine nicht mehr radelnde Frau werden wollen. Empfehle mich.«
Hinaus war er, und diesmal stand Ellen zur Statue erstarrt da.
»Das werden Sie nicht thun, Sir Munro!!« erklang es in etwas kreischendem Tone.
Es kam keine Antwort. Er war fort, war so von ihr gegangen! Die Statue wurde wieder lebendig, die schlanken Hände ballten sich zu kleinen Fäusten.
»Wenn er es thäte,« kam es keuchend über ihre Lippen, wenn er mich verlieren lassen will – und darauf kommt es ihm nur an – und er wird es thun – er will mich demüthigen – und eigensinnig hat er mich genannt – – das – das – kann ich ihm niemals verzeihen!«
Vielleicht bildete sie sich jetzt ein, ihn zu hassen; aber plötzlich warf sie sich laut anfschluchzend auf das Sopha, sie weinte bittere Thränen, und die Worte, welche sie schluchzte, zeugten eigentlich von keinem Hasse gegen ihn:
»Nun habe ich auch ihn verloren! Und das hat sie ja nur gewollt! Ach, mein Eigensinn, mein unglücklicher Eigensinn!«
Doch nicht lange währte ihre Verzweiflung. Es war eben ihr Trotz, welcher wieder siegte, jener herrliche, stolze, götterbezwingende Trotz – ohne den wir bekanntlich heutzutage noch keine Streichhölzchen hätten.
Als sie sich erhob, seufzte sie etwas, strich das Haar aus den Schläfen und kehrte zurück zu der Landkarte.