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Von Springfield ab ging es fast im rechten Winkel zur bisherigen Richtung über hundert englische Meilen nordwärts, denn nicht der kürzeste, sondern der beste, der fahrbarste Weg musste gewählt werden. Bei Burlington begrüsste Ellen den Vater der Gewässer, den Mississippi; in dieser Stadt schwang sich eine gewaltige Brücke hinüber; und dann durchquerten sie auf der alten Auswandererstrasse, bei trockenem Wetter recht gut, bei nassem grundlos, den Staat Iowa, ein welliges Präirieland, überall mit kleinen Wäldchen durchsetzt, wo die Haselnuss wild wuchert und von Niemand geerntet wird, mit einem Boden, welcher nur darauf wartet, in einen Garten mit dem feinsten Obst- und Gemüsebau verwandelt zu werden. In der Nähe der Eisenbahnstationen – d. h. in einem Umkreise von zehn deutschen Meilen und längs dieser grossen Heerstrasse gab es denn auch ziemlich viel Ansiedelungen und dazwischen immer ein Städtchen, aber links und rechts davon war noch Alles wüst und leer. Es ist noch sehr, sehr viel Platz in Nordamerika. Selbst im bevölkertsten Theile, im Staate New-York, kostet der Acre nach dem Novemberbericht von 1901 noch immer bloss 2½ Dollars, also vier Quadratmeter einen Pfennig. Auch für dort sucht die Regierung immer noch fleissige Ansiedler, und es ist nur ein kleines Capitälchen nöthig, für den Acre etwa zehn Dollars. Aber grosser Kindersegen, starke Söhne und häusliche Mädchen, die machen hier den wahren Reichthum aus.
Wieder neigte sich ein Septembertag mit brennender Sonnengluth, der aber schon immer recht kalte Nächte folgten, seinem Ende zu. Sie fuhren auf jener Auswandererstrasse, welche auf Landkarten noch angegeben wird, es gehört aber entweder Phantasie dazu oder der Spürsinn eines Indianers, um überhaupt noch eine Strasse zu erkennen. Hier steht verbranntes Gras und dort steht verbranntes Gras, von einem Graben oder dergleichen keine Spur. Es ist aber doch ein gewaltiger Unterschied mit dem Boden, besonders der Radfahrer fühlt ihn im federnden Sattel, er braucht nur vom Wege etwas abzukommen, gleich schwenkt er wieder ein. Nicht umsonst sind hier einst Hunderttausende von Menschenfüssen und Thierhufen entlang gewandert.
Dann giebt es doch auch einige Anzeichen für das suchende Auge: ab und zu gebleichte Knochen, verstreute Balken, die Reste einer Blockhütte, manchmal auch ein Brunnen.
Ein solcher stand jetzt am Wege, noch mit Bruchsteinen eingefasst. Ellen hatte schon mehrmals die Brauchbarkeit dieser alten Brunnen kennen gelernt, und so bat sie jetzt Starke, einen Augenblick zu warten, und stieg ab, um ihre Mütze, die sie zu diesem Zwecke schon an beiden Seiten einfach durchlöchert hatte, an einem Lederriemen hinabzulassen und mit Wasser gefüllt wieder heraufzuziehen. Auch Starke war abgestiegen und that dasselbe mit seiner Lederflasche.
»Das Wasser ist gut, trinken Sie,« sagte er, nachdem er gekostet hatte.
Dieser Brunnen mitten in der wilden Prairie war nicht staatlich oder dereinst von milden Händen für durstige Wanderer angelegt worden. Hier hatte die Prairie schon einmal ein ganz anderes Aussehen gehabt, hier hatte schon einmal ein Pionier die Felder bestellt. Aber dort unten, in weiter Ferne, sah man einen schwachen Rauch aufsteigen, dort befand sich eine grössere Ansiedlung, vielleicht auch ein Städtchen, und wie der einsame Pionier, zwar Landbauer, aber mehr noch Jäger, merkte, dass er innerhalb von sechs Meilen einen Nachbar bekam, da hatte er die Ochsen vor die Wagen gespannt, Hausgeräth und Frau und Kinder darauf geladen und Felder und Alles in Stich gelassen, war weiter gewandert, noch tiefer in die Einsamkeit hinein. Das sind die amerikanischen Pioniere, die alten – und meistentheils waren es Deutsche und deren Nachkommen. Und das urbargemachte Feld und der Gemüsegarten hatte sich wieder in Prairie verwandelt, nur der Brunnen war stehen geblieben, und einige roh zugehauene Baumstämme lagen herum.
Schon beim Trinken bemerkte Ellen, wie Starke, welcher mit übereinander geschlagenen Armen auf der Brunnenmauer sass, sie mit recht eigentümlichen Blicken von der Seite beobachtete, was er sonst doch niemals that.
»Wünschen Sie etwas?« fragte sie, als sie die Mütze ausspritzte.
»Ja, Miss Howard; ich möchte Sie bitten, einmal Ihre Hose auszuziehen.«
Sie sprachen nur noch deutsch, und Ellen kam nicht in die geringste Verlegenheit; sie glaubte, falsch verstanden zu haben, nur dass sie etwas erröthete, mehr über ihre eigenen Gedanken, und sie klopfte die Mütze ruhig weiter aus.
»Was soll ich thun?«
»Einmal Ihre Hose ausziehen.«
Jetzt kam es Ellen zum Bewusstsein, dass sie nicht falsch gehört haben konnte, und mit wahrhaft entsetzten Augen blickte sie den Frager an.
»Wa – wa – was verlangen Sie von mir?«
»Ich rathe Ihnen nur,« entgegnete Starke mit unerschütterlichem Gleichmuth, »einmal die Radfahrerhose mit einem Damencostüm zu vertauschen. In einer Stunde werden wir Hamstead erreichen, ein Städtchen, welches vorwiegend von einer Shakersecte bevölkert ist. Vorher kommen wir durch eine kleine Colonie, in welcher schon ein Krämer seinen Laden aufgeschlagen hat, auch Frauenröcke und solche Garderobe hat er, ich weiss es, und Sie thäten vielleicht gut, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, wenn Sie heute Abend einmal ein Damencostüm anlegten. Sie brauchen in ihm gar nicht zu fahren, Sie kaufen einen einfachen Rock und kurz vor den ersten Häusern Hamsteads werfen Sie ihn über, dann schieben wir die Räder durch die Strassen des einzigen Nestes bis zum Hôtel, und dann zeige ich Ihnen solch eine Shakerversammlung.«
Erst jetzt nachträglich wurde Ellen von einer furchtbaren Verlegenheit befallen. Ein Glück nur, dass er so kaltblütig dabei blieb, obgleich er unmöglich hatte übersehen können, welch' ungeheurer Verdacht in ihr aufgestiegen war.
»Wenn Sie es wünschen ...« stammelte sie, noch nach Fassung ringend.
»Ich wünsche es durchaus nicht. Ganz wie Sie wollen. Halten Sie es nicht für verletzend, sondern seien Sie davon überzeugt, dass eine Dame das Recht hat, Männerkleider zu tragen, wenn es die Verhältnisse erfordern, so ist es sogar ihre Pflicht, dieselben nicht abzulegen, weil einmal ein paar kleine Geister daran Anstoss nehmen könnten.«
Er hatte immer eine ganz eigentümliche Weise, einen Eindruck oder einen unangenehmen Gedanken schnell zu verwischen.
Ellen hatte sich schon wieder gefasst.
»Sie sprechen von Unannehmlichkeiten, die mir durch meine Herrentracht widerfahren könnten.«
»Ja, um Sie darauf vorzubereiten, damit Sie mir nicht vorwerfen, das hätten Sie mir auch sagen können, dann hätte ich Frauentracht angelegt.«
»Was droht mir denn?«
»Oh, gerade keine Gefahr. Dazu bin ich da. Diese Shaker sind auch nicht Besitzer der Stadt, das Hôtel z. B. gehört einem Anderen; aber sie bilden doch das überwiegende Element, und es sind Mucker, und wenn sie eine Dame auf dem Rade fahren sehen, noch dazu in Hosen – das wird sie colossal aufregen, man wird Ihnen allerlei Bibelsprüche und Teufelsnamen nachrufen. Als ich hier das vorige Mal im Garten des Gasthauses eine zweite Flasche Wein bestellte, verbreitete sich diese unerhörte Thatsache wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt, Männlein wie Weiblein kamen angerückt, ich gottloser Trunkenbold sollte niederknieen und Busse thun.«
»Thaten Sie es?« konnte Ellen schon wieder lachen.
»Nein, ich trank in aller Gemüthsruhe meine Flasche Wein aus und liess mir den Teufel par distance austreiben.«
»Aber die Herrentracht wird mich wohl hindern, einer der interessanten Shakerversammlungen beizuwohnen?«
»Auch das nicht. Der Zutritt ist jedem Sünder gestattet, ausserdem werden die Versammlungen bei solch schönem Wetter wohl im Freien abgehalten werden. Aber dann freilich werden Sie etwas zu hören bekommen.«
»Nun, wenn uns keine ernstliche Gefahr droht, wenn es sich nur um Prüderie von Muckern handelt, dann trotze ich derselben. Ich behalte das Herrencostüm an.«
»Das ist consequent von Ihnen gedacht,« entgegnete Starke.
Sie bestiegen die Räder, und bald darauf ergriff wieder Starke das Wort zu einer kleinen Belehrung, aber auch wie in der Absicht, als ob er Ellen's voriger Verlegenheit einen anderen Grund geben wolle.
»Mir scheint, Sie stossen sich an das Wort »Hose«. In Deutschland werden Sie es allerdings in gebildeten Kreisen selten zu hören bekommen, da gebraucht man dafür die Worte Beinkleider, Pantalons und andere. Thun Sie das nicht, Hose ist ein gutes deutsches Wort. Wir sagen auch nicht Armkleider, sondern Aermel, die Pantalons wollen wir den Franzosen überlassen, wir haben dafür das deutsche Wort Hose. Es heisst auch nicht: Windbeinkleid, Wasserpantalons, sondern Wind- und Wasserhose. Ja, es kommt mir immer vor, als ob der Deutsche, welcher das Wort Hose nicht auszusprechen wagt, hinter seinen gewählten Ausdrücken einen gemeinen Charakter verberge. Ebenso sollten wir Deutschen auch nicht Papa und Mama sagen. Es giebt kein Papa-Unser, Niemand spricht von seinem Papaland, von seiner Mamasprache, sondern es heisst Vaterland und Muttersprache, und gerade in diesen Zusammensetzungen liegt schon ausgedrückt, wie der Deutsche die schönen Worte Vater und Mutter in Ehren halten soll – Papa und Mama mag man lallenden Kindern überlassen.«
Dann begann Starke von den Shakern zu erzählen. Das heisst auf deutsch »Zitterer«. Gegründet ist diese Secte von einer gewissen Anna Lee, geboren 1786 zu Manchester in England; sie war an einen Grobschmied verheirathet, der sie misshandelte; sie verlor durch den Tod alle ihre acht Kinder und wurde tiefsinnig. Durch Zufall kam sie nach Amerika, und in diesem Lande und nach ihrem vorherigen Lebenslauf ist es erklärlich, wie sich die tiefsinnige Frau plötzlich zur Prophetin berufen fühlte und gegen die Ehe predigte, ihrer Religionsansicht jene Worte des Apostels Paulus zu Grunde legend, dass es besser sei, der wahre Gläubige enthalte sich der Ehe.
Sie fand schnell Anhänger, in Amerika mögen es jetzt gegen 20 000 sein, zerstreut in kleinen Colonien lebend; auch in Frankreich, England und in anderen Ländern haben sie Fuss gefasst. Hauptsache ist also: keine Ehe. Ein in die Secte eintretendes Ehepaar braucht sich aber nicht scheiden zu lassen, es darf nur nicht mehr zusammen leben. Männer und Frauen arbeiten getrennt, meist in eigenen Werkstätten und Manufacturen, seltener auf dem Felde. Nur bei den religiösen Uebungen kommen sie zusammen, und es sind rechtschaffene, fleissige Leute, denen man nichts Uebles nachsagen kann. Nur intolerant sind sie gegen Andersgläubige. Da keine Kinder hinzukommen, vermehrt sich die Secte nur durch Proselyten.
Ihr Religionscultus ist ganz dem der Methodisten ähnlich, gegründet 1739 von dem Engländer John Wesley. Auch in Deutschland giebt es viele Shaker, welche aber zu den Methodisten gerechnet werden. Bei den Methodisten äussert sich der über die schweigende Versammlung kommende heilige Geist durch »Reden in fremden Zungen«, es werden plötzlich seltsame Stimmen laut, man wimmert, man heult, zuletzt grunzt die ganze Gemeinde, bis mit einem Male Einer vorspringt und, vom heiligen Geiste gepackt, in höchster Ekstase das Wort Gottes zu predigen beginnt. Bei den Shakern fährt der heilige Geist in die Glieder. Zu predigen verstehen diese Shakerpriester; erst malen sie alle Schrecken der Hölle aus, dann schildern sie mit glühenden Farben die Glückseligkeiten des Paradieses. Die Gemeinde erhitzt sich immer mehr, aus dem Wimmern wird ein Lachen, man fängt an zu tanzen, daraus wird ein Hüpfen, sie springen meterhoch, drehen sich mit ausgestreckten Armen wirbelnd im Kreise, bis sich zuletzt Alles in convulsivischen Zuckungen am Boden windet. Dabei »sollen« sich auch noch ganz eigentümliche, unaufgeklärte Erscheinungen zeigen, so z. B. dass die längsten Kopfhaare aufrecht stehen oder wie Schlangen peitschen und knisternde Funken sprühen.
Es mag ungefähr im Jahre 1840 gewesen sein, als dieses »Zittern« einmal in ganz Amerika epidemisch auftrat. Die Shaker hatten damals gerade sehr viel Missionare ausgeschickt, überall, wo sie am freien Felde predigten, fing das Hüpfen, Drehen und Krampfwälzen an, ganze Städte wurden davon ergriffen, Jeder musste mitmachen, wenn er auch gar nicht wollte, und das Zittern stellte sich später immer wieder ein. Die Shaker hielten dies für einen Beweis ihrer göttlichen Mission; die Aufgeklärten spotteten darüber und sprachen von Einbildung, Nachäffung und Hysterie – und wenn sie einmal hingingen, mussten sie selbst mitmachen; die Regierung aber fasste die Sache sehr ernst auf, ganze Districte, in welchen der Veitstanz – denn nichts weiter ist es – epidemisch ausgebrochen, wurden abgesperrt, bis die Gesundheit der Nerven wieder hergestellt war.
Ich selbst habe wiederholt Shakerversammlungen beigewohnt und wenn das Hüpfen und Drehen richtig begann, musste ich stets die Flucht ergreifen, wollte ich nicht mitspringen. Das Peitschen und Funkensprühen der Haare habe ich nie beobachtet, aber es ist mir so viel davon erzählt worden, dass ich daran glaube. Durch den Muskelkrampf mag sich galvanische Elektricität entwickeln. Ganz genau ebenso hat man den hypnotischen Zustand verspottet, bis zuletzt die Wissenschaft ihn doch als eine Thatsache anerkennen musste.
So erzählte Starke seiner Begleiterin.
»Darum meinen Sie also, der Krampf sei ansteckend?«
»Ganz gewiss, Krampf wirkt ansteckend, nicht durch Bazillen, sondern durch Suggestion, etwa wie bei der Hypnose. Haben Sie vielleicht einmal erlebt, dass im Theater Jemand vom Krampf befallen wurde?«
»Ja, und Sie haben Recht. Dann fallen stets noch andere Personen, welche durch ihr krampfhaftes Nervensystem dazu veranlagt sind, in Krämpfe. Aber bei mir brauchen Sie keine Sorge zu haben, ich habe Nerven von Stahldraht.«
»Müssen Sie gähnen, wenn Sie einen Anderen gähnen sehen?«
»Ja, das muss ich allerdings,« gab Ellen etwas ängstlich zu.
»Dann sind Sie dennoch für Krampfansteckung empfänglich. Auch das Gähnen, ist nur ein Krampf. Aber Sie können eine Versammlung getrost besuchen, so schlimm ist es nicht, ich werde Sie schon, wenn es nöthig sein sollte, rechtzeitig entfernen; und ich selbst bin gegen diese Ansteckung gefeit. Als damals der Veitstanz epidemisch auftrat, that die Regierung das Klügste, was sie thun konnte: sie schickte in jene verseuchten Distrikte nervenstarke Männer, welche die Feuerprobe schon ausgehalten hatten; diese umstanden enggedrängt die Versammlungen, und wenn der Unfug losbrechen wollte, mischten sie sich mit Hohn und Spott unter die Tanzenden – sie sollten sich doch nicht lächerlich machen, es wäre ja alles Schwindel – und wahrhaftig; ihre starken Nerven paralysirten den schädlichen Einfluss auf die schwachen. Da sehen Sie wieder, das gehört auch zu jenen Dingen, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt.«
Als ob Starke immer die Uhr in der Hand hätte und nach dem Secundenzeiger die Pedale sich drehen liesse, so erreichten sie pünktlich um 7 Uhr Hamstead, ein freundliches, sauberes Städtchen, nur aus dem Marktplatz und acht sich hier kreuzenden Strassen bestehend.
Die Bevölkerung war aus zweierlei Menschen zusammengesetzt. Die einen glichen in ihrer Kleidung den anderen Europäern in diesem Himmelsstrich; die zweiten, die überwiegende Mehrzahl, trugen das bekannte Quäkercostüm, den fast am Boden nachschleifenden Bratenrock, Schnallenschuhe und den breitrandigen Filzhut; so altmodisch gingen auch die Frauen, und diese sahen alle wie alte Jungfern aus, auch die jungen Mädchen, trotz ihrer blühenden Wangen; auch sie hatten einen so seltsamen Ausdruck in den Zügen.
Sonst war Alles so freundlich, die Strassen so sauber, schöne Schaufenster, in Werkstätten fleissige Arbeiter – hier herrschte Ordnung, Ruhe, Frieden, Fleiss, Sparsamkeit, Wohlstand, alles das, was die menschliche Gesellschaft braucht, um zum grösstmöglichsten Glücke auf Erden zu gelangen – aber über Ellen kam ein niederschlagendes Gefühl.
Hochherzig ist es, wenn ein Mädchen aus Liebe zum Bruder nicht heirathet, vielleicht, um ihn in seinem Geschäft zu unterstützen oder um sich seiner mutterlosen Kinder anzunehmen, wie solch' edle Herzen ja nicht allzuselten sind; bewundernswerth ist es, wenn Jemand nicht heirathet, um sich völlig seinem Berufe, seinen Studien, der Erreichung eines hohen Zieles zu widmen; traurig ist es, wenn ein Mädchen keinen Mann findet; aber wenn heutzutage Jemand deshalb nicht heirathet, weil er glaubt, damit Gott ein wohlgefälliges Werk zu thun, das ist – – das wirkt auf jeden vernünftigen Menschen, der dabei das Herz auf dem richtigen Flecke bat, furchtbar niederschlagend. Denn über so etwas zu spotten, wäre nur ein Zeichen von Egoismus. So erging es Ellen. Dann bemerkte sie gleich auf der Fahrt durch die Strassen – wodurch wusste sie selbst nicht – dass alle die anderen Menschen, welche durch ihre moderne Kleidung sich nicht als Feinde der Ehe verriethen, zu jenen Schwarzröcken in einem Abhängigkeitsverhältnisse standen, und ferner, dass Radfahrer hier mit scheelen Augen angesehen wurden. Ja, da schlug solch' eine Nonnenkapuze gleich die Hände über dem Kopfe zusammen; die hatte erkannt, dass der eine Radstrampler ein Weib war und Hosen trug. Ellen hörte auch etwas rufen, wurde aber eben von Starke in Anspruch genommen.
»Ich wollte Maschinenöl kaufen. Vor zwei Jahren war dort an der Ecke eine Fahrradhandlung, nun ist sie nicht mehr da.«
»Man scheint den Radfahrsport hier wenig zu lieben, ich habe noch keinen einzigen Radler gesehen.«
»Ja, mir ist es auch schon aufgefallen. Damals gab es hier einige Schwarzröcke mit hochgesteckten Frackschössen, radelnde Frauen freilich nicht, d. h. keine von den Shakern. Was die Anderen thun, das geht Jene ja nichts an.«
Wenn Ellen eine Deutsche gewesen wäre, so hätte sie jedenfalls die Frage gestellt, ob hier vielleicht unterdessen das Radfahren verboten worden wäre. Aber als Engländerin kam sie gar nicht auf den Verdacht, dass der Bürgermeister einer Stadt am Ende des aufgeklärten neunzehnten Jahrhunderts gegen das Radfahren ein Verbot erlassen könnte – heutzutage glaubt man in civilisirten Ländern doch nicht mehr an Zauberei. Ja, unten bei den Türken – nein, noch weiter unten – da mag freilich solch' ein Zweirad, auf dem man sitzen kann, ohne umzufallen, eine Höllenmaschine sein, die verbrannt werden muss.
Denn dass das Radfahren in den Strassen deshalb verboten wird, weil die Passanten dadurch in Lebens- und Todesgefahr kommen könnten, das darf man einem Engländer nicht erzählen; erstens versteht er gar nicht, was man eigentlich meint, und wenn er es verstehen sollte, und er glaubt es, dann wird man zu sehr ausgelacht.
Der Wirth, welcher in dem sehr kleinen Hôtel am Marktplatz zugleich Portier und Kellner spielte, war sehr glücklich, wieder einmal zwei Gäste zu bekommen, und dazu war ihm Starke noch von früher als gut verzehrender Logirer bekannt. Auch seine Frau erschien aus den Wirthschaftsräumen, die neuen Ankömmlinge zu begrüssen.
»Hier wird es immer schlimmer,« klagten Beide auf Starke's Frage nach dem Verbleib jenes Fahrradgeschäftes, »die Shaker bekommen das Regiment immer mehr in die Hände. Die neue Mutter – Sie wissen, so heisst die erste Faxenmacherin, ihre Prophetin – hat der Secte das Radfahren verboten, und was sollen die Anderen machen, wir müssen alle nach ihrer Pfeife tanzen, sie können jeden Geschäftsmann ruiniren. Jetzt radelt hier Niemand mehr, und so ist das Radgeschäft eingegangen. Ich wäre auch schon längst fortgezogen, aber erst muss das Hôtel verkauft sein, und wer soll auf solch' eine Shakerstadt hereinfallen.«
Dass die »Mutter« den Sectenmitgliedern das Radfahren verbot, dazu hatte sie allerdings ein Recht, sobald sie die Macht dazu hatte. Das ist etwas ganz anderes. Wem so etwas nicht passt, der braucht ja nur aus dem Verein, wenn ihm solche einstimmig angenommenen Neuerungen in den Statuten nicht gefallen, auszutreten.
Ja, erklärte ferner der Wirth auf Befragen, die Versammlungen der Shaker fänden heute Abend wie immer bei schönem Wetter draussen auf den Wiesen statt, die Herrschaften könnten von ihren Zimmern aus den »Hocuspocus« im Abendsonnenschein beobachten und wo die Herrschaften ihr Gepäck hätten, dass es geholt würde, setzte der Hotelier hinzu.
»Hier,« sagte Starke, die Hand auf das hinten am Rad festgeschnallte Bündel legend.
»Und die Dame ...?«
»Desgleichen hier. Alles, was wir haben, tragen wir bei uns.«
Zwei besorgte Augenpaare wanderten an Ellen herab, zu deren heimlichen Belustigung.
»Ich möchte die Herrschaften doch darauf aufmerksam machen ...«
»Bringt es Sie oder Ihr Hôtel um das Renommé, wenn ein weiblicher Gast als Radfahrer einen Herrenanzug trägt?« fiel ihm Starke in's Wort.
»Oh nein, durchaus nicht, aber ...«
»Na, dann zeigen Sie uns die Zimmer, ich bitte um zwei nebeneinanderliegende, und werfen Sie Kohlen unter's Küchenfeuer, damit wir bald etwas zu essen bekommen. Meinen Geschmack kennen Sie doch vom vorigen Mal.«
Die erste Stunde verlief wie gewöhnlich, sie reinigten sich, Starke nahm sich der Räder und des Hundes an, sie speisten zusammen und dann wanderten Beide, Hassan zu Hause lassend, durch die sehr menschenleer gewordenen Strassen, den letzten Nachzüglern folgend, welche dem Versammlungsziele fast der gesammten Bürgerschaft zustrebten.
Diejenigen aber, denen sie begegneten oder welche sie überholten, machten beim Anblick der jungen, so unternehmend gekleideten und auch so unternehmend aussehenden Dame schon sehr erstaunte, erschrockene, entsetzte oder sogar schon sehr entrüstete Gesichter, denn jetzt war nicht mehr zu verkennen, was unter dem feschen Lodenanzuge steckte. Doch Ellen amüsirte sich nur, sie war ja an Starke's Seite, was konnte ihr da passiren.
Draussen vor den Thoren der Stadt war die Geschichte schon losgegangen. Auf der Wiese waren mehrere Plattformen aufgeschlagen, überall wurde gepredigt, gebetet und gesungen, am meisten führten Frauen das Wort. Die Andächtigen waren nicht nur Schwarzröcke und Nonnenkittel, auch viele modern Gekleidete standen oder lagen auf den Knieen dazwischen. Das waren die, welche sich nicht von ihrem Ehegespons, von Braut oder Bräutigam trennen mochten, es aber auch nicht mit den die Stadt beherrschenden Shakern verderben wollten. Sie machten aus kluger Geschäftsrücksicht eben mit, den Uebertritt zur allein seligmachenden Shakergemeinde immer wieder hinausschiebend.
Von einem Zittern und Wälzen bemerkte Ellen noch nichts. Sie waren von einer Plattform zur anderen gegangen, sie hörten, dort sollte die »Mutter« predigen, sie begaben sich hin, und als die Umstehenden merkten, dass zwei Fremde zuhören wollten, machte man ihnen bereitwilligst Platz, sie wurden immer weiter nach vorn geschoben. In diesem Gedränge merkte man nichts von Ellen's Costüm, dann kam auch die Andacht hinzu.
Die »Mutter« war eine ältliche, knochenhagere Frau – eigentlich eine Jungfrau – mit einer Brille, mit Haaren auf der Nase und mit Haaren auf den Zähnen, und sie donnerte gegen die Sünden dieser Welt los, wie nur je ein Prophet gedonnert haben mochte. Jetzt war sie gerade beim Ausmalen der Hölle und ihrer Qualen; und es war wirklich interessant, ihr zuzuhören, denn sprechen und malen konnte sie. Sie wusste ganz genau, wie es in der Hölle aussieht, kannte jeden Teufel bei seinem Namen, und die einzelnen Strafen der Verdammten wusste sie schauerlich schön zu beschreiben. Da war doch neulich der Apotheker Joseph Jobs gestorben, sonst ein ganz guter, gottgläubiger Mann – aber er hatte nicht zu den Shakern gehört, und nun hatte er's – nun sass er im Schwefelhöllenpfuhl Nummer 2416, wenn man hereinkommt gleich linker Hand, an einen Stuhl geschmiedet, und jeden Morgen frisst sich zum Frühstück eine hungrige Ratte durch seinen Leib, bis zum anderen Tag heilt das Loch wieder zu, und so wird sich die Ratte Morgen für Morgen bis in alle Ewigkeit durch den Leib des sich in tausend Schmerzen windenden Mannes fressen. Und so ging es fort, sie wusste Alles, Alles ganz genau, wie es in der Hölle aussieht.
»Die ist selbst schon einmal drin gewesen,« raunte Ellen ihrem Begleiter zu.
Aber es war ihr gar nicht so scherzhaft zu Muthe. Beim Anblick von etwas Ekelhaftem kann auch dem nervenstärksten Menschen einmal übel werden.
Immer mehr waren sie vorgedrängt worden, jetzt standen sie im äussersten Ringe, der sich in einiger Entfernung um die kleine Plattform schloss.
Da fiel der Mutter Blick auf die beiden Fremden, deren Köpfe sie bisher nur gesehen hatte, sie erstarrte, und dann wechselte sie das Thema plötzlich.
»Auf die Kniee – auf die Kniee nieder!« begann sie mit emporgereckten Armen zu heulen, schon auf den Knieen liegend. »Der Teufel! Oh du heillose Welt! Der Teufel! Oh du lieber, kleiner, blutiger Heiland, hilf uns im Kampfe gegen den Teufel. Lasse nicht Schwefel und Feuer auf uns herabregnen, denn wenn erst Frauen Männerhosen tragen, dann ist Sodoms Ende gekommen. Herr, Herr, im Namen Deines Sohnes, treibe ihr denTeufel aus ...«
»Jetzt wird es ungemüthlich, schnell fort von hier!« sagte Starke, ziemlich laut, fasste kräftig Ellen's Hand und brach sich, mit einiger Rücksichtslosigkeit Bahn durch die Reihen der Knieenden. Hinter ihnen wurde weiter der in den Hosen steckende Teufel beschworen, Alles fing an zu schreien.
»Nein, so etwas darf man nicht geduldig mit anhören,« sagte Starke, als sie in Sicherheit waren, »ich störe die Leutchen nicht, ich achte die Shaker sogar als eine fleissige, im Leben praktische Gemeinde, ich spotte niemals über irgend eine Religion – und deshalb verlange ich, dass man auch mich in Ruhe lässt. Wir wollen dorthin gehen, dort scheint's lustiger zu sein.«
Zuerst sah Ellen gar nicht, was dort um jene Plattform eigentlich vor sich ging, es wurde etwas Staub aufgewirbelt und sie musste gerade in die Sonne blicken; sie hörte nur ab und zu einen gellenden Ruf und Händeklatschen – bis sie näher kam. Hier hatte der heilige Geist schon die Andächtigen erfasst. Wie die Begeisterung nach und nach erweckt worden, das war Ellen entgangen. Auf der Plattform drehte sich eine Frau – vielleicht auch ein Mann – mit ausgestreckten Armen wie ein Kreisel herum, und zwar so blitzschnell, dass dies entweder als eine Kunst eingeübt oder dass es die Aeusserung eines krankhaften Zustandes sein musste, wie so etwas ja auch beim Wahnsinn oder beim Veitstanz vorkommt. Es ist Paroxismus!
Von demselben Paroxismus waren auch die meisten Zuschauer ergriffen, und wer es noch nicht war, der wurde es mit der Zeit, Schwarzröcke wie Andere. Zunächst klatschten sie taktmässig in die Hände und schrieen immer dazu: Jesus – Jesus – Jesus! Dann begannen sie, sich dabei hin und her zu wiegen, daraus wurde ein Tanzen, ein Hüpfen, ein Hochspringen, die Einen fingen auch an, sich im Kreise zu drehen, an einem Orte stehenbleibend oder um die Plattform herum – überhaupt machte es Jeder anders – andere warfen sich gleich hin und wanden sich in fürchterlichen Zuckungen am Boden, aber ganz sonderbar, sie konnten sich dabei aufschnellen wie etwa verwundete Schlangen, dass sie manchmal völlig in der Luft schwebten. Dabei hatten sie Schaum vor dem Munde und schrieen noch immer »Jesus«. Manchmal standen sie plötzlich wieder auf den Beinen und fingen an sich zu drehen oder zu springen, Andere sprangen nicht mehr auf, sie führten am Boden liegend einen förmlichen Tanz aus, der Eine klatscht sich immer auf die Schenkel, ein Zweiter schlug sich mit den Fäusten vor die Augen, ein Dritter lachte brüllend – Alle anders.
Einige Minuten standen die Beiden schon da, das seltsame, grässliche Schauspiel betrachtend.
»Ich bin kein Realist,« begann Starke nach einer Weile, »ganz im Gegentheil, meine Religion ist eine sehr mysteriöse, über welche selbst die sogenannten Gläubigen und Frommen gewöhnlich spotten. Ich bin kein Gottesleugner, und im Wald, in der einsamen Prairie, in der Wüste kann auch mein Herz überströmen von Gebeten. Aber hier, dieses Schauspiel zu Ehren Gottes am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Aufklärung, das erfüllt mich mit Abscheu – und mit Schmerz und mit Wehmuth zugleich ...«
Ein Stöhnen entwand sich Ellen's tiefinnerster Brust. Aufmerksam sah sie Starke an. Trotz ihrer sonstigen gesunden, gebräunten Gesichtsfarbe war sie plötzlich weiss wie eine Leiche geworden, ihre Hände zuckten nervös, unruhig bewegte sie sich hin und her, starr hingen ihre Augen, welche ganz gläsern geworden, an den Springenden und Sichwälzenden.
Obgleich Starke erkennen musste, wie es mit ihr stand, nahm er sich nicht ihrer an, sondern fuhr ruhig fort:
»Und dennoch ist es sehr interessant und lehrreich, und ein wissenschaftlich gebildeter, dabei auch vorurteilsfreier Physiolog und Psycholog sollte hier einmal studiren und seine Erklärung abgeben. Was ist das dort? Ein Muskelkrampf, Nervosität, Ansteckung, Einbildung, Hysterie. So heisst es immer – und damit geht man achselzuckend wieder weg. Nein, so einfach ist das nicht. Hier steckt ein tiefes Geheimniss dahinter. Beobachten Sie doch nur; fällt Ihnen nicht etwas ganz Merkwürdiges auf? Sie tanzen und springen und drehen sich in dichter Menge, Alles geht durcheinander und übereinander, aber merken Sie einmal, dass zwei zusammenstossen? Sobald zwei Herumwirbelnde sich nähern, prallen sie auseinander, wie sich die zwei entgegengesetzten Magnetpole gegenseitig abstossen. Hier muss offenbar eine uns noch unbekannte Art von Elektricität mit im Spiele sein, durch die Nerven erzeugt. Das Knistern und Funkengeben der Haare habe ich zwar noch nicht beobachtet ...«
»Starke – Starke – ich – kann nicht mehr!« flüsterte Ellen mit kreideweissen Lippen, und jetzt griffen ihre zuckenden Finger schon in die Luft, sie hob abwechselnd die Füsse.
Anstatt sie fortzuführen, ergriff Starke nur ihre Hand. »Sie müssen!!« sagte er mit herrischer Stimme, dicht an ihrem Ohre. »Sie müssen hier bleiben!! Halten Sie aus, seien Sie stark, Sie dürfen nicht tanzen! Ich will es nicht! Ich will es nicht!!! Sagen Sie: ich will nicht!«
»Ich will nicht,« hauchte Ellen. Noch einige Minuten setzte Starke das seltsame Experiment fort, zu welchem Zwecke er sie jedenfalls nur hierhergeführt hatte, eine Suggestion, und wirklich, es gelang. Während dort der Tanz immer rasender wurde, wiederholte Ellen das »ich will nicht!« immer kräftiger, sie bekam die zuckenden Glieder wieder in ihre Gewalt. Dafür aber schien sie eine grosse Schwäche zu befallen, sie knickte zusammen. Starke musste sie stützen, auch die Farbe wollte nicht wiederkehren, und zuletzt führte er sie fort. Ellen taumelte an seinem Arme wie ein dem Tode naher Mensch. Erst nach und nach, als das Schreien hinter ihnen verklang, wurde ihr Gang fester.
»Es wird gleich vorüber sein,« tröstete Starke. »Schaden thut es Ihnen nicht. Ich habe schon zwei Personen auf diese Weise gegen nervöse Ansteckung gefeit, sie sind mir später sehr dankbar gewesen. Trinken Sie eine Limonade und zwingen sie sich, ein Biscuit zu essen, und es wird vorüber sein.«
Sie hatten die nahe Stadt erreicht, eines der ersten Häuser enthielt eine Confectionary, ein England und Amerika eigenthümliches Geschäft, keine Conditorei – eine Erfrischungshalle mit Limonaden und anderen unschuldigen Getränken, Eis und Backwerk, nach Londoner Muster Alles in grossen Fabriken hergestellt.
Ellen war wieder fähig, das Geschäft und das Hinterzimmer allein zu betreten, Starke bestellte Limonade und Biscuits, und sie fühlte sich auch wirklich äusserst durstig, sie schmachtete nach einem Trunk.
Eine Dame nahm die Bestellung in Empfang, es verging ziemlich viel Zeit, sie kam nicht wieder; in der Thür erschien einmal ein Mann, der Geschäftsinhaber, er verschwand, kam nicht wieder, draussen wurde geflüstert, Starke rief, jener Herr erschien, aber ohne das Bestellte.
»Es thut mir leid, ich darf Ihnen nicht serviren.«
»Warum nicht?«
»Weil – es würde meinem Geschäft schaden.«
»Sind wir nicht anständige Gäste?«
»Die Dame trägt eine hier ungewöhnliche Kleidung.«
»Sie meinen also: Sie wollen uns nicht serviren. Kommen Sie, Miss Howard.«
Sie betraten noch einen Milchladen.
»Bitte, verlassen Sie dieses Local!« rief die Wirthschafterin sofort aufgeregt, als sie kaum einen Blick auf Ellen geworfen hatte.
Die Beiden waren bereits boycottirt, über die unglückliche Hose war die Bannbulle verhängt worden. Wie dieses so schnell fertig gebracht werden konnte, darüber brauchten sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen, es war ja nur ein ganz kleines Städtchen. Starke fasste diese Beleidigung mit gewöhnlichem Gleichmuth auf, Ellen dagegen machte ihrem Aerger über solches Muckerthum mit einigen lauten Worten Luft, dass es Vorübergehende hören konnten, denn schon kamen auch viele Shaker wieder zurück, und eben dieser Aerger trug dazu bei, dass sie sich rasch wieder erholte.
Nur ihr Durst wurde dadurch nicht gelöscht. Nun, bis zum Hôtel hatten sie jetzt nur noch einige Schritte, dort konnte man ihnen das bestellte Getränk nicht verwehren. In dem Hausflur kam ihnen gleich der Wirth entgegen, sich vor Verlegenheit die Hände reibend.
»Meine Herrschaften, ich muss Ihnen etwas sehr Unangenehmes mittheilen – mir ist es selbst noch viel unangenehmer – aber ich habe Sie gleich darauf aufmerksam gemacht – das Herrencostüm der Dame hat Anstoss erregt ...«
»Wollen Sie uns etwa mittheilen, dass wir das Hôtel verlassen sollen?« kam Starke dem Stockenden direct zu Hülfe.
»Nicht das – aber es wäre mir wirklich sehr angenehm, wenn Sie sich ein anderes Logis suchten...«
»Nein, mein lieber Mann, daraus wird nichts. Sind Sie der Gastwirth? Ja? Dann suchen Sie im Gesetzbuch den Paragraphen, nach welchem Sie uns als Gäste bis morgen Mittag um 12 Uhr beherbergen und beköstigen müssen – müssen! denn wir sind heute Nachmittag nach 6 Uhr hier angekommen, und unanständig haben wir uns nicht betragen, und Geld – sehen Sie hier, eine ganze Hand voll Silber und Gold. Also bringen Sie uns, bitte, eine Flasche Limonade und einige Biscuits.«
Der Wirth fügte sich, es blieb ihm gar nichts Anderes übrig, bei Weigerung konnte er verklagt werden und verlor die Schank-Concession; bei Anwendung von Gewalt konnte der Angegriffene ungestraft Gebrauch von seinem Revolver machen, und übrigens war es nur ein schwacher Versuch gewesen, sich eine Unannehmlichkeit vom Halse zu schaffen.
Ellen aber fühlte sich neugestärkt, nicht nur durch die Erfrischungen, welche sie in dem in der ersten Etage gelegenen Speisezimmer in Gesellschaft Starke's zu sich genommen hatte – mit spöttischem Lächeln und kampfeslustigen Augen blickte sie von ihrem erhöhten Sitze am Fenster herab auf die Strasse, denn dort unten in der Abenddämmerung bereitete sich etwas vor. Die Versammlungen auf der Wiese schienen beendet zu sein, an allen Plattformen war der Paroxismus jedenfalls nicht ausgebrochen; immer neue Schaaren erschienen, vor dem Hôtel drängte es sich Kopf an Kopf, am meisten waren es Frauen.
»Das gleicht ja fast einer Belagerung,« konnte Ellen scherzen.
»Man wird fordern, dass Sie in dieser heiligen Stadt ein Damencostüm anlegen,« entgegnete Starke. »Aha, jetzt bildet sich schon ein Comité. Geben Sie nicht nach, Miss Howard, die haben kein Recht dazu, solch eine Forderung zu stellen, die Stadt ist nicht Privatbesitz der Shakergemeinde.«
»Fällt mir auch gar nicht ein!«
»Nur wenn sie Thorheiten begehen wollen, dann geben wir als die Klügsten nach. Dann werde ich ihnen aber erst einige Ueberraschungen bereiten.«
Der Wirth trat ein, zwei brennende Petroleumlampen mitbringend, und meldete ängstlich, dass drei Shakerfrauen die Dame zu sprechen wünschten.
»Führen Sie sie hier herein,« entschied Starke. »Miss Howard, übernehmen Sie das Gespräch, ich halte mich hier im Hintergrund.«
Es erschienen drei Frauen, die »Mutter« war nicht darunter, aber alle Drei ähnelten dieser sehr. Auch der Wirth blieb im Zimmer, in der Spalte einer geöffneten Seitenthür tauchte die Nasenspitze seiner Frau auf, darunter noch ein anderes Mädchengesicht. Starke war zurückgetreten, Ellen stand in der Mitte des Zimmers an dem Tisch mit einer Lampe.
»Sie wünschen mich zu sprechen? Womit kann ich dienen?«
Die Sprecherin, eine alte Dame mit den meisten Haaren auf den Zähnen, stellte sich als Abgesandte der Shakergemeinde vor und verlangte im Namen der Prophetin kurz und bündig, dass Ellen sofort die Hose ausliefern und dafür ein »christliches« Gewand anlege.
»Ich fahre ein Herrenrad und kann darauf in einem Damenkleid nicht sitzen,« sagte Ellen ruhig.
»Warum fahren Sie ein Herrenrad? Das ist – das ist – eine Sünde. Das ganze Radfahren ist eine Sünde. Die Prophetin hat es verboten. Jetzt haben Sie hier überhaupt gar nichts zu fahren, wir verlangen, dass Sie in dieser frommen Stadt wie eine anständige Frau gehen, Ihr Kleid beleidigt die ganze Männerwelt.«
»Pfui - pfui,« hatten hinter der Sprechenden zwei Damen mit Fistelstimme gesagt, schon gleich, als nur das Herrenrad erwähnt worden war.
»Ich habe kein Damenkleid.«
»Verschaffen Sie sich eins, borgen Sie sich eins – vor allen Dingen aber wollen wir Ihre Hose haben.«
»Was, meine Hose wollen Sie auch noch haben? Wozu denn?«
»Wir sind beauftragt, von Ihnen die Hose zu fordern.«
»Wenn Sie auch gern solche Hosen tragen möchten, so kaufen sie sich doch welche,« ging jetzt Ellen zum Spott über, und die Entrüstung der alten Jungfern war begreiflich.
»Ihre Hose wollen wir haben, Ihre Hose müssen wir haben!« erklang es kreischend.
»Wozu denn nur in aller Welt,« fragte Ellen noch mit grösster Gemüthsruhe.
»Wir wollen den Teufel verbrennen!« erklang es unisono im höchsten Diskant.
»Den Teufel? Welchen Teufel?«
»Der in der Hose steckt – die Prophetin will es – wir sollen die Hose verbrennen!«
»Geben Sie Ihnen die Hose doch, Madame,« begann jetzt auch der Wirth zu flehen.
»Gut, Sie sollen die Hose haben,« liess sich da plötzlich Starke vernehmen, aus seiner dunklen Ecke hervortretend.
Draussen auf der Strasse war es auch laut geworden. »Die Hose her, die Hose wollen wir haben!« erklang es dort unten ebenfalls stürmisch aus Frauenkehlen, und man blieb nicht allein bei dieser Forderung; allem Anschein nach traf man schon Vorbereitungen, die Fenster des Hotels einzuwerfen; man sammelte Steine, eine Shakerin hatte schon eine ganze Schürze voll. Dies mochte Starke zum Nachgeben bewegen.
»Sie wollen wirklich darauf eingehen?« fragte Ellen finster.
»Sie wollen uns die Fensterscheiben einwerfen ...«
»Um Gottes Willen, sie sind nicht versichert!« schrie der Wirth entsetzt.
»Ruhe. Ich sagte schon, dass Ihnen diese Dame das teuflische Bekleidungsstück ausliefern wird,« wandte er sich an die drei Abgesandten. »Aber Sie können nicht verlangen, dass Ihnen die Dame die Hose auf der Stelle in die Hand drückt. In fünf Minuten werden Sie sie erhalten, bitte, beruhigen Sie einstweilen Ihre Genossinnen, ehe Sie die Fenster einwerfen.«
»In fünf Minuten also, oder wir stürmen das Haus,« erklang es noch einmal drohend, und anstatt zum Fenster hinauszurufen, verliessen die Drei das Zimmer, um den unten Wartenden ihren Triumph mitzutheilen.
»Schnell,« sagte Starke hastig, ehe ein Anderer das Wort ergreifen konnte, sich an den Wirth wendend, »besorgen Sie der Dame ein Kleid – von Ihrer Frau, sie haben eine Figur – oder von sonst wem, wenn es nur ein Kleid ist.Wir haben keine Secunde zu verlieren, meine fünf Minuten waren etwas voreilig – bringen Sie das Kleid sofort auf das Zimmer der Dame.«
Und als der Wirth hinausgeeilt war, die lauschenden Köpfe verschwunden, wandte sich Starke mit ebenso schnellem Munde an Ellen, ohne dabei seine Ruhe zu verlieren:
»Hier heisst es: der Klügste giebt nach. Mag Gott wissen, wie es in den ihren Köpfen aussieht, ich weiss es nicht. Nur soviel ist mir bewusst, dass den bigotten Frauenzimmern mehr darum zu thun ist, Ihre Hose als eine Höllenausgeburt zu verbrennen, als um Sie in einem Damenkleid zu sehen. Schnell, auf Ihr Zimmer! Werfen Sie die Hose auf den Corridor, schnell, sofort, ich brauche sie!«
War es Ellen noch immer nicht recht begreiflich, was die Frauen eigentlich wollten, so war ihr Starke's Verlangen jetzt erst recht ein Räthsel. Aber sie gehorchte, und noch waren keine fünf Minuten verstrichen, als Ellen schon wieder in dem Speisezimmer stand, zum ersten Male während ihrer Radreise in einem Damenkleid.
Unten tobten die fanatischen Weiber, die fünf Minuten wurden ihnen zu lang.
»Die Hose her – wir wollen den Teufel austreiben!«
»Treten Sie doch auf den Balcon; sie werfen mir wirklich noch die Fenster ein!« flehte der Wirth.
Vor den Fenstern befand sich ein Balcon, und Ellen willfahrte dem Wunsche, sie zeigte sich dem versammelten Volke als Weib.
»Die Frömmigkeit hat gesiegt,« sagte sie ärgerlich lachend, und dann blickte sie doch etwas ängstlich hinab. Es war dunkel geworden, die Strassenlaternen brannten und Kopf an Kopf drängte sich die Menge, fast nur noch aus älteren und jüngeren Frauen bestehend, unter ihnen auch die »Mutter.« Ein betäubendes Triumphgeschrei empfing die Erscheinende, bald aber war man hiermit nicht zufrieden, die Hauptsache fehlte noch.
»Die Hose – wo ist die gottlose Hose – die Teufelshose!«
Immer stürmischer wurde die Forderung, die fünf Minuten verstrichen, und Starke wollte nicht kommen, knochige Fäuste zeigten die Pflastersteine, jetzt war die Prophetin mit einer langen Stange bewaffnet, welche entweder als Rammwidder oder zum Fenstereinschlagen dienen sollte. Ellen dachte schon an den Rückzug, als plötzlich Starke neben ihr stand, das begehrte Kleidungsstück zusammengerollt in den Händen.
»Was wollt ihr?« rief seine dröhnende Stimme.
»Die Hose – die Hose!«
»Da habt ihr sie!«
Es war wohl kein Zufall, dass die Hose der Prophetin gerade in's Gesicht flog und zwar mit einer Wucht, dass die alte Dame gestürzt wäre, hätte die drängende Menge dies nicht unmöglich gemacht. Aber es wurde nicht beachtet, ein neues Freudengeheul, und im nächsten Augenblick sah Ellen, ihre Hose oben an der langen Stange flattern und die Sieger rückten ab, die Prophetin mit der erbeuteten Trophäe an der Spitze.
» O sancta simplicitas, Herr, verzeihe Ihnen,« sagte Ellen, in das Zimmer zurücktretend. »Was sagen Sie nun zu alledem, Mr. Starke?«
»Dass mit Fetischanbetern, Shakern, Antiradfahrern und Consorten nicht gut Kirschenessen ist, wenn sie zur Ehre ihrer Sache in Wuth kommen. Die guten Leutchen werden sich, während wir den Tanzenden zusahen, noch viel über Ihre Hose erzählt haben; sie haben sich in den Kopf gesetzt, dass Sie vom Teufel besessen sind, weil Sie eine Herrenhose tragen; nach ihrer Ansicht muss der Teufel in der Hose stecken und deshalb muss die Hose sammt dem Teufel auf dem Scheiterhaufen enden. So wenigstens denke ich es mir mit meinem normalen Gehirn. Sonst aber können Sie ebenso gut einen Laubfrosch fragen, was er denkt, wenn er tiefsinnig den Mond betrachtet. – Wollen Sie nicht wenigstens dem Feuertode Ihrer unglücklichen Hose beiwohnen?«
»Nein, danke, ich habe wirklich keine Lust, nochmals mit diesen Menschen in nähere Berührung zu kommen. Nun muss ich aber eine andere Hose haben.«
»Wir werden schon eine bekommen«, und wenn – was ich nämlich sehr stark glaube – sich alle Schneider des heiligen Hamsteads weigern, uns eine Hose zu geben, und der Wirth ebenfalls, so werde ich Ihnen bis morgen früh eine machen.«
Sie wurden gerufen, auf der Wiese wurde von den Shakern etwas vorgenommen, wahrscheinlich mit der Hose; von einem Hinterzimmer aus konnten sie Alles sehen; sie begaben sich dahin und blickten durch das geöffnete Fenster.
Es war dunkle Nacht geworden, man hörte ein vielstimmiges Gemurmel, in einiger Entfernung huschten Lichter hin und her, bis eine auflodernde Flamme die ganze um den angezündeten Holzstoss versammelte Shakergemeinde erkennen liess. Erst schien gepredigt und gebetet zu werden, jetzt wurde wahrscheinlich die gottlose Hose sammt dem Teufel feierlich dem verzehrenden Feuer übergeben, jetzt erscholl ein Choral. In finsterer Nacht der brennende Scheiterhaufen, mit rothem Feuerschein die Umstehenden übergiessend, der feierliche Gesang – es war eine schöne, erhabene Scene, wenn ihr nur nicht ein solch' lächerliches Motiv zu Grunde gelegen hätte.
Ein donnernder Kanonenschuss, die nächsten der Umstehenden stoben auseinander.
»Was war denn das?« fragte Ellen erstaunt.
»Das war Nummer eins,« entgegnete Starke trocken.
»Da – da – der Teufel – das ist der Teufel!« erklang es gellend, entsetzt und jauchzend – und langsam und majestätisch stieg aus dem Scheiterhaufen zum dunklen Himmel eine Rakete empor, hochoben sich in einen Feuerregen zertheilend und dann folgte aus dem brennenden Holzstoss noch ein brillantes Leuchtkugelspiel nach.
»Das ist der Teufel – wir haben den Teufel ausgetrieben!!« frohlockte die Menge, wenn auch Einige tiefer schauen mochten.
»Ich habe für alle Fälle immer einiges Feuerwerk in meinem Reisegepäck,« erklärte Starke dem vor Staunen ganz starren Mädchen, »das habe ich in der Hose befestigt, ehe ich sie hinunterwarf, ein paar Donnerschläge – einer ist nur losgegangen, eine Rakete, einige Frösche und Leuchtkugelpatronen. Man muss den guten Leuten doch eine Freude bereiten.«
Mehr sah und hörte Ellen nicht, sie trat zurück, stiess an Etwas, stolperte, fiel auf ein Sopha, und da blieb sie liegen und lachte – lachte, dass sie zu ersticken meinte.
Noch spät in der Nacht sass Ellen auf ihrem Zimmer und schrieb mit fliegender Feder an einem Reisebericht. An Stoff fehlte es ihr ja nicht, und sie selbst musste noch immer über ihre Humoreske lachen. Von den Shakern waren sie nicht wieder belästigt worden.
Manchmal lauschte die Schreiberin. Es kam ihr immer vor, als wenn Starke in diesem Hôtel einen Gesellschafter gefunden habe, vielleicht einen noch spät angekommenen Gast. Denn in seinem Zimmer war er nicht, wie sonst gewöhnlich um diese Zeit, einmal ging er über den Corridor und sprach mit einem Manne, dessen Stimme erst Ellen zu kennen glaubte, welchen Gedanken sie aber schnell wieder verwarf.
Einen Grund, ihn noch einmal zu sprechen, hatte sie nicht, Ellen hätte auch wieder Toilette machen müssen. Sie hatte ihm gute Nacht gesagt und dabei erfahren, dass thatsächlich kein Schneider und kein Geschäft für heute und vielleicht auch für die nächste Zeit eine Herrenhose lieferte, natürlich auf Befehl der Shaker. So vorsichtig waren diese Leute, sie wollten durchaus, dass die fremde Dame zu ihrem Seelenheile »christlich« wenigstens diese fromme Stadt verliesse. Dann würde wohl auch der Wirth nicht zu bestechen sein, vorausgesetzt, dass des dünnbeinigen Yankees Garderobe dem jungen Mädchen gepasst hätte. Nun, Starke würde schon dafür sorgen, dass Ellen morgen früh auf ihrem Herrenrad nicht in Verlegenheit kam, er hatte ja schon davon gesprochen.
Das Feuilleton in vier Fortsetzungen war beendet; Ellen ging zu Bett und schlief mit einem letzten Lachen ein. Als sie mitten im festesten Schlafe von einer Hand emporgezogen wurde, wusste sie bereits, dass dies nur eine eingebildete Hand war, die Macht der Gewohnheit; denn Starke klopfte, wie stets, nur draussen an der verschlossenen Thür, sie zum Aufstehen auffordernd, es sei halb vier Uhr.
»Hier,« setzte er diesmal noch hinzu. »Haben Sie mich verstanden? Sind Sie wach?«
»Ja,« sagte Ellen laut und deutlich. Sie war auch schon aufgestanden, sie holte dann auch die auf dem Corridor liegende Hose herein, zog sie an – aber dabei schlief sie ruhig weiter. Es war ja kein richtiger Schlaf, doch wach war sie auch noch nicht – es war eben Alles die Macht der Gewohnheit. So ging es jetzt schon seit langer Zeit jeden Morgen.
Zum eigentlichen Bewusstsein kam sie erst, als sie, das Rad mit der brennenden Laterne führend, in die kalte Nacht hinaustrat und fröstelnd zusammenschauerte. Nun in den Sattel gestiegen und aus Leibeskräften drauf los getreten, immer zitternd und zähneklappernd. Es ist eine unangenehme Empfindung, die erste Stunde am noch finsteren, kalten Morgen; in dieser ersten Stunde wurde nie ein Wort gewechselt, und umsonst fuhr Starke auch nicht als Schrittmacher so schnell voraus.
Vor ihnen war noch Alles dunkel und grau, aber sie wurden von hinten von einem rosigen Scheine überholt, der immer weiter huschte, mit einem Male jubilirende Vogelstimmen, und da erwachte auch Ellen wieder zum Leben.
»Haben Sie gestern in dem Hôtel Unterhaltung gefunden, Mr. Starke?« fragte sie, und augenblicklich war Jener an ihrer Seite. »Ich hörte Sie mit einem Herrn sprechen.«
»Ja, und diesen Herrn kennen Sie auch.«
»Ich? Wer sollte das sein?«
»Mr. Schade. Mir kam sein Hiersein gleich verdächtig vor, ich trank einige Flaschen Wein mit ihm und zog dem jungen Manne – mit Verlaub zu sagen – die Würmer aus der Nase. Meine Ansicht war richtig über den »New-Yorker Spion,« und Mr. Schade passt ganz als Berichterstatter dazu, und dass er Sie nicht compromittiren darf, habe ich ihm begreiflich gemacht. Er denkt auch gar nicht daran. Dagegen denkt er an etwas Anderes, er will nämlich zwei Fliegen mit einem Schlage klappen, er schreibt auch für die »Morning-Chronicle«, und dieser Zeitung will er Berichte über unsere Radreise zuschicken. Mit anderen Worten: Mr. Schade hat die Absicht, uns auf dem Rade um die Erde zu begleiten.«
»Um Gottes Willen!« rief Ellen erschrocken.
»Haben Sie keine Furcht. Dieselbe Absicht hat er schon neulich gehabt, und er konnte uns nicht einmal den kleinen Hügel hinauf folgen. So wird er noch mehrmals uns mit der Eisenbahn nacheilen müssen, und wenn wir uns dann einmal wiedersehen – nun, das macht stets Freude. Vorläufig ist er schon wieder unschädlich. Gestern Abend bat er mich, ich sollte ihn heute früh wecken; den Gefallen, ihm dies zu versprechen, that ich ihm nicht, und ehe er einem vom Hôtelpersonal den Auftrag geben konnte, dachte er nicht mehr daran, da lag er schon voll des süssen Weines unter'm Tisch. Der schläft erst bis heute Mittag seinen Rausch aus.«
Es wurde heller, und immer aufmerksamer blickte Ellen während des Fahrens auf ihre Hose.
»Wo haben Sie denn eigentlich diese Hose her! – – diese schottisch-carrirte Hose – – wie ist mir denn – die kommt mir so bekannt vor.«
»Als ich gestern Abend den schwer geladenen Reporter zu Bett brachte, fiel mir ein, wie gut wir seine Höschen gebrauchen könnten,« erklärte Starke mit Gleichmuth, »und da habe ich sie mir angeeignet, habe ihm dafür einen entschuldigenden Zettel auf's Bett gelegt und daneben einen zweiten Frauenrock, den ich der Wirthin schon abgekauft hatte, um Ihnen daraus eine Hose zu schneidern. Ferner habe ich die Wirthsleute instruirt, dem Manne keine Hose zu leihen; er weiss es übrigens selbst, dass in der hosenfeindlichen Stadt jetzt keine zu haben ist. Ehe der wieder auf der Strasse erscheinen darf, sind wir in San Francisco.«
Ellen in des dicken Reporters Hose! Das Frösteln war vorüber, ein schallendes Gelächter begrüsste die aufgehende Sonne.
Lang Zeit brauchte Mr. Schade, ehe er sich völlig bewusst war, dass er überhaupt noch lebe, und noch länger dauerte es, bis er sich besann, wo er sich eigentlich befinde, was mit ihm geschehen.
Starke, wecken, californischer Rothwein, Portwein, Champagner, Brandy – so war sein Gedankengang, und dann war es aus, und jetzt stand die Sonne schon hoch am Himmel. Halb vier war es keinen Falls mehr – nein, aber halb elf.
»Himmeldonnerwetter!« Aber Mr. Schade war ein Yankee; und deshalb schrie er: »Jesus Christus und General Jackson!«, als er mit einem Satze aus dem Bette sprang. Das war tollkühn gewesen, denn zuerst glaubte er, in seinem Kopfe crepire eine Dynamitpatrone, dann taumelte er einige Male durch's Zimmer, bis er das Gesuchte sah, das gefüllte Waschbecken, in dessen Wasser er seinen glühenden Schädel auszischen liess.
Verschlafen! Da war nun nichts mehr zu machen, nur nachher wollte er den Wirth ausschimpfen. Zunächst kleidete er sich mit Schmerzen an, d. h. er zog seine Strümpfe an, wonach schon ein Stillstand eintrat. Er sah sich um, ah, da lag sie – nein, das war sie nicht. Kopfschüttelnd betrachtete er den Frauenrock. Wie kam denn ein Frauenrock in sein Zimmer? Angehabt hatte er ihn doch nicht. Er sah sich weiter um, in die Schränke, auf die Schränke, in's Bett, unter's Bett, allein das für einen Mann unentbehrlichste Kleidungsstück war nicht zu finden.
Er klingelte, der Wirth erschien.
»Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie mich heute früh einhalb vier wecken sollten?« fuhr er diesen zunächst an.
Der Wirth versicherte, keinen solchen Auftrag von dem Gast bekommen zu haben und Mr. Jakob glaubte es ihm.
»Habe ich gestern, als ich hier ankam, eine Hose angehabt?«
»Natürlich haben Sie eine Hose angehabt,« lächelte der Wirth unsicher.
»Wirklich? Schade. Dann ist sie mir gestohlen worden.«
Dem sah aber auch nicht so aus, dass ein Dieb im Zimmer gewesen, denn Photographen-Apparat, Uhr, andere Sachen und loses Geld, welches in der Hose gesteckt, lagen unversehrt auf dem Nachttisch.
Der Wirth half mitsuchen und fand wenigstens einen Zettel unter dem Bett, las ihn und gab ihn verständnissvoll lächelnd dem Gaste.
»Nach dem, was ich Ihnen gestern Abend erzählt habe, in welche Verlegenheit Miss Howard gekommen ist, haben Sie wohl die Güte, Ihre Hose der Dame zu leihen. Bedienen Sie sich dafür des schon bezahlten Rockes. Curt Starke.«
Lange sass Mr. Schade in Gedanken versunken da, betrachtete seine roth und weiss gestreiften Unterhosen, kratzte sich am Kopfe, und da kehrte ihm nach und nach die Erinnerung zurück.
»Ist gestern die Zeche bezahlt worden?« war dann die Frucht seines Nachdenkens.
»Jawohl, Mr. Starke hat Alles bezahlt.«
»Scha ... das ist gut, wollte ich sagen. Hm, jetzt entsinne ich mich auf Alles. Bringen Sie mir den Thee und gleich mein zweites Frühstück.«
Damit war der Wirth entlassen.
Um zwölf Uhr strömten Männer und noch mehr Frauen aus den Werkstätten und Manufacturen, um sich nach den gemeinschaftlichen, aber nach den Geschlechtern getrennten Speiseanstalten zu begeben. Wer die Person sah, welche aus dem Hotel auf die Strasse trat, ein Rad schiebend, blieb verwundert stehen. Gestern war ihr keusches Gemüth von einer Frau im Männeranzug mit einem Herrenrad geärgert worden, heute war es eine Frau im Damencostüm mit einem Herrenrad, und dazu hatte diese Dame auch noch ein polizeiwidriges Mopsgesicht. Und wie in aller Welt wollte die denn auf so ein Herrenrad hinaufkommen?
Das war sehr einfach, die Dame zeigte es den Versammelten sofort, sie hob einfach den Rock hoch, sass im Sattel und radelte davon, die kreischende Gemeinde hinter sich lassend.