Ernst Kossak
Historietten
Ernst Kossak

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Der Schusterjunge.

Die politischen Ereignisse der letzten Jahre haben es dahin gebracht, daß unser Straßenleben wieder in die alten Geleise zurückgekehrt ist; der Meinungsaustausch im Freien hat aufgehört, feierliche Aufzüge giebt es nur noch im Theater oder außerhalb des zweimeiligen Umkreises von Berlin; wenn man das weibliche Geschlecht ganz aus dem Spiele läßt, könnte man sogar von dem männlichen behaupten, daß es gar keine öffentlichen Personen mehr giebt. Nur die Jungen lassen sich ihre Freiheit nicht nehmen und nehmen sich für ihr Theil wenigstens 110 so viel Straßenfreiheit, als möglich. Sie betrachten sich als die Bürger des kommenden Jahrhunderts, und der ungebundene Ton ihrer Rede ist der Ausdruck einer tiefen Verachtung unserer gesunkenen Zustände. Man pflegt deshalb auch von einer Schrift oder einem Journale, wenn sie sich einer rücksichtslosen Rhetorik befleißigen, im lobenden Sinne zu sagen, daß sie von Straßenjungen geschrieben seien. Aber das ist nun einmal der Hauptunterschied zwischen der antiken und modernen Welt, daß damals auf öffentlichem Markte die Alten, jetzt die Jungen das große Wort führen. Nicht die Ausgrabungen der Antiken können uns aufhelfen, sondern die Begräbnisse unserer Antiken; den Jungen soll nun einmal die Welt gehören!

Unter den modernen deutschen Jungen steht der Berliner Schusterjunge oben an. Schon als embryonischer Schuster ist er das, was der Schneider erst als Geselle wird: ein rother Republikaner, ein ikarischer Communist, ein gefundenes Essen für Staatsgerichtshöfe. Aber der kleine Schuster steht nicht unter, sondern über den Gesetzen; er zittert nicht vor dem Strafgesetzbuch, sondern vor dem Spannriemen. Der Schusterjunge sitzt meistens in einem tiefen Keller oder in einer dunkeln Hinterstube; aber es kommt der Augenblick, wo die Meisterin ihn entbietet, um den sauren Hering oder den süßen Syrup zu holen, oder wo der Meister ihn mit Schäften oder Vorschuhen entsendet; dann tritt er als Schusterjunge ersten Ranges ins Leben. Noch Niemand hat das Problem gelöst, warum der Schuster in gereiften Jahren einen unwiderstehlichen Hang zu philosophischen und moralischen Betrachtungen, in der Jugend einen unwiderstehlichen Thatendrang besitzt. Wie sonst aus tapfern Rittern die frömmsten Eremiten wurden, so jetzt aus den verwegensten Schusterjungen die contemplativsten Schuster. Es ist nicht unmöglich, daß die Reue über verübte Jugendsünden zu dieser melancholischen Richtung beiträgt, daß, wer alle Genüsse des Lebens gekostet, wer in gleicher 111 Weise den Finger in die Syrupstasse und die Zunge in den scharfen Gurkenessig getaucht hat, in reiferen Jahren nur zu geneigt ist, das Verwerfliche dieser Handlungen einzusehen und an Andern durch Hiebe zu bestrafen. So viel ist gewiß, daß in keinem andern Gewerke, als bei den Schustern, eine tiefere Kluft gähnt zwischen den Neigungen der Meister und ihrer Jungen. Nur die Meisterin differirt in ihren Ansichten vielleicht noch mehr von ihren Schutzbefohlenen. Daher ist das häusliche Leben der Schusterjungen fast immer das Dasein eines Karthäusers. Zum Schweigen verurtheilt, wichst er den Pechdrath, und sein einziger Trost ist, daß ihm Niemand die Butter vom Brode nehmen kann, weil es, wie ein Oelbild vom Pinsel, nur gefirnißt wird. Er kennt nicht den Hausfrieden, sondern nur den Hauskrieg; alle nicht bezahlten Rechnungen empfängt er mit dem Rücken baar von seinem Meister; die Meisterin aber händigt an ihn alle die Volkstrachten aus, die von Rechtswegen der Buckel ihrer eigenen Kinder empfangen müßte. Dafür rächt er sich an der Menschheit auf der Straße. Wie jene berühmten orientalischen Tyrannen, läßt er sie die Langeweile entgelten, die er in seinem Harem erdulden muß. Es ist seine Lieblingsbeschäftigung, um zwölf oder vier Uhr den aus der Schule kommenden Muttersöhnchen aufzulauern und ihnen Katzenköpfe zu verabreichen. Diese Leidenschaft ist in ihm so unüberwindlich, daß er keinen Kampf, selbst mit dem größten Jungen scheut, um dem ungestümen Drange seines edlen Herzens zu willfahren. Seine chagrinartige Haut unterstützt ungemein seine Tapferkeit; wie hörnen Siegfried ist er gefeit gegen Knuffe und Püffe, aber wie Achilles hat er eine schwache Stelle, doch nicht die Ferse, sondern die Haare, an denen die Meisterin ewig läutet. Er geht stets auf der Mitte des Trottoirs, und schlägt sich mit den Stiefeln in der Hand immer durch den dicksten Haufen. Da er nur Sonntags zuweilen ins Theater kommt, so reißt er für gewöhnlich die Theaterzettel als unnütze Waare von den Ecken. Sein Witz ist 112 beißend, ja vernichtend; mit scharfem Auge erkennt er sofort die Schwäche eines Jeden. Wie der Igel ist er gerüstet, sofort seine Stacheln herauszukehren. Aber nicht nur gegen die Menschen richtet er seine Zorneswuth, auch das Thierreich leidet von seiner wilden Gesinnung. Wehe dem Hunde, der ihn arglos in seine Nähe kommen läßt, eines betäubenden Schlages um die Ohren darf er als sicheren Lohn gewiß sein; wehe der Katze, die ihn zärtlich anmiaut und gekraut zu werden hofft, mit pechigen mörderischen Fingern kneipt er sie in den Schwanz, ihres Geschlechtes feine Zier. Außerhalb fürchtet er Niemand; er disputirt selbst mit dem Constabler an der Ecke und treibt ihn durch seine Argumente in die Enge. In den Zeitungen ist er wohl belesen, da er sie stets vor seinem Herrn auf offener Straße studirt. Seine Lieblingslektüre ist der »Publicist« und interessiren ihn besonders alle mit Anwendung von Gewalt verbundenen Criminalfälle.

Wenn er es haben kann, raucht er gern seine Cigarre auf der Straße und verschmäht es auch nicht, weggeworfene Stummel wieder in Brand und in den Mund zu stecken. Bei den Kunden seines Herrn ist er fast immer beliebt und seine Trinkgelder fallen meistens reichlich aus; nur besitzt er die verzeihliche Schwäche, sie seinem Meister nicht, wie der Contract eigentlich verlangt, auszuliefern. Eine vortreffliche Seite an ihm ist seine Liebe zu kleinen Kindern. Diese Liebe ist um so merkwürdiger, als er einen Sonntag um den andern zu Hause bleiben und das jüngste Schusterkind warten muß. Dann scheint er seinen Charakter abgelegt zu haben; er sitzt stille vor der Hausthür und schaukelt das kleine Pechvögelchen. Es wäre Niemandem zu rathen, ihn darüber aufziehen zu wollen, sonst legt er das Kind hinter die Hausthür und fällt wie ein grimmiger Löwe über den Satyriker her. Die Natur giebt in der Jugend des Schusters Alles aus, was sie von Gewaltsamkeit und Thatkraft an ihn wenden wollte; der heranwachsende Schusterjunge wird ruhiger, friedliebender, sein Witz verliert sich, wie die Flügel an gewissen Insekten, 113 wenn sie ihrer nicht mehr bedürfen; er prügelt Niemanden auf der Straße mehr, wenn man aufgehört hat, ihn zu Hause zu schlagen; er wird von Jahr zu Jahr einsilbiger und schwermüthiger, und zuletzt ist er ein Charakter, wie sie jetzt in allen Verhältnissen des Lebens am häufigsten sind und die Oberhand haben; er ist ein alter Schuster!


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