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»Nichts läßt sich schwerer ertragen, als eine Reihe von guten Tagen!« so etwa äußert sich einmal Goethe mitten in einer Epoche, wo ihm alles Herrliche des Lebens in glücklicher Fülle zuströmte, und darum ist es besser, setzen wir bescheidentlich hinzu, daß der Mensch nicht den ganzen Sommer über auf dem Lande oder im Freien wohnt, sondern nur ein Absteigequartier besitzt, und in Mußestunden bei schönem Wetter hinauskommt.
Wir wollen unsern Freunden hier das große Geheimniß des Absteigequartiers verrathen, nicht jenes von der Polizei verfolgten, das leider unser verderbtes Zeitalter nur allzugenau kennt, sondern ein Geheimniß, um das die Allerwenigsten wissen. Der Mensch frißt mit großer Herablassung die Auster und viele andere Schaal- und Panzerthiere, er zertritt rücksichtslos das Gehäuse der Schnecke, des Menschen Magd fegt ohne Erbarmen die traulichen schattigen Boudoirs der Spinne aus den Ecken, und derselbe Mensch bedenkt nicht, daß er nichts Besseres sei, als eben diese zertretenen, weggefegten, aufgefressenen Thiere.
Wie sie, baut er, um zu leben, aus der Nichtsnutzigkeit seiner selbst ein Gehäuse um sein denkendes Theil, er spinnt sich Winkel von grauen Fäden, aus denen er aus dem Hinterhalt auf seine Beute schießt, er kneipt mit selbstgemachten Scheeren seine Brüder; der Mensch ist nicht besser als andere Thiere; er kann unmöglich unter die anständigen Leute gerechnet werden. Und doch, wenn man den Menschen genauer prüft, kann man ihn nicht ganz 21 verloren geben; es steckt in ihm etwas Aehnliches, wie das seltsame Juwel, das uralte Kröten nach der Sage im Kopfe tragen sollen. Was im Menschen verborgen ruht, muß nur aus dem kalkigen Schneckenhause, dem steinigen Krebspanzer, den staubigen Spinnenwinkeln, die er sich in seiner jammervollen Tagesarbeit zusammengeschwitzt und gesponnen hat, zuweilen hinaus an den blauen Himmel, wo schöne Sterne von Gedanken und Gefühlen kreisen! Das ist das Geheimniß des besseren reuigen Menschen aus der tiefen Erbärmlichkeit unseres Daseins, daß er ein helles sonniges Absteigequartier besitzt, wohin er nach der Ackerarbeit um das Brod seinen Sessel hinausrückt in den Garten der Unsterblichen, die für uns Stümper und Bettler gepflanzt haben. Ob er sich dann hinaussetzt unter die mächtigen dunklen Blätter des Shakespeare, oder die Nachtschatten des Calderon, ob er mit Göthe's Blumen das Haupt kränzt oder sich an Schiller's Spalieren labt, das ist Alles gleichbedeutend. Ob Einer in den Veda's oder in dem Todtenbuch von Memphis wohnt, ob er sich ein Sommerhaus von gesammeltem bunten Schmetterlingsstaub oder von Infusorienschalen baut, das ist seine Sache. Es kommt nur darauf an, daß Jeder hinaus muß aus den trockenen Brodrinden in sein Absteigequartier. Nun giebt es aber Viele und es sind ja die Meisten, die von solcher Wohnung nichts wissen wollen und – können, die aber doch ein dunkles Bedürfniß spüren, nicht immer in der Stallfütterung zu stehen, sondern auch einmal auf das wohlige Gras zu gehen, diese nehmen das Absteigequartier buchstäblich und miethen es vor den Thoren. Darum darf jedoch sein Einfluß nicht gering angeschlagen werden, auch das kleinste Sanssouci ist im Stande, vor der Welt zu retten.
Es giebt Absteigequartiere, die den ganzen Sommer über nicht mehr kosten, als die Landpartie eines Sonntags, wie sie eine wohlhabende Familie zu unternehmen pflegt. Zwei alte Jungfern miethen sich eine Fliederlaube vor dem Thore, gehen alle Tage hinaus, ziehen zwischen sich 22 und der Welt einen Bindfaden quer über den Eingang und trinken ihren einsiedlerischen Kaffee. Vor zwanzig Jahren saßen beide am fashionablen Ende der Stadt unter einem gestickten Zelte und warteten des Freiers, der nach ihrem Kränzlein käme. Väter sind nicht unsterblich, Capitalien nicht unantastbar, das Barometer der Börse hat auch nur eine Glasröhre und die Jungfern wurden alt und arm. Anfangs fuhren sie auf die Welt los wie die Boa und die Tigerin auf den armen Wanderer zwischen ihnen, allein sie stürzten mit ihren Zungen die Welt nicht um, an der schon andre Leute als sie vergeblich gerüttelt haben. Dann wurden sie allmählig ruhiger. Sie saßen zwar im Sommer nicht mehr vor einem stolzen Landhause, allein sie saßen in einer blühenden Fliederlaube. Den früheren Fliederwald ihrer väterlichen Villa hatten sie vor lauter Bäumen nicht gesehen; den einen wohlthätigen Fliederstamm sahen und liebten sie. Die Natur hatte sie veredelt. Sie schimpften nicht mehr auf die Menschen, so sehr diese es auch verdienen mochten; Armuth und Einsamkeit hatten die bösen Zungen geheilt. Sie liebten beinahe die Welt, seit sie sich durch ihrer Hände Arbeit darin lebendig erhalten mußten.
Ein junger Poet, seines Zeichens ein beginnender Rechtskundiger, hat beschlossen, um ein Werk, das seinen Namen auf die fernsten Geschlechter bringen soll, in Muße und Ungestörtheit zu vollenden, ein Absteigequartier vor der Stadt zu miethen. Wenn die Termine zu Ende sind, wenn er die unergründlichen und unaufhörlichen Häkeleien und Schimpfereien, welche alle auf dem Stadtgericht zusammenfließen, Mittags durchwatet hat, zieht er sich in seine Garteneinsamkeit zurück. Am offenen Fenster des Stübchens steht ein Schreibtisch, an ihm käut der Dichter zum Dessert – seine Feder. Es hat Einer irgendwo gesagt, wo es Etwas Gutes in der Welt gäbe, da sei desselben auch immer viel; nach diesem Ausspruch lassen sich einige Zweifel hegen über die Verse des Referendarius, denn er verfertigt im Laufe eines Nachmittags ihrer 23 nicht viele. Die Verse gehen dem armen Manne nicht mit der Leichtigkeit ab, welche ein Zeichen von einer gesunden poetischen Constitution zu sein pflegt. Ohne künstliche Anregungsmittel, ohne einige Seiten im Lord Byron oder Heine gelesen zu haben, bringt er nicht das geringste Häuflein Reime zu Stande. Nicht fünf Schritte vor seinem Fenster stehen aber mehrere Bienenstöcke, und während er sich abängstigt, tragen die Bienen den süßen Honig in die zarten durchsichtigen Zellen, die sich wie die Stanzen eines Lobgedichtes auf die Natur und den Sommer kunstvoll ineinanderfügen.
Er hört das melodische Summen der geflügelten Arbeiter und seufzt dabei ob seiner lyrischen Walkmühle; endlich kommt es bei ihm zum Durchbruch. An einem herrlichen Abend thut eine Schwalbe seinem Manuscript, was ihre Aeltermutter dem Tobias that, und er springt auf und ruft das Gegentheil des anch' io sono pittore – »nein, ich bin kein Dichter!« Der Referendarius geht auf der Stelle in sich, er zerschneidet die Lyrik in Fidibusstreifen, ahmt den Bienen nach, hat also keine Reste mehr, braucht keine Ausputzer der Vorgesetzten zu fürchten und spielt in seinem Absteigequartier höchstens noch mit Freunden einige Robber Whist. Die Welt hat einen schlechten Dichter verloren und einen guten Stadtgerichtsrath gewonnen.
»Lieber Doktor«, sagte im Mai ein Erbhämorrhoidarius und des deutschen Reiches würdiger Erzhypochonder, »lieber Doktor, es ist mit mir vorbei, hier sehen Sie – hier, hier sticht es – hier zuckt es alle Abende, wenn ich mich zu Bett lege, ich kann mich den Tag über nicht von der Stelle bewegen, habe Mittags einen krankhaften Heißhunger, offenbar den sogenannten falschen Appetit, und schwelle täglich mehr an. Ich glaube, es ist die Wassersucht, wenn es nicht der Magenkrebs ist, worauf dieses Kneifen unter der Herzgrube zu deuten scheint. Etwas Gicht und Podagra ist unter jeder Bedingung dabei im Spiele.« »Sie müssen ein Absteigequartier vor dem 24 Thore miethen!« antwortete der schlaue Arzt. »Kann ich denn nicht lieber gleich eine Sommerwohnung nehmen?« fragte der Erzhypochonder. »Nein«, sagt der Arzt, der ihn zum Gehen veranlassen will, »Sie müssen in der Stadt schlafen, aber schon um fünf Uhr hinausgehen und im Freien den Brunnen trinken, auch würde ich Ihnen rathen, sich mit Gartencultur abzugeben. Wenn sie selbst graben und pflanzen, Unkraut jäten und begießen, machen Sie alle Experimente der schwedischen Heilgymnastik durch!« »Soll ich nicht lieber ganz in die Anstalt für schwedische Heilgymnastik gehen, ich habe einmal die Heilgymnastik von Dr. Neumann gelesen, und denke mir, daß die »halbstrecktreppstehende Seitenbeugung«, oder die »neigwendspaltensitzende Lendendrückung«, vielleicht auch die »schenkelgegenklaftertiefkrümmende Rückenerhebung« sehr gesund sein muß?« »Sie werden thun, was ich Ihnen verordne!« sagt der Arzt, »wenn Sie den Brunnen getrunken haben, sollen Sie schwimmen und baden, darum können Sie nicht in einer entfernten Sommerwohnung Tag und Nacht bleiben!«
Der gehorsame Knabe beginnt also zu graben und zu säen; unter Seufzen und Stöhnen trägt er selbst das Wasser herbei und ruht nach gethaner Arbeit auf den harten Schemeln des Gärtners in der Vorstadt, bei dem er sein Absteigequartier genommen hat. Keine Droschke, kein Omnibus fährt früh Morgens hinaus; er ist lediglich aus sein eignes Pedal, wie eine Melodie am Klavier auf den Baß angewiesen. Allmählig geht mit ihm eine Veränderung vor.
Früher hatte er an jedem Morgen nur neu hervorbrechende Keime von Krankheiten beobachtet, jetzt wird seine Aufmerksamkeit durch die gesunde Vegetation rings um ihn her gefesselt. Des deutschen Reiches Hämorrhoidarius fängt wieder an zu glauben, daß es noch einige gesunde Gegenstände in der Welt gebe, und daß er selbst mit der Zeit wohl noch dazu gehören könne. Er bringt es sogar schon so weit, Abends in ein Sommertheater zu 25 gehen und über einen elenden Witz zu lachen. Die Moral des Mährchens vom Sultan mit dem Ballschlägel, aus Tausend und eine Nacht, hat sich an ihm bewährt.
Heil dem Manne, der mit den Seinigen nur ein Absteigequartier hat; er kann nie durch ein feindliches Besuchscorps meuchlings von der Stadtseite her überfallen werden. Ein gutes Absteigequartier ohne Küche ist wie eine bombenfeste Kasematte. Nur das unglückliche Hessenland hat erfahren, als man ihm zehntausend Knödelmägen auf Execution schickte, wie einer Familie in der Sommerwohnung zu Muthe ist, wenn sie plötzlich und unvorbereitet von lieben Freunden occupirt wird. Im erhebenden Bewußtsein seiner Sicherheit kann der Mensch von der höheren Zinne des Absteigequartiers philosophisch auf die Leiden einer solchen Razzia herabblicken. Wir aber sind gezwungen, die Reihe heiterer Sommerlandschaften mit einem düstern Tableau zu schließen; wir dürfen unseren Lesern auch die Nachtseite des Landlebens, die Kehrseite der Münze nicht verbergen.
Arglos sitzt eine Familie im Schatten einer deutschen Linde und hat eben ihren Kaffee verzehrt, nur noch Karlchen, des Vaters letztgemaltes sprechend ähnliches Portrait, beschäftigt sich damit, einige untergehende Semmelbrocken aus seinem stark mit Milch und Wasser verfälschten Kinderkaffee zu fischen, da öffnet sich die Gartenthür und mit Freudengeschrei bricht die theuerste Freundin des Hauses, begleitet von den lieben Ihrigen, in den Garten. Jede plötzlich einfallende Familie stößt ein Freudengeschrei aus, weil sie zu Fuß hinausgegangen und froh ist, angekommen zu sein und gratis bewirthet zu werden. Andere erklären dies Geschrei, wie den Trommelwirbel am Schaffot – um die letzten Worte Ludwigs XVI. zu übertäuben. Der nichtswürdiger Weise überfallenen Hausfrau fällt die Handarbeit vor die Füße, denn kaum hat sie das feindliche Corps erblickt, so berechnet sie auch schon die Kosten der Invasion und vergleicht den Festungsproviant von einem halben Brode und anderthalb Vierteln Schlackwurst 26 mit der Kopfzahl der Neuhinzugekommenen. Leider hat eine Familie, die fast eine halbe Meile im Sommer zu Fuße gegangen ist, einen ächt bairischen Appetit. Das unglückliche Weib muß ihren Jammer hinter der Maske der »aufrichtigen« Freude verbergen; die beiden Freundinnen haben sich so lange nicht gesehen, die Kinder spielen so gern mit einander – »mein Mann kommt vom Büreau nach!« (ja er kommt, dieser verdammte Kerl) – »Sie wohnen wirklich reizend, meine Liebe! den Bäcker und Schlächter haben Sie gewiß auch in der Nähe?« – »Keinen Kaffee, meine Liebe! nur unseretwegen keine Umstände! wir haben schon in der Stadt Kaffee getrunken!« Die Invasionsarmee läßt sich indessen erweichen und trinkt noch einmal Kaffee, den die Hausfrau selber kochen muß, da das Dienstmädchen unterdessen auf eine Zwiebackexpedition ausgesandt wird. Nach dem Kaffee vertheilen sich die Kinder im Garten und Karlchen vom Hause namentlich beeilt sich, Karlchen aus der Fremde einen künstlichen Hafen zu zeigen, den er neben einem gewissen »stillen Meer« heimlich angelegt hat. Jetzt unterhalten sich die Damen ungestört über weibliche Politik: die Mägdeangelegenheiten, die ewige orientalische Frage oder das Frankreich des Hauses. Noch ist keine Stunde verflossen, so läßt sich aus der Tiefe des Hofes ein Jammergeschrei vernehmen – Karlchen vom Hause bringt das städtische Karlchen geführt. Das unglückliche Kind hat beim Hafenbau Schaden genommen und ist bis an den Hals in das stille Meer gefallen! »Nirgends befindet sich der Mensch besser, als am Busen seiner Familie!« Armes Karlchen, ehe du darin einstimmen kannst, wirst du erst mit wenigstens zwölf Gießkannen Wasser begossen, dann von der murrenden Magd ganz entkleidet, dann warm gebadet, dann mit Eau de Cologne gewaschen, dann in des andern Karlchen's Kleider gesteckt und dann an den Busen deiner Mutter gedrückt. Dieses Abenteuer hat dem Besuch aus der Stadt eine andere Wendung gegeben. Man spricht nur noch von dem Abenteuer, die Kinder erwarten die 27 Väter schon lange vorher am Gitter, um zuerst die Nachricht zu überbringen, das Abenteuer ruft lange Geschichtserzählungen von ähnlichen Ereignissen hervor, es duftet in das spärliche Abendessen hinein, es giebt Stoff beim Abschiede, Stoff auf dem Heimwege, Stoff zu einem furchtbaren Fluch der Sommerbewohner über die Besucher aus der Stadt, endlich Stoff zu zwei großartigen Ausprügelungen der beiden Karlchen! Darum Heil dem Manne, der nur ein Absteigequartier gemiethet hat! 28