Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nur wenig über dem Spiegel des Meeres erhaben, liegen einige schattige Stellen des Thiergartens, auf welchen der Naturforscher, wenn er seine »Ansichten aus der Berliner Natur« schreibt, mit dem scharfen Blicke der Wissenschaft zu verweilen gezwungen ist. Das uralte und doch ewig junge Element des Wassers hat hier seine bleibende Wohnstätte aufgeschlagen, aber es ist nicht das Wasser, wie es trübe schäumend aus der blaugrünen Grotte des Gletschers schießt, wie es in hellen Tropfen vom Himmel fällt, wie es in flüssigem Krystall über den Fels rieselt, wie es um den Ufersand des Oceans tändelt; es ist ein in der Rangordnung der Gewässer sehr niedrig stehendes Fluidum, besitzt, als eine unerschöpfliche Fundgrube von Infusorien, nur für die Besitzer von Sonnenmikroskopen 14 eine große Wichtigkeit, und wird mit einem sehr unwissenschaftlichen, ja nichts weniger als allgemein geachteten, aber volksthümlich bezeichnenden Namen »Puhl« genannt.
An seinen Gestaden berückt der Knabe mit rothem Lappen den frommen Frosch, um ihn zu Hause der Katze, oder der Schlange im Grase vorzuwerfen, fängt der wißhegierige Jüngling den gefräßigen Wasserkäfer, hält sich der erfahrene Mann die Nase zu, wenn er vorüber geht. Undurchdringliches Entenflott macht den Spiegel dieser Gewässer blind, die Trauerweiden heben wie zierliche Damen die Enden ihrer grünen wehenden Gewänder auf, um sich nicht zu beschmutzen, und die stämmigen Erlen stehen, wie Fischer in Wasserstiefeln, resignirt in den faulenden Lachen. Die Geschichte der Mark kann sich nicht erinnern, diese Gewässer je fließend gesehen zu haben. Als der Thiergarten noch ein Urwald war, wälzten sich in ihnen die Ursäue. Als der Thiergarten ein wohlgezähmter Park geworden war, baute man an ihren Ufern Sommerwohnungen.
Die Sommerwohnungen an den Wassern Berlins sind die Amphibien unter den Häusern. In ihren Kellern steht das Wasser selbst in den trockensten Sommern kniehoch. Verzweifelt harrt die heimathlose Ratte an dem Rande des Abgrundes und findet nicht, wo sie ihr Haupt hinlege. Längst sind die Kellerwürmer ausgezogen, Schimmel verziert die Wände, am trüben Fenster wachsen namen- und blüthenlose Gewächse, die untersten Stufen der Kellertreppe sind verfault, und nicht giftige, aber dennoch nicht eßbare Schwämme wuchern in den Ecken. Wenn die Hitze in der Mitte des Sommers steigt, dringen pestilenzialische Dünste gen Himmel und vergiften die ganze Wohnung.
Der Mensch ist, was auch die Scholaren der Prießnitzschen Philosophie sagen mögen, nicht zu einem Amphibium geschaffen; aber er kann es werden, wie der Mensch Alles werden kann. Er braucht nur so lange zu warten, bis alle trocknen Sommerwohnungen vermiethet sind, er braucht nur eine eigensinnige Frau zu haben, die auf einem 15 Quartier im Thiergarten besteht, und die Naturgeschichte verzeichnet seinen Namen ohne Aufschub in die Rubrik der kaltblütigen Thiere. Dieser Prozeß der Umwandlung einer gesunden warmblütigen Familie in etwas Eidechsenartiges ist zu merkwürdig und lehrreich, als daß er nicht ausführlicher dargelegt werden sollte.
Der Umzug ist glücklich besorgt. Alle älteren Möbel, wie man sie im Mai zu Tausenden gleich gebrechlichen Hospitaliten in die Sommerwohnungen hinauswanken sieht, sind aufgestellt, der Abend ist hereingebrochen, etwas aus der Nähe herbeigeholte saure Milch hat Alle nach dem sauren Tagewerke gelabt, man ist zu Bette gegangen. Die Familie schläft in dem Hauptzimmer, das Dienstmädchen ist in einer Art von Kajüte untergebracht. Das Zimmer, in dem dieses aus Berlin gebürtige Wesen wohnt, hat wirklich Manches von einer billigen Schiffsgelegenheit nach Amerika. Obgleich Niemand etwas dem Wasser Aehnliches darin bemerkt, so macht es doch den Eindruck, als ob es im Schiffsraum eines lecken Fahrzeuges läge. Durch eine merkwürdige Ideenassociation fallen Jedem unwillkührlich schreckliche Geschichten von Fahrzeugen ein, die bei Nacht auf einen verborgenen Felsen stießen, von Passagieren, die durch rasendes Pumpen das Schiff flott erhalten helfen mußten, von Nothschüssen, von einem Floß, auf dem die Mannschaft wochenlang auf dem Ocean umherschwamm, von verhungerten Matrosen, die sich untereinander verloosten und aufaßen. So wenig Phantasie das Dienstmädchen auch hat, so scheint ihr doch eine Ahnung von Ungeheuerlichkeiten aufzusteigen. Sie legt sich murrend zu Bette.
»Ich weiß nicht, liebes Kind, es ist hier eine so sonderbare Luft, öffne doch ein wenig das Fenster!« sagt die Frau zu ihrem Manne, der noch eine stillschweigende Nachtcigarre raucht.
»Es kommt mir auch so vor«, antwortet der Mann, »vielleicht rührt es daher, daß lange Niemand hier gewohnt hat.«
16 In einiger Verstimmung schläft man ein, da erschallt plötzlich aus der Schlafkammer des Mädchens ein Jammergeschrei, wie es der Mensch ausstößt, weniger wenn er an seiner Ehre, als wenn ihm an seinem Leibe wehe gethan wird. Das Ehepaar erwacht mit einem tödtlichen Schrecken; die Kinder fahren aus ihren Betten in die Höhe und singen ohne Weiteres die zweite Stimme zu den Lamentationen der Köchin. Was bedeutet das Geschrei? drangen blutige Mörder in den ländlichen Aufenthalt? erkühnte sich ein Tarquinius der Kaserne . . . . . ? erschien der entsetzten Jungfrau ein Geist aus dem Dr. Justinus Kerner? Die Sache klärt sich in einer weit harmloseren Weise auf. Die Köchin ist zwar erwacht, weil ihr etwas wie eine eiskalte Hand in das Gesicht gefaßt hat, allein als die Person entschlossen zugegriffen, war es kein Geist gewesen, sondern nur ein kleines kaltblütiges Thier, das Anciennitätsrechte an die Sommerwohnung besaß, da es seinen Winterschlaf daselbst gehalten – eine Kröte. Ohne die unausbleibliche Begleitung der Maus war dieses harmlose Geschöpf noch »Abends späte« den steilen Berg einer Köchinnennase hinangestiegen.
Der Morgen findet die unglückliche Familie in einer namenlosen Verlegenheit. Die Köchin hat die ewigen unveräußerlichen Rechte der Küchendragoner vom Himmel gerissen, und einen Brief an ihre Mutter geschrieben, um sie hinauszurufen, und mit ihrer Hülfe außer der Ziehzeit von einer Familie loszukommen, wo Kröten ungestraft einsprechen dürfen. Die Verwirrung wird durch das Jüngste noch gesteigert. Es hat sich auf ein Fußbänkchen in den Winkel gesetzt und scheint eben in Begriff zu stehen, in das Genus der Chamäleons überzugehen. Im Wechsel der Farben bewegt sich das Jüngste wenigstens schon sehr glücklich zwischen Gelb und Blau. Ganz besonders schön aber ist der Moment, wo sich ein prachtvolles Fiebergrün selbst dem Weißen im Auge mittheilt. Das Jüngste, ein ungemein früh entwickeltes Skrophelkind, hat das gelungenste Wechselfieber der Jahreszeit. Um das 17 Elend zu erhöhen, kann man kein Feuer anzünden. Alle Zündhölzer sind in einer Nacht durch die Feuchtigkeit der Wohnung unbrauchbar geworden. Man muß, weil man leider nicht wie die Karaiben durch Reiben zweier Hölzer Feuer anzuzünden versteht, drei Häuser weiter Zündhölzer holen, da auch die neueingezogenen Nachbarn an demselben Uebelstande leiden.
Am zweiten Tage bekommt das Nachjüngste, am dritten das Aelteste, am vierten die Hausfrau, am fünften die Köchin das Fieber. Noch ist Niemand auf die scharfsinnige Idee gekommen, daß dieses communistische Fieber mit der Wohnung zusammenhänge, man hat es bisher auf einen gewissen anrüchigen, aus Hamburg zum Präsent geschickten Seefisch geschoben, dann auf eine Leberwurst von höchst zweifelhaftem Charakter; als aber die Hausfrau am sechsten Tage einen Koffer öffnet, in dem sie alte Klaviernoten aufbewahrt hat, und sich nun auf dem Titelblatt des Sehnsuchtswalzers eine zarte Vegetation zeigt, wie sie sich in den Tintenfässern fleißiger Schulkinder und Schriftsteller zu entwickeln pflegt: da fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Die Wohnung ist feucht!
So wie der Hausherr Mittags zum Essen herauskommt, wird Lärm geschlagen, alle Möbel werden von den Wänden gerückt, alle Winkel durchstöbert und wirklich die grauenvollsten und doch erhabensten Dinge entdeckt. Die unendliche Treibkraft der Natur, die ihre Keime selbst in die feuchte Nacht einer berliner Sommerwohnung streut, läßt überall – etwas wachsen. Bald sind es niedliche kleine Moose auf einer Seegrasmatratze, bald allerliebste gelbe Pilzchen auf neuen Stiefelschäften, bald ein feiner Schimmel auf einer ledernen Schreibmappe; in dieser Wohnung giebt es nichts Unfruchtbares! Die Familie starrt mit stummem Entsetzen diese botanischen Phänomene an.
»Wir müssen auf der Stelle nach der Stadt ziehen!« ruft die Hausfrau und drückt das Jüngste, das heute weniger grün, als bläulichgrau aussieht, an ihr Mutterherz.
»Du vergißt, liebes Kind,« antwortete der Hausherr, »daß wir in unserer Stadtwohnung den Maurer in der Küche, den Tischler im Corridor, den Tapezierer in der Putzstube, den Töpfer in der Eßstube und den Maler überall haben, daß der Sommer vergehen kann, ehe das Quartier in der Stadt ausgetrocknet sein wird, und daß wir aus dem Regen in die Traufe kommen können.«
»Ach, das sind wir schon!« seufzte die Arme, »wir wollten der Nässe entfliehen und sind in einen See gerathen – sieh nur das Kind an, wie gelb es ist!« Das Kind ist wirklich in einer halben Minute schön saffrangelb geworden.
»Du siehst also, es hilft uns nichts, wir müssen aushalten, so gut wir können,« bemerkt der Hausherr, der sich eine Art Philosoph zu sein schmeichelt. »Schenke der Köchin ein billiges Jaconnetkleid, damit sie nicht murrt, und dann frage den Arzt nach Mitteln gegen die Feuchtigkeit. Man muß dergleichen haben. Ich erinnere mich, einmal darüber etwas im Pfennigmagazin gelesen zu haben. Wir müssen Ventilatoren anbringen, wie man sie auf den Schiffen hat, Windfänge, die den frischen Luftzug in die unteren Räume leiten. Beruhige Dich nur, es wird sich Alles geben!«
Aber es giebt sich nicht. Das Fieber setzt sich in der Familie, wie die Russen in den Donaufürstenthümern fest, die Köchin sinnt, ungeachtet des Jaconnetkleides, auf Flucht zu ihrer Mutter, und auch der Hausherr, der den größten Theil des Tages in der Stadt zubringt und sich bis jetzt gehalten hat, beginnt zu kränkeln. Bei ihm äußert sich die Sommerwohnung aber nicht als Fieber, sondern als Rheumatismus. Er hat Reißen in allen Gliedern und schildert dem Hausarzt sein Leiden, analog der Empfindung eines alten Königsmörders, wenn beim Viertheilen die Pferde zuerst angezogen. An was gewöhnt man sich zuletzt nicht? Hat doch ein Märtyrer auf der Folter schlafen können! Nach vier Wochen hat sich die Familie in ihr Schicksal gefunden.
19 »Wir sind jetzt alle Amphibien geworden! aber ich möchte wohl wissen, ob alle Amphibien auch Fieber und Reißen haben?« bemerkt der scherzhafte Hausherr in einem Augenblicke, wo das Gliederreißen ihm einige Ruhe vergönnt. Der unerwartete Besuch einer Kröte erschreckt Niemanden mehr, die Kinder jagen sich mit den jungen Fröschen, suchen Regenwürmer und füttern ihre Wasserkäfer damit. Der Schimmel, die Moose und Pilze werden geduldig abgekratzt und das Fieber wird wie ein etwas launischer, aber doch lieber alter Freund betrachtet. Die Familie setzt sich an warmen Tagen, wie ein Schwarm durchnäßter Sperlinge, an die Sonne und trocknet ihre matten Glieder.
»Wenn wir wieder nach der Stadt kommen, Kinderchen, werden wir Alle gesund werden!« tröstet die Hausfrau, da alle bitteren Pulver des Hausarztes nicht anschlagen. Man freut sich förmlich auf die Stadtwohnung, wie sich andere Leute auf eine Badereise freuen, denn man hat eingesehen, daß der märkische Sand nur eine hohle Redensart, der Thiergartensumpf aber eine »tiefe« Wahrheit ist. Endlich wird es selbst dem Fieber zu langweilig, die armen Kinder zu plagen, es weicht vor der trockenen Wärme des August, der Hausherr verliert seinen obligaten Rheumatismus und an einem schönen Morgen zeigt sich auf der Schwelle der Gartenthür – die erste Maus. Die Wasser der Sündfluth sind verronnen – eine Maus konnte im Keller wieder festen Fuß fassen. Die erste Maus wird mit derselben freudigen Rührung begrüßt, wie die Primula veris und die erste Schwalbe; noch nie sind an eine Maus so viele poetische Empfindungen verschwendet worden. Wie die Tausendfüße und Scorpionen in Neapel Vorboten des Lenzes, ist diese Maus die Vorläuferin eines gesunden Herbstes, eines abgedankten Arztes, eines Striches unter die Apothekerrechnung! Am Tage darauf zeigt sich auf den Backen des Jüngsten ein Anflug von der Morgenröthe der Gesundheit, die Familie geht 20 allmählig aus dem Stadium der Amphibien wieder in das der Säugethiere über. Die Tragödie der Sümpfe hat ihre Versöhnung gefunden.