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An dem Ufer der Spree, in der Nähe der Zelte stehend, sieht der Spaziergänger über Wiesen und Baumgipfel in der Ferne einen seltsamen Haufen von Mauern und Thürmen emporragen. Neben den klar übersichtlichen Verhältnissen der an den pittoresken Styl schottischer Burgen erinnernden Kaserne der Dragoner, erscheint jenes Gewirr noch neuer Mauern als die wunderliche Anlage eines eigensinnigen und menschenfeindlichen Bauherrn. Man verfolgt den Weg über das Wasser, läßt die großartige Kaserne zur Linken und hat nach einer halben Stunde den unregelmäßigen Bezirk erreicht, über dessen hohe Mauern öde Wachtthürme und lange kahle Dächer schauen. Nur hie und da tritt ein Vorbau mit hellen Glasfenstern, geschmückt durch Vorhänge und freundliche Blumentöpfe, aus der nüchternen Umfriedigung hervor und erweckt einige heitere Gedanken.
Dieser scheinbar verworrene Bau, dieser abgesperrte, so barock geformte Mauerklumpen ist ein tief überdachtes Menschenwerk, ein reiflich berechneter Mikrokosmus, der seinen traurigen Zweck in einem nahe an die Vollkommenheit der Verzweiflung grenzenden Grade erfüllt. Es ist die neue Strafanstalt, der architektonische Ausdruck für ein modernes philosophisches Criminalsystem.
Auf das Zeichen mit der Glocke öffnet sich eine schwere Thür, man steht in einer Vorhalle mit der Aussicht auf 29 einen kleinen saubern Hof und den Eingang zum Hauptgebäude. Der Beamte weist dem Eintretenden mit leisen Worten den Weg; eine stumme Schildwache geht klirrend auf und ab. Das Zwitschern eines Fluges Sperlinge ist das einzige Geräusch des Lebendigen und doch sind hier in der zeitigen Nachmittagsstunde nahe an tausend Menschen mit rastloser Arbeit beschäftigt. Ueber einige Stufen schreitet man in einen langen, winterlich dunklen aber wohl erwärmten Corridor. Die vortrefflichen Dielen des Fußbodens sind gleich dem elegantesten Salon dunkelbraun gebohnt, reinliche feste Strohmatten bilden einen Weg für die Fußgänger und zahlreiche Thüren mit Nummern führen zu eben so vielen Büreaus der inneren Verwaltung. Eben sind einige Sträflinge beschäftigt, mit Besen, Tüchern und Bürsten den Glanz einer getrübten Stelle des Parquets wieder herzustellen. Sie verrichten dieses Geschäft mit einer Vorsicht, als wollte die Thätigkeit der Hände mit dem Schweigen ihrer geschlossenen Lippen wetteifern. Ein Beamter öffnet rechts ein Seitenzimmer, um darin den Director der Anstalt aufzusuchen, von dessen Erlaubniß die Besichtigung der Anstalt abhängig gemacht wird. Das Zimmer, in dem man wartet, enthält eine altarähnliche Vorrichtung, bestehend aus einem Vorhange von dunklem Stoff und den darüber stehenden Tafeln der zehn Gebote. Einige Stufen hinter dem grünbezogenen großen Schreibtische erhöhen die Würde dieser Stätte. Hier werden ernste Verhandlungen, seien sie kirchlicher, seien sie gerichtlicher Art, mit den Sträflingen vorgenommen, Sühneversuche in Scheidungsklagen, eindringliche Ermahnungen; hier werden auch die Todesurtheile vier und zwanzig Stunden vor der Vollstreckung vorgelesen. Nach kurzer Zeit kommt der Beamte zurück und bringt die Erlaubniß des Directors.
Jetzt thut sich das Gitter des Geheimnisses vor dem Eintretenden auf, ein eisernes schweres Gitter, und man steht in dem Mittelpunkte, von dem aus sich vier lange Radien entfernen, von denen zwei in einer Fronte 30 zusammenfallen, auf welcher die beiden andern in einem Winkel von sechzig Graden stehen. Diese vier langen und schmalen Säle, wenn man sie so nennen will, sind zwei Stockwerke hoch und bis zur Höhe des Daches vom Mittelpunkt eines gedachten Halbkreises, der die vier Radien umspannt, vollkommen zu überwachen. In den beiden Stockwerken liegen Thür an Thür die einzelnen Zellen und ein auf leichten geschmackvollen Eisenconstructionen ruhender, mit polirten Schieferplatten belegter Gang, zu dem man auf eisernen zierlichen Treppchen hinaufsteigt, fährt an allen Wänden hin. Ein zweiter Gang, der sich über diesem Hauptpfade in kleineren Dimensionen unter dem Dache hinzieht, dient zu verschiedenen häuslichen Verrichtungen, Reinigungsgeschäften und Inspectionen. So weit die Blicke tragen, herrscht überall die makelloseste Reinlichkeit, mit der nur die Verdecke eines englischen Kriegsschiffes wetteifern können. Der Fußboden ist spiegelblank polirt, auf den Strohmatten ist kein Flecken zu bemerken, die eisernen Verschränkungen der oberen Gänge schimmern rostfrei in ihrer natürlichen Farbe, und kein Fenster, auch nicht das der reinlichsten Hausfrau, kann sich neben den klaren Scheiben des mittleren halbrunden Raumes sehen lassen. Die milde Wärme einer Dampfröhrenheizung durchdringt alle Räume. Von Waffen, von Zwangsmitteln keine Spur. Der Director Bormann, ein stattlicher Herr in reifen Jahren, mit hellen, scharfen aber gutmüthigen Augen, mit menschenfreundlichen Zügen und ruhig-zuversichtlichem Wesen, steht in schlichter bürgerlicher Hauskleidung vor dem Gitter und sendet eben seine forschenden Blicke nach allen Richtungen. Nirgend zeigen sich in den weiten kahlen schweigenden Räumen menschliche Wesen, nur am Ende des langen Saales zur Rechten brennt ein behagliches Feuer und eine nicht unbeträchtliche Anzahl Personen sitzt lautlos beschäftigt an einem langen Tische. Ein kurzsichtiges Auge erkennt in dieser Entfernung nichts Näheres. Später entdeckt man, daß es die Schneider unter den Sträflingen sind, welche 31 hier die schadhaften Kleidungsstücke der Anstalt ausbessern und an dem Feuer die Bolzen ihrer Bügeleisen erhitzen.
Die Hunderte von Thüren sind alle geschlossen wie Augen Verstorbener. Sie scheinen in ihrer ehernen Ruhe von innen vermauert zu sein, und doch schafft hinter jeder ein Mensch an unendlichem, oft auf die Hälfte, noch öfter auf die ganze Länge eines Lebens berechneten Tagewerke. An einem Tagewerke des Zwanges, nicht der freien Arbeit. Einige Zellen stehen leer. Ihre Bewohner, die sich durch geregeltes Betragen und Fleiß das Vertrauen des Directors und der Inspectoren erworben haben, sind ihren erlernten Handwerken oder Kunstfertigkeiten gemäß, in den Werkstätten, Küchen, Bäckereien, Mühlen und Schmieden beschäftigt.
Die Fenster jeder Zelle sind von außen mit starken Eisenstäben verwahrt, aber es ist ein Irrthum, wenn man behauptet hat, daß die Scheiben aus mattgeschliffenem Glase bestehen. Es sind helle Fenster, und ein kleiner Apparat gestattet den Gefangenen, nach Belieben frische Luft in seine Zelle zu lassen. Der Anblick des Himmels und seiner wechselnden Phänomene steht ihm frei; sie sind der einzige Wechsel in der aschgrauen Einförmigkeit seiner Tage. Der Sieg der Himmelsbläue über die fliehenden Wolken, der spät heranschleichende Mond in schlafloser Nacht, der Abglanz der Abendröthe und der goldene Planet des grünlichen Zwielichtes bereiten ihm wehmüthig beschauliche Feststunden, wenn seine Seele durch die lange Einsamkeit und die Trennung vom Verbrechen für erhabne Empfindungen und die Sympathie der Naturmächte urbar gemacht worden ist. Kein grünes Blatt, keine Blume findet den Weg in die einsame Zelle, aber die allerbarmende Luft trägt auf ihren Flügeln einen leisen Hauch des Frühlings, den stärkenden Duft des Heu's und der Erntefelder über Land und Wasser in den Sarg des Lebenden.
Die Zelle ist durch eine starke Thür mit einem kunstvollen Schlosse verwahrt. In der oberen Hälfte derselben 32 befindet sich eine von außen zu öffnende Klappe, welche dazu bestimmt ist, dem Gefangenen seine Bedürfnisse zu reichen, wenn er durch die Schwere seiner Verbrechen oder ungebändigtes Betragen sich der Begünstigung verlustig gemacht hat, seine Zelle zu verlassen. Da einzelne Verwegene ungeachtet aller Wachsamkeit die Klappe durchschnitten und darauf mittelst Nachschlüssels die Thür ihrer Zelle zu öffnen versucht haben, ist neuerdings eine eigenthümliche Vorrichtung angebracht worden, welche bis jetzt die gewaltsamsten und sinnreichsten Befreiungsversuche der Gefangenen zu Schanden gemacht hat. Mit dieser Klappe parallel läuft ein kleiner, mit starkem Glase bedeckter Quereinschnitt, der eben nur breit genug ist, um von innen das Auge des Hereinblickenden zu erkennen. Mit einem seitwärts verschiebbaren Blech bedeckt, dient er dazu, den Inspectoren in jedem Augenblicke die genaueste Beobachtung des Eingekerkerten möglich zu machen.
In der Ecke zur Linken des Fensters ist ein kleines hölzernes Gesims oder Fach in die Wand eingelassen; es ist bestimmt, die Eß- und Trinkgeräthschaften aufzubewahren. Aus dickem Zinn verfertigt und auf das Sorgfältigste gereinigt und geputzt, glänzen Schüsseln, Becher und Löffel wie die kostbarsten Silbergeräthe in den Schaufenstern der Juweliere. Da alle Speisen mit dem Löffel genossen werden und der Gebrauch schneidender Instrumente erklärlicher Weise aufgehoben ist, zeigt sich nicht die geringste Schramme, und die alterthümlichen Zinngefäße, welche, auf braunen Eichenschränken schimmernd, den Stolz unserer einfachen Vorfahren bildeten, halten nicht den Vergleich mit diesen Schätzen der Gefangenschaft aus. An derselben Seite steht ein kleines Tischchen mit einem hölzernen Stuhle. Hier verrichtet der Gefangene die Arbeit, welche ihm angewiesen ist und die Kosten seines Unterhaltes deckt. Hinter seinem Platze steht ein in die Wand mündender geruchsfreier Reinlichkeitsapparat, auf welchen den Tag über die zusammengerollte Hängematte, Matratze und Decke ruht. An jeder Seite mit zwei starken, aber 33 um jeden Mißbrauch zu verhindern, möglichst kurzen Haken versehen, wird diese Hängematte allabendlich an zwei rechts und links befindlichen festen eisernen Stangen quer durch die Zelle, etwa zwei Fuß hoch über dem Fußboden ausgespannt. Leichtere Verbrecher schlafen in den unteren Räumen der Strafanstalt gemeinschaftlich und es muß mit einem bedauernden Seitenblick hinzugefügt werden, daß, abgesehen von Millionen Armen, selbst unsere Soldaten, wie sie wenigstens in älteren Kasernen oder Privatgebäuden untergebracht sind, keine so gesunden und wohl ventilirten Schlafstätten haben. Die Luft ist frisch und mäßig warm, die blaugemusterten Betten sind sauber und es läßt sich nicht die geringste Spur von Ungeziefer entdecken. Allen diesen, zwar bis auf die äußerste Nothwendigkeit beschränkten, aber tüchtigen Vorkehrungen, entspricht die Sorge für leibliche Gesundheit und Reinlichkeit der Gefangenen. Ihre schwere Entbehrung der Freiheit wird nicht durch den Mangel an Sanitätsmaßregeln verschärft. Allwöchentlich ist jeder Gefangene in den Stand gesetzt, ja durch die Hausordnung gezwungen, ein warmes Bad zu nehmen. Die dazu bestimmten Zinkwannen mit spiegelblanken Messinghähnen und gut gedieltem reinlichen Fußboden der Badekammern beschämen nicht allein die öffentlichen unentgeltlichen Armenbäder, sondern auch die unteren billigen Klassen der berliner Badeanstalten. Eine Douche und Brause in einer besonderen Kammer dient vornehmlich als heilsames Palliativmittel gegen fingirten Wahnsinn und simulirte Anfälle von Tobsucht, wie sie hier öfter bei Verbrechern vorkommen, die nach der Charité gebracht zu werden wünschen, von wo aus ihnen das Entwischen wesentlich erleichtert ist.
Von Morgens sechs Uhr bis in die frühen Abendstunden sind die Gefangenen mit ihren Arbeiten und Mahlzeiten beschäftigt. Sie erhalten dreimal täglich eine reichliche vegetabilische Kost nebst fünf Viertelpfund groben Brodes, dessen Sorte bei älteren und schwächeren Leuten verbessert wird. Es ist gut ausgebacken und etwas 34 feiner als das Militaircommisbrod. Schwere Handarbeiter genießen eine stärkere Ration und Abends einen Becher leichten Braunbiers. Viermal jährlich an den drei großen Festtagen und dem Geburtstage des Königs wird dieser Mahlzeit Fleisch hinzugefügt, doch ist den Gefangenen gestattet, den zwölften Theil ihres Verdienstes für Häringe, Bier, Butter und Schnupftaback auszugeben. Ein anderes Zwölftel wird regelmäßig zurückgelegt, um einen Fond für den Ablauf der Strafzeit zu bilden, welcher dem Befreiten eine kleine Lebensbasis giebt. Es sind Gefangene da, deren Ersparnisse bereits jetzt hundert Thaler übersteigen. Alles, was sonst durch die Handarbeit erworben ist, wird als Unterhalt des Individuums berechnet, so daß die Anstalt sich in einem wesentlichen Zweige selbst erhält.
Die Existenz der Gefangenen ist nicht, wie die der Armuth täglich in Frage gestellt. Die Mehrzahl unserer Dürftigen erfreut sich weder einer so regelmäßigen und ausreichenden Kost, noch einer so sorgfältigen Pflege ihrer Gesundheit; der Segen einer emsigen Handarbeit ruht auf dem Hause, und doch dämmert ein unheimlicher Geist in jedem Winkel, der eindringende Lichtstrahl stimmt die Seele traurig und auch das ruhigste Gemüth empfindet den heftigen Wunsch nach schleuniger Entfernung. Es ist das eiserne Gesetz des Ortes: das unverbrüchliche Schweigen, welches diese gespenstische Wirkung hervorbringt. Jede großartige Stille erzeugt im Menschen ein Gefühl von Erhabenheit. Die lautlose Beschaulichkeit einer wilden Hochgebirgslandschaft, ein dämmernder windstiller Morgen auf hoher See, die zermorschenden nächtlichen Ruinen einer alten romantischen Stadt, die schattige feierliche Ruhe eines gothischen Domes drängen lebhaftere Gefühle zurück und drücken dem Geiste unwiderstehlich ihren scharf ausgeprägten Stempel auf. Aber es liegt nichts Niederschlagendes in dieser melancholischen Stimmung. Der Geist bemächtigt sich ihrer und indem er die unbestimmte Trauer zu dem Begriff der Natur und Geschichtsnothwendigkeit 35 erhebt, genießt er sich selbst als das Herrschende und Denkende, ohne dessen Gegenwart diese Erhabenheiten nichts Besseres wären, als der unerfüllte Raum. Ein Anderes ist es mit dem Grabesschweigen der Eingekerkerten. Eine große in Betrachtung versunkene religiöse Genossenschaft und das stille Auditorium eines Kunstwerkes verzichten freiwillig auf Mittheilung und Meinungsäußerung. Den Gefangenen ist das Schweigen eine Strafe; es ist mehr, es ist die lebendige und doch todte Zuchtruthe, deren schmerzliche Streiche sie in jedem Augenblick empfinden. Der Beobachter fühlt sich nach kurzer Zeit von derselben bangen und dumpfigen Geistesatmosphäre angesteckt, er wird, so lange er verweilt, von einem furchtbaren Gesetz überwacht, und die moralische Kraft desselben ist so groß, daß es sich wie die Stille der Natur des ganzen Menschen bemächtigt. Allein es wird nicht als ein Accord der großen Weltharmonie in einen logischen Begriff aufgelöst; es bleibt schwer auf dem Herzen liegen oder erscheint als eine tragische Verletzung eines Menschenrechtes, als eine schreckliche Nothwehr der Gesellschaft gegen die Auflehnung der Individuen. Das Schweigen des Zellengefängnisses ist die Vergeltung der vorlauten That.
Hier leben Hunderte von lebendigen Menschen thätig neben einander, doch ist ihre Zusammensetzung nur eine atomistische, nur die Schwerkraft hält sie fest und diese Schwerkraft ist das Verbot der Rede. Die neuere Zeit hat das traurige Verdienst eines solchen Raffinements, der Empfindung des lebendigen Todes, des Grabes, mitten in der angestrengten Arbeit, der hermetischen Absperrung der Gedanken.
Die Theorie des ganzen Systems und dieses Gefängnisses insbesondere ruht auf dem Prinzip des Schweigens und ist deshalb unantastbar mit der Totalität der Erscheinung verwachsen. Was die Subordination in den modernen Armeen, ist das Schweigen bei dieser stets gegen die Gesellschaft bewaffneten, nur momentan unschädlich gemachten Körperschaft. Einige Personen beherrschen mehr 36 als siebenhundert Männer, den Auswurf einer großen Monarchie, sie herrschen ohne Waffen, nur durch die Macht einer Idee, und der criminalistische Calcül ist scharfsinnig genug gewesen, das Schweigen zu diesem Zwecke auszubeuten. Sehr strenge Strafen, wie Entziehung der Kost, Einsperrung auf Latten, Handfesseln u. dgl. m. folgten auf einmalige und wiederholte Verletzung des Gebotes. Nur die Beamten dürfen an die Gefangenen das Wort richten; diese sind einander nichts als die stummen Ziffern einer Zahlenreihe. Und wenn sie zu Hunderten an einem Arbeitstische sitzen; kein Wort darf über ihre Lippen kommen.
Erst hier erkennt man, welche freiheitzeugende Kraft in der lebendigen Rede liegt. Wie ein kühner Gedanke sich oft ohne nachzuweisende Organe, kurze Zeit, nachdem er ausgesprochen wurde, über große Gebiete, gewaltigen Menschenmassen sympathetisch mittheilt und sie zu ungewöhnlichen Thaten aufstachelt, so unterdrückt hier das schwere Interdikt der Rede, das Bewußtsein des absoluten Mangels an allem Freisinn und Frohsinn, die Rachegedanken von nahe an tausend einst tollkühner und thatkräftiger Männer. Schon auf dem ersten, lebhafter zum Herzen andringenden Blutstropfen wird der dumpfe Wunsch nach gewaltsamer Befreiung in der Mehrzahl erstickt.
Allabendlich versammelt der Director, umgeben von drei oder vier Inspektoren, in der großen Centralhalle die nicht ausschließlich zu einsamem Gefängniß verurtheilten Gefangenen und der Geistliche verliest ohne Furcht vor ihnen, von der Höhe der ersten Galerie die üblichen Gebete. Die Gefangenen sehen die rettenden Schlüssel in den Händen weniger Unbewaffneter, ein Gitter, ein gerader Gang und eine nur wenige Mann starke Wache trennen sie von der Landstraße, dem nahen Walde, der großen Stadt, wo Tausende von verdächtigen Personen ihnen ein Obdach gewähren würden, es bedürfte nur eines wilden Rufes: Drauf los! und die wenigen Beamten und Soldaten wären überwältigt, die Schaar ergösse sich wie ein 37 glühender verderblicher Lavastrom über Stadt und Land – aber nein – jener wilde Ruf wird und kann nie erschallen. Nur die erhitzte Phantasie eines Neulings im Kerkerwesen malt sich solche wesenlosen Schrecken aus. Wären diese Menschen noch im Vollgefühl ihrer Stärke, ihres sonstigen Unternehmungsgeistes; an ihrer mangelnden Spürkraft liegt es nicht, wenn sie diese ihnen günstigen Umstände unbeachtet und unbenutzt lassen. Der Gedanke des Schweigens hat eine magische zerstörende, wie der Gedanke der Rede eine zauberische producirende Gewalt. Auf sich allein angewiesen, der gewohnten geistigen Nahrung, und wäre es auch nur die neuer verbrecherischer Unternehmungen, frecher Schwelgereien oder endlich allein der schlauen Vertheidigung, beraubt, ist jedes Gemüth einer Zersetzung anheimgefallen. Analog der Diskussion der Rede, haben sich hier Parteien des Schweigens gebildet. Erhöbe ein Frecher seine Stimme und forderte zum Aufruhr heraus, es würde sofort eine Anzahl Reuiger baldiger Befreiung Hoffnungsvoller, der Gnade Vertrauender über ihn herfallen und ihn zu Boden werfen. Der mächtigste Schutz der Beamten ist diese stille Umwandlung der Seelen zum Bessern und wenn menschenfreundliche Gesinnungen nicht umhin können, sich in der Theorie gegen das Schweigen aufzulehnen, in der Praxis bewährt es sich als ein heroisches Mittel, wie alle starken Gifte.
Bei genauer Forschung entdeckt man jedoch die Ausnahmen. Es giebt unbeugsame, steinerne Naturen, Menschen, die für das Schaffot prädestinirt scheinen, wenn eine solche Annahme nicht allzu wenig philosophisch wäre; diese Wesen werden durch das Schweigen zum Aeußersten getrieben. Ein junger, einst energischer Gefangener erhob sich gewaltsam gegen den Wächter, er griff ihn mit solcher Wuth an, daß ein herbeieilender Beamter von seiner Waffe Gebrauch machen mußte; der Gefangene verlor dabei den Arm. Seit dieser Zeit hat ein dem Blödsinn ähnlicher Zustand sich seiner bemächtigt. Er nimmt keine Nahrung zu sich und wird wie ein kleines Kind durch die Wächter 38 gefüttert. Ein Anderer wollte sich um jeden Preis aus dieser Oede retten. Er durchbrach die Decke seiner im zweiten Stock gelegenen Zelle, kroch den Ventilationskanal entlang in den Schornstein, stieg in der Röhre desselben an neun Fuß empor und kehrte erst um, als ihm durch den Anblick der nahen Schildwache und die furchtbare Höhe die Hoffnungslosigkeit seines Unternehmens vor Augen trat. Die Beamten fanden ihn am Morgen in einem jämmerlichen Zustande, resignirt auf seinem Lager ausgestreckt. Um diesen und ähnliche Waghalse unschädlich zu machen, ist man auf das Auskunftsmittel verfallen, ihnen Abends alle ihre Kleidungsstücke wegzunehmen, ihnen bei besonderer Hartnäckigkeit die Nacht über Handschellen anzulegen und sie alle zwei Stunden durch die Thürklappe wecken zu lassen, wobei sie sich aufrichten und ihre Schellen zeigen müssen. Die humane Direktion wendet jedoch diese energischen Maßregeln nur sparsam und in den seltenen Ausnahmefällen an, welche die Regierung in der Gefängnißordnung ausdrücklich bezeichnet hat. Aber welche Einwendungen lassen sich gegen diese noch machen, wenn ein Bösewicht nach beendetem Sonntagsgottesdienst, in der Nähe von fünfzig Mann Wache mit geladenen Gewehren, den gußeisernen Altarleuchter ergriff und den nächsten Wächter zu Boden streckte?!
Die Wirklichkeit wirft der Philosophie entsetzliche Widersprüche in den Weg – es giebt doch menschliche Raubthiere mit ausgeprägtem Mordsinn und eingeschränkter Willensfreiheit. Wir gingen an der Zelle des Schneiderlehrlings Haube, eines jugendlichen Mörders, vorüber. Seit seiner Verurtheilung hat er dieselbe noch nicht – außer vielleicht zum gemeinsamen Gottesdienste – verlassen. Ich schob geräuschlos das Blech von der schmalen Spalte. Haube saß an dem Tischchen und nähte, eine dürftige Gestalt mit dickem stark entwickeltem knorrigen Hinterkopfe. Gehört konnte er meine Bewegung nicht haben, denn er arbeitete noch einige Augenblicke ruhig weiter, aber war es nun eine mysteriöse Schärfung des 39 Gemeingefühls, wie wir sie bei Blinden wahrnehmen, oder der Einfluß des menschlichen Auges – plötzlich drehte er, wie von einem schmerzlichen elektrischen Schlage getroffen, den Kopf herum und ich sah in ein wildes widerwärtiges Gesicht. Die Physiognomik und die Kraneologie mußten in dieser barocken Physiognomie und grotesken Schädelbildung einige ihrer wesentlichen Hypothesen bestätigt finden. Ich prallte vor einem so beleidigenden Ausdruck betroffen zurück und die Oeffnung war wieder geschlossen.
Die Gesetzgebung darf diesen Creaturen gegenüber das Recht der zu verhängenden Todesstrafen nicht aufgeben; sie ist die Nothwehr der Gesammtheit gegen den Einzelnen!
Einen wohlthuenderen Eindruck machen diejenigen Gefangenen, welche durch Milderungsgründe bei ihren Verbrechen, durch musterhaftes Benehmen und Gehorsam, sich selbst die Aussicht auf dereinstige Gnade eröffnet haben. Ein älterer einst unbescholtener Einwohner, der im Zorn und nach schwerer Kränkung seiner Gattenrechte einen Mord an seinem Weibe beging und auf Verwendung der Berliner Geistlichkeit begnadigt wurde, arbeitet im Verwaltungsbureau und betritt nur seine Zelle, um dort zu essen und zu schlafen. Wenn es einst die Billigkeit gestattet, wird den wiederholten Bitten seiner Angehörigen um Befreiung nicht Gewährung versagt werden.
Die Pforte schloß sich hinter uns. In Strömen goß der Regen herab, der Tag ging zur Neige, aus den Feldern stieg ein wüster Nebel, und doch schmeckte die rauhe ungesunde Luft besser, als die warme behagliche Atmosphäre des prächtigen Kerkers. Es war die Luft der Freiheit.
Ich verweilte noch einen Augenblick vor der stummen verschlossenen Thür. – Einst wurde in armen Verhältnissen ein Kind mit den edelsten Anlagen geboren. Herangewachsen sollte es den Handel erlernen, aber seine großartige Seele lehnte sich selbst gegen die Idee auch der kleinsten, nach den Gesetzen nicht strafbaren 40 Uebervortheilung auf. Fournier erfand ein wunderbares System der schönen friedlichen Gemüther, ein System der liebenden Freiwilligkeit, ein System gestillter Thränen der Noth und Sorge! Es wurde niedergeschrieben und in alle Welt gesandt, aber es blieb ein phantastischer Traum. Der Erfinder, versunken in seine Träume, malte die geliebten Trugbilder immer weiter aus, der Krieg schlachtete Millionen, Europa wurde neu vertheilt, die Völker erhielten nichts – da starb der edle Schwärmer – seine Schüler schrieben den Hauptsatz seiner Philosophie, das Ideal eines unbefleckten Lebens auf den kleinen Leichenstein: Die Neigungen stehen in einem geraden Verhältnisse zu den Schicksalen der Menschen.
Furchtbare Ironie des Schicksals – hier in dem fünfgezackten Stern des Zwanges war er erfüllt, der Traum des großen Socialisten: hier waren die Schicksale der Menschen, genau von ihren Neigungen bestimmt, in Erfüllung gegangen – hier arbeiteten Alle für ihre Gesellschaft – hier kam Allen gleich viel oder gleich wenig zu gute; – er ist todt – er hat die Verspottung seiner idealen Dichtung, die Erfindung des Gesellschaftskerkers, der socialistischen Zwangsarbeit nicht erlebt – die Menschheit konnte ihn nur parodiren – seinem Fluge zu folgen vermochte sie nicht! 41