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Zwanzigstes Kapitel

Es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit. Sie versteht sich allerdings ganz vortrefflich zu verstecken oder in tiefem Inkognito unter den armen Erdbewohnern umherzuwandern. Aber mitunter tritt sie dann doch sichtbar hervor, zeigt ihre Wage, deren eine Schale sich unter dem Unglück irgend eines Wesens bedenklich in die Tiefe senkt, und legt mit freundlichen Händen einen ganzen Packen von Freude auf die andere. So stellt sie das europäische Gleichgewicht in einem kleinen Menschenleben hilfreich und gütig wieder her.

An dem Tage, der dem Herrn Oberregierungsrat Bornträger die wenig erbaulichen Eröffnungen von Paul Delaroche gebracht hatte, neigte sie sich gnädig dem trefflichen Polizeichef. Wie hätte sie auch hier versagen dürfen, wo sich's um einen amtlich bestellten Pfleger und Hüter ihrer eigenen Person handelte? So machte sie denn ihre Sache sehr gut. Als Bornträger häßlich verärgert in übelster Laune zur Kaffeezeit im Salon erschien, kam seine Schwester ihm glückstrahlend entgegen. Sie hatte mittags beim Essen gefehlt, weil sich die Zeugenvernehmung auf dem Gerichte sehr lange hingezogen hatte, nun aber eilte sie geflügelten Fußes auf ihren Bruder zu, fiel ihm um den Hals – das geschah sonst nicht einmal zu seinem Geburtstag – und rief ihm jubelnd zu: Du, Franz, ich habe mich heute verlobt!

Bornträgers Freude war so herzlich und echt, wie es nur jemals die eines Bruders gewesen ist, der eine unversorgte Schwester aus dem Hause los wird, um derentwillen er selbst bisher auf die süßen Bande Hymens – wie die Dichter sagen – verzichtet hat. Er war, soweit es die vorgeschriebene Würde nur irgend gestattete, ganz aus dem Häuschen vor Vergnügen. Er fragte, machte Pläne, setzte die Hochzeit fest – auf einen möglichst nahen Termin – um dann plötzlich mit der Erklärung aufzuspringen, daß er einen eiligen Gang zu machen habe, und nach dem Hause der Frau von Hergenrath zu stürmen. Sie mußte den wohlkonservierten Körper in ein festliches Gewand hüllen, dem durch Fischbein möglichst viele gerade und strenge Linien eingefügt worden waren, und wurde sodann als teuere Gefangene der Liebe und offizielle Verlobte des Herrn Oberregierungsrats im Triumph zu seiner Schwester geführt. Im Frohgefühl des eigenen Glücks und in der ebenso wohltuenden Gewißheit, mit ihrer neuen Schwägerin nicht unter einem Dache leben zu müssen, begrüßte Marion sie mit ungewohnter Wärme, und so herrschte eitel Seligkeit und Freude hinter den Mauern der königlichen Polizeidirektion. Die Tante, bei der es geraume Zeit brauchte, die wahre Sachlage zu verstehen, weinte sehr, sobald sie dahin gelangt war, teils aus mitfühlender Freude, teils aus Ungewißheit, in welchem der beiden Haushalte sie nun in Zukunft am Fenster sitzen sollte. Nur der Papagei brachte einen Mißton in die reine Harmonie. Als Frau von Hergenrath an seine Stange herantrat und in lieblicher Scherzhaftigkeit die Frage an ihn richtete: Nun, Papchen, was sagst du denn dazu? da wußte das gesinnungslose Biest keine andere Antwort zu geben, als sein ungebildetes »Du Luder«. Seitdem fiel er in Ungnade, und Marion bekam ihn mit in die Aussteuer.

Ja, nun waren sie wirklich gekommen, die fröhlichen Tage der Hochzeitsvorbereitungen. Und gleich für mehrere Paare auf einmal. Denn auch für Paul und Martha leuchtete nach kurzer Verfinsterung über der Zukunft ein heller, blauer Ehehimmel. Diese Verfinsterung hatte Pauls Geständnis der von ihm verübten Taten verursacht, wobei sich Martha ganz als Weib und keineswegs als wohlerzogene Staatsbürgerin gezeigt hatte. So wenig ehrenvoll es für sie war – sie hatte über die Nasführung der Polizei, des Gerichtes und sogar der Marion Bornträger recht herzlich gelacht, aber ihr Lachen hatte sich nach echt weiblichen Gesetzen in Weinen verwandelt, sobald sich Liebe und Mitleid ins Spiel mischten. Marthas Mitleid galt Lina Ruschebusch, der unschuldig Büßenden, und ihre Tränen flossen aus warmer Sympathie für das vom Unglück verfolgte Liebespaar, dessen eine Hälfte noch immer in Untersuchungshaft saß. Hier war der einzige Punkt, den Martha ein paar Tage lang nicht meinte verzeihen zu können: die Buße der Schuldlosen für fremdes Vergehen. Und Paul wurde nicht früher wieder zu Gnaden angenommen, als bis es der Ueberredungsgabe Bornträgers gelungen war, den Staatsanwalt auf den Standpunkt klugen Verschweigens zu sich herüberzuziehen, nachdem in aller Stille der begrabene Affe dem Erdendunkel amtlich wieder entrissen und in den rechtmäßigen Besitz des ihm gehörigen Armes zurückversetzt worden war. Denn dieser Akt war die Voraussetzung für Linas Freilassung, und nun durfte Martha sich abermals als echtes Weib zeigen. Jetzt konnte sie verzeihen und vergessen und konnte Paul mit reichlichen Zinsen alle die Küsse geben, die sie mit eigenen Schmerzen ihm verweigert hatte. Denn die Menschen küssen bekanntlich niemals lieber und lebhafter, als wenn sie einander etwas zu verzeihen haben.

In dieser angenehmen Lage war auch Lina Ruschebusch, was das Verzeihen sowohl, als was das Küssen anbelangte. Der dicke Stilke stand im Sonntagsrock mit weit heraushängender Zunge und haltlos niederkollernden Freudentränen am Gefängnistor, als dies für Lina geöffnet wurde, um sie »wegen Mangels an Beweisen« der Freiheit wiederzugeben. Was diese Freigabe in Wahrheit veranlaßte, davon hatte der gute Stilke so wenig eine Ahnung wie seine gesamten Kollegen, Herrn Kommissär Niemann mit eingeschlossen. Sie alle wurden lediglich dahin verständigt, daß die bisherigen Spuren sich als falsch erwiesen hätten, und daß die Sache nicht weiter zu verfolgen sei. Die einzigen Wissenden – Bornträger, der Staatsanwalt, Paul Delaroche und seine Braut – bewahrten unverbrüchliches Schweigen, und niemals erfuhr die Menschheit etwas Zuverlässiges über den Fall Ruschebusch. Einige Zeit noch schalten die Zeitungen über die Mängel der Polizei, die wieder einmal einen Schwerverbrecher nicht gefaßt habe; dann aber kam ein wunderschöner neuer Raubmord, und Presse und Publikum widmeten sich mit einmütigem Entzücken dem frisch vergossenen Blute.

Der von Freudentränen benetzte Stilke dachte jedoch weder an die tieferen Gründe von Linas Entlassung, noch suchten seine Blicke nach anderen interessanten Fällen in der Zukunft, als er seine Braut am geöffneten Gefängnistor in Empfang nahm. Er wußte nur, daß er noch niemals im Leben so froh gewesen war. Er weinte, lachte, sprach durcheinander, und Lina tat genau dasselbe. Der Gipfel des Glücks aber war es für ihn, als die Befreite sich an ihn schmiegte wie sonst und wieder »mein guter, alter, dicker Lutz« zu ihm sagte. Zu Hause – das heißt, im Häuschen der Mutter Ruschebusch mit seinen Weiden, die heute noch viel grüner schienen als früher – wartete ihrer dann eine weitere Freude. Denn in der Frühe des Tages hatte der Postbote dort ein eingeschriebenes, an Lina Ruschebusch adressiertes Päckchen abgeliefert. Das übergab ihr Mutter Ruschebusch, die sich geniert hatte, mit vor dem Gefängnis zu warten, und hier die wiedergeschenkte Tochter mit vielen Tränen, guten Lehren und schließlich auch mit dieser Ueberraschung empfing. Und als Lina das Päckchen öffnete, da fand sie darin eine wunderschöne goldene Brosche für sich selbst und einen funkelnagelneuen Hundertmarkschein für den Schutzmann Stilke. Diese Verteilung der Geschenke bestimmte ein beigelegter Zettel, der außerdem noch die Worte enthielt: »Zum Trost für erlittenes Unrecht«. Stundenlang rieten sie hin und her, von wem die Geschenke stammen möchten – Stilke neigte sich bei genauem Ueberlegen zu der Annahme, der gütige Landesherr selbst habe das Päckchen der Post übergeben – auf Martha und Paul jedoch verfiel keiner von ihnen.

Auch dann ging ihnen die Wahrheit nicht auf, als ein paar Tage später eine Einladung an Stilke von Paul Delaroche zum Frühstück eintraf. Denn Paul hatte vorsichtigerweise nur davon geschrieben, daß er vor seiner Uebersiedelung in die neue Welt noch einmal mit ein paar Kollegen von ehemals zusammensein möchte, weshalb er Stilke und den Kommissär Niemann zu sich bäte. Stilke fühlte sich ungeheuer geehrt, und Niemann freute sich umsomehr auf die durstlöschende Veranstaltung, als ihm von der teueren Gattin auf Grund verwerflichen Betragens in letzter Zeit sein Taschengeld auf ein paar Pfennige wöchentlich beschränkt worden war. So vereinbarte man denn für die Feier einen der nächsten Tage, an dem Niemann und Stilke gleichzeitig dienstfrei waren. Zwei Wochen später sollte die Hochzeit von Paul und Martha stattfinden, bei der nur ein ganz kleiner Freundeskreis zugegen sein sollte; unmittelbar hinterher stand die Ueberfahrt nach Amerika bevor. Marthas Mutter war natürlich auch dringend gebeten worden, die Hochzeit mit ihrer farbenreichen Gegenwart zu verherrlichen, sie hatte jedoch geschrieben, daß ihre Broschüre sie zur Zeit völlig in Anspruch nehme und ihr Kommen unmöglich mache. Wenn es ihre Zeit irgend erlaubte, würde sie ein Gedicht für die Hochzeit verfertigen, doch könne sie auch dafür keine Garantie übernehmen. Paul war ehrlich genug, ein rechtzeitiges Versagen ihrer Feder still zu erhoffen.

Zuerst kam nun das »Sühnefrühstück, oder die bußhafte Abfütterung beleidigter Polizisten«, wie Delaroche die von ihm veranstaltete kleine Feier Martha gegenüber pietätlos nannte. In einem hübschen Restaurant vor der Stadt am Waldesrande war das Frühstück hergerichtet worden, und alles war schmuck und freundlich. Martha war natürlich mit von der Partie und bewillkommnete die beiden Polizeimänner mit liebenswürdiger Heiterkeit. Anfangs verlief die Mahlzeit noch ein wenig gezwungen und steif, da Niemann und Stilke die Bildung durch schweigsames Essen glaubten bekunden zu müssen, bald aber löste der schäumende Wein die Zungen, und die Sache wurde nun sehr vergnügt.

Nach dem Essen dirigierte Paul seine beiden Gäste mit einer frisch entkorkten Sektflasche auf die grünumschattete Veranda neben dem Zimmer und blieb selbst mit Martha noch eine Weile beim Kaffee am Frühstückstische sitzen. Sie fühlen sich ohne uns bei einer Flasche Wein doch am wohlsten, sagte Delaroche zur Begründung dieses Verfahrens, doch lief dabei vielleicht ein wenig Egoismus mit unter. Denn Martha soll hinterher ganz rot gewesen sein von seinen Küssen.

Niemann und Stilke ließen sich jedoch unterdessen wirklich ungeheuer wohl sein beim Trinken und Rauchen. Und je leerer die Flasche wurde, umso herablassender und mitteilsamer wurde Niemann gegen seinen Untergebenen. Schließlich ergriff er ihn sogar am Arm, beugte seinen Kopf ganz nahe zu ihm hin und sagte flüsternd: Stilke, ich will Ihnen etwas anvertrauen.

Jawohl, Herr Kommissär.

Ich habe beim Essen vermieden, von dem Falle Ruschebusch zu sprechen, der uns doch in der letzten Zeit so sehr beschäftigt hat. Weshalb habe ich das wohl getan?

Weshalb, Herr Kommissär? Es wurde Stilke plötzlich ein wenig warm.

Sie bringen es doch nicht heraus. Ich will es Ihnen sagen, weil ich – er sprach noch ein wenig leiser – es jetzt ermittelt habe, wer das Verbrechen begangen hat.

Wahrhaftig?

Jawohl, ich kenne den Täter!

Und wie haben Herr Kommissär das herausgebracht?

Nur durch Nachdenken, Stilke, durch scharfes Nachdenken. Wir alle sind irre gegangen bisher, ich bin auf einem anderen Wege zum Ziele gelangt. Meine neue Theorie klärt die Sache mit einem Male auf.

Und wer ist der Täter gewesen, Herr Kommissär?

Im tiefsten Vertrauen, Stilke: der Schustermeister Abenthum.

Der Schuster –

Schustermeister Abenthum. Der Mann hatte meine Stiefel zur Reparatur erhalten. In meinen Stiefeln ist scheinbar das Verbrechen begangen worden. Gleichzeitig aber hatten meine Stiefel zweifellos ruhig in meinem Schlafzimmer gestanden. Wie kann man diesen Widerspruch lösen? Durch Nachdenken, Stilke, durch scharfes Nachdenken!

Ich – ich weiß, es nicht, Herr Kommissär.

Ich will es Ihnen sagen, Ihnen ganz allein. An die Oeffentlichkeit will ich mit meiner Entdeckung erst treten, wenn ich den Mann mit Ihrer Hilfe unbedingt überführt habe. Und nun hören Sie zu: der Schustermeister Abenthum hat sich eine Kopie meiner Stiefel angefertigt. In dieser Kopie hat er das Verbrechen begangen!

Wahrhaftig?

Es ist ohne Frage so. Seine Frau und seine Kinder tun mir leid, aber ich habe meine Pflicht zu erfüllen. Und merken Sie sich, nur scharfes Nachdenken hat mich zum Ziele geführt. Prosit, Stilke!

Prosit, Herr Kommissär.

Sie stießen miteinander an, und ihre Gläser klangen hell zusammen auf gemeinsames Fahnden nach einer neuen Fährte.


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