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In der Wohnung der Frau von Hergenrath gab es mehr gerade Linien und rechte Winkel als in irgend einem anderen Hause der Stadt. Es war, als hätte die Bewohnerin die Einrichtung extra zu ihrem viereckigen Gesichte passend ausgesucht. Da waren steifbeinige und steiflehnige Stühle, aus lauter viereckigen Hölzern zusammengesetzt. Da waren viereckige Tische mit vier viereckigen Beinen. Da war eine gelbe Tapete, deren Muster sich aus lauter Vierecken von verschiedener Größe zusammensetzte, und sogar der Nähkorb, den die geradlinige Dame im Augenblick für die Arbeit an einer viereckigen Decke benutzte, war nicht rund, sondern eckig gestaltet.
Ein Klingelzeichen im Flur ließ die Fleißige kaum in die Höhe blicken, als aber dann das Dienstmädchen in der Tür erschien und Herrn Oberregierungsrat Bornträger anmeldete, ging ein leiser Hauch von innerer Bewegung über ihr verschwiegenes Gesicht. In ihrem »Ich lasse bitten« war aber keine Spur von dieser Bewegung zu hören.
Den Eintretenden begrüßte sie mit einem laut gesprochenen: Ich freue mich sehr, Sie wiederhergestellt zu sehen, Herr Oberregierungsrat, und blickte dabei nach der Tür, deren Schließen das Dienstmädchen keineswegs übereilte. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?
Die Tür war jetzt endgültig geschlossen worden, und Bornträger nutzte diesen Umstand, um die rechte Hand Frau von Hergenraths an die Lippen zu ziehen und mit einer größeren Zahl von Küssen zu bedecken, als die gute Sitte verlangte. Ach, Philippine! stöhnten seine Lippen.
Vorsicht, Herr Oberregierungsrat.
Kann man uns hören?
Dienstboten horchen immer. Ich rechne auf jedes Schlüsselloch ein Ohr; damit kommt man am weitesten. Und wenn das Mädchen hereinkommen sollte, sprechen wir von Keilschrift und Hammurabi, nicht wahr? Das ist unverfänglich.
Ich werde sowieso davon zu sprechen haben! sagte Bornträger mit einem tiefen Seufzer, den Frau von Hergenrath jedoch nicht beachtete. Ihre Augen wanderten zwischen den Schlüssellöchern der beiden Türen hin und her. Ihr Besucher aber fuhr fort: Ich bin heute in der furchtbarsten Aufregung. Es hat mich zu dir getrieben –
Nicht so laut! Nennen Sie mich Sie –
Ja, ja, gewiß. Ich will gnädige Frau sagen, ich will alles tun, was du – was Sie verlangen. Aber mein Herz muß ich Ihnen ausschütten – es geht auch Sie mit an – ich fürchte, wir sind verloren!
Verloren? Wieso?
Eigentlich ist es eine dienstliche Angelegenheit, über die ich nicht reden dürfte. Aber ich muß sie besprechen mit dir –
Nennen Sie mich doch Sie!
Gewiß, gewiß. Ich will versuchen, geordnet zu reden. Sie haben ja doch von dem sogenannten Fall Ruschebusch gehört.
Natürlich. Durch Sie, Herr Oberregierungsrat, und durch die Zeitungen bin ich ganz genau darüber orientiert. Gibt es etwas Neues darin? Sie sprach so deutlich und akzentuiert, als wenn ein ganzes Parkett voller Hörer vorhanden gewesen wäre.
Der Fall ist ja bisher schon reich gewesen an den ungeheuerlichsten Ueberraschungen. Vor ein paar Tagen hat sich der Verdacht sogar auf meine eigene Schwester gelenkt. Denke dir, Philippine –
Vorsicht, um Gotteswillen! Sagen Sie einmal recht laut, Hammurabi –
Ja – Hammurabi!
Gut, weiter.
Ach, Sie wissen ja von all' diesen Dingen noch nichts. Vier Tage schon habe ich das mit mir herumgetragen, ohne mich Ihnen gegenüber aussprechen zu können. Mein Katarrh – er sprach ihr gegenüber niemals vom Podagra, weil er es für eine ehrenrührige Alterskrankheit hielt – mein Katarrh war diesmal wirklich recht schlimm. Und dazu noch die Aufregung – denken Sie nur, das Taschentuch mit dem Knochen im Negenbornschen Brunnen gehört meiner Schwester!
Mein Gott, wie unangenehm, wie kompromittierend! Was werden die Leute sagen!
Ich habe ihr zuerst eine Szene gemacht, natürlich. Aber dann habe ich mir überlegt, für solch eine Sache ist meine Schwester doch zu – zu klug und zu geschmackvoll.
Nun, nun –
Und seit heute denke ich völlig anders. Denn heute, Philippine –
Vorsicht, Vorsicht!
Ja, gnädige Frau. Heute ist wieder eine ganz neue Wendung in dieser Unglücksgeschichte eingetreten. Das Haus an der Augsburgerstraße, wo die Sache passiert ist, war wiederholt von oben bis unten durchsucht worden; es war nicht anzunehmen, daß dort noch etwas von Wichtigkeit gefunden werden könnte. So stand nichts mehr im Wege, das Niederreißen des Hauses zu gestatten, das auf Abbruch verkauft worden war. Vorgestern hat man mit diesen Arbeiten begonnen, deren polizeiliche Ueberwachung überflüssig erschien. Einer von meinen Kommissären aber, er heißt Niemann und ist auch auf ganz eigentümliche Weise in den Fall verwickelt worden –
Durch seine Stiefel, ich weiß. Sie haben mir das alles erzählt.
Ach ja, gewiß. Ich vergaß es im Augenblick, ich bin ganz verwirrt. Er darf sich offiziell an der Untersuchung nicht mehr beteiligen, recherchiert aber noch privatim, um seine Unschuld zu beweisen. Er hat sich's auch nicht nehmen lassen, bei dem Abbruch des Hauses dabei zu sein, und heute in aller Frühe ist er Zeuge von einem neuen, ganz unerwarteten Funde gewesen.
Etwas von Wichtigkeit?
Von Wichtigkeit? Ach, Philippine –!
Sie bekam einen lauten Hustenanfall, dann flüsterte sie: Seien Sie doch vorsichtig, sagen Sie noch einmal Hammurabi.
Ja, ja – Hammurabi, Hammurabi! Ich muß ohnedies jetzt von ihm sprechen. Denken Sie, was man gefunden hat. In der Küche, versteckt unter einer der Steinfliesen des Bodens, eine blutige Papierschere, eingewickelt in ein Blatt bedruckten Papieres.
Was ist dabei Schlimmes?
Daß dieses Blatt aus der Zeitschrift »Im Reiche König Hammurabis« stammt – aber das ist noch nicht genug. In diesem Stücke Papier ist mir der deutliche Beweis gegeben worden, daß man unsere Art, miteinander zu korrespondieren, entdeckt hat.
Wie ist das möglich? Auch in ihr steinernes Gesicht kam jetzt eine leise Röte der Angst.
Weil du – weil Sie immer so ängstlich waren mit meinem Hierherkommen, haben Sie mir doch die Zeiten unserer kleinen Zusammenkünfte – ach, wo sind sie hin! –
Nicht so laut!
Sie haben mir diese Zeiten doch immer mitgeteilt, indem Sie mir unsere Vereinszeitschrift zuschickten und einzelne Worte darin mit ganz feinen Bleistiftzeichen unterstrichen –
Nun, und?
Und auf diese selbe Weise waren in dem gefundenen Blatte, das offenbar dann zum Abwischen der blutigen Papierschere gedient hatte, ein paar Worte fein, aber deutlich unterstrichen worden.
Welche Worte?
Sie heißen: »Er soll sich hüten!« Können sie sich auf jemand anders beziehen als auf mich? Kein Mensch außer uns beiden korrespondiert mit Hilfe jener Zeitschrift auf solche Weise; nur wir beide konnten mit diesen Zeichen getroffen werden.
Das ist wahr – und schlimm. Höchst unangenehm und gefährlich –, höchst unangenehm!
Oh, es ist mehr als das! Wie die Sache zusammenhängt, ist mir jetzt ganz klar. Es handelt sich um ein Komplott gegen die Polizei. Das Verbrechen, das zweifellos begangen worden ist, haben Menschen vollführt, die mit den Verhältnissen und Personen auf der Polizeidirektion ganz genau vertraut sind. Absichtlich haben sie versucht, den Verdacht der Täterschaft auf Angehörige der Polizei zu lenken. Der Kommissär Niemann, meine unschuldige Schwester und jetzt ich selber sind von ihnen mit wohlberechneter Absicht in die Sache hineingezogen worden. Und nun –
Hat jemand sonst schon die Zeichen auf dem Papier gesehen?
Nein – seine Stimme sank zu fast unhörbarem Flüstern –, ich habe niemandem bisher Mitteilung davon gemacht, und der Kommissär Niemann, der sonst ein guter Beobachter ist, hatte sie übersehen. Aber durch dieses Schweigen habe ich meine Amtspflicht verletzt und ich bin deshalb mit in so großer Unruhe, wenn auch die Zeichen wohl nur für mich persönlich berechnet waren. Sehr geschickt berechnet, muß ich sagen. Denn dadurch wird es mir fast unmöglich gemacht, in dieser Sache so energisch vorzugehen, wie ich es müßte. Selbst wenn ich die Personen kennte, die das Komplott anstifteten –
Haben Sie keinen Verdacht?
Keinen bestimmten. Es müssen Feinde von der Polizei sein, das ist sicher. Aber ihre Zahl ist groß. Du lieber Gott, gehört doch die Polizei zu den bestgehaßten Institutionen dieser Welt. Und wenn ich mir auch den Kopf zerbreche, um jemanden herauszufinden, der in der letzten Zeit besondere Unannehmlichkeiten durch uns gehabt hat –
Käme nicht dieser Herr Delaroche in Betracht?
Ich habe auch an ihn gedacht, aber den Gedanken wieder verworfen. Er hat in letzter Zeit verschiedene Artikel über den fraglichen Fall geschrieben und sich dabei stets in so anerkennenden und verständigen Worten über die Tätigkeit der Polizei und insbesondere über meine bescheidene Person geäußert –
Das könnte Berechnung sein.
Nein, nein. Er soll sich auch außerordentlich glücklich fühlen in seiner gegenwärtigen Stellung. Dem Kommissär Niemann gegenüber hat er sich sogar extra bedankt, weil er ihm zu diesem Wechsel seines Berufes mit verholfen hat. Wir müssen anderswo suchen, aber zugleich müssen wir davor zittern, etwas zu entdecken.
Sie meinen –
Daß ein Mensch, der unser Geheimnis kennt, uns keinen Augenblick schonen wird, wenn er mir in die Hände fällt. Er wird uns beide rettungslos kompromittieren –
Das darf nicht sein!
Ich sage das auch, aber was soll ich tun?
Einerlei, Sie müssen es verhindern um jeden Preis. Wenn auch nur der leiseste Flecken auf mein Leben fällt, verliere ich, wie Sie wissen, meine Einkünfte aus der Kramerschen Stiftung und mit ihnen meine Existenz.
Ach, diese unglückselige Stiftung! Wären ihre Bestimmungen anders, bliebe dir das Geld, auch wenn du heiratetest, wir wären schon lange Mann und Frau. Aber so reicht mein Gehalt nicht aus; ich habe meine Tante und meine Schwester mit zu unterhalten. Ja, wenn die einmal heiratete –
Darauf dürfen wir nicht rechnen. Es muß alles bleiben, wie es ist. Wir haben es ja auch schon hundertmal besprochen.
Aber wenn ich diesen Menschen nun entdecke, der sein Verbrechen auf die Polizei abzuwälzen sucht?
Du darfst ihn nicht entdecken, unter keinen Umständen!
Denk an meine Pflicht, Philippine!
Denk an deine Liebe, Franz, die du mir so oft versichert hast!
Die Aufregung ließ auch sie jetzt die Vorsicht vergessen; sie nannte ihn du, sie nannte ihn Franz und reichte ihm die Rechte, auf die zuerst sein Monocle und sodann seine Lippen sich niedersenkten.
Ein leises Geräusch im Korridor aber ließ Frau von Hergenrath zusammenfahren; fest und gerade richtete sie sich empor, und in ruhig-wissenschaftlichem Tone kam von ihren Lippen die deutlich gesprochene Frage: Haben Sie schon gehört, Herr Oberregierungsrat, daß jetzt auch viele Briefe des Königs Hammurabi gefunden und veröffentlicht worden sind?
Er wußte sich nicht so rasch zu fassen. Er murmelte nur: Ich weiß nicht, es ist wohl möglich. Um dann sehr unwissenschaftlich hinzuzufügen: Ich wollte, König Hammurabi wäre hier Polizeichef, und ich wäre König Hammurabi.
Sie aber warf einen Blick auf die Wanduhr, deren Zifferblatt in einem viereckigen vergoldeten Gehäuse steckte, und sagte: Sie müssen gehen. Die Zeit eines förmlichen Besuches ist bereits überschritten.
Widerwillig und mühsam stand er auf; der sogenannte Katarrh steckte ihm noch etwas im Bein. Wann werden wir uns wiedersehen, Philippine? fragten seine Lippen mit gebotenem Flüstern. Sie aber flüsterte noch leiser zurück: Jetzt nicht. Wir müssen eine Pause machen. Wir könnten beobachtet werden. Und lauter fügte sie hinzu: Leben Sie wohl, Herr Oberregierungsrat, ich danke Ihnen sehr für die Ehre Ihres Besuches.
Ihm blieb nichts übrig, als daß er sich mit einem wehmütigen Kopfnicken in ihre Bestimmung fügte, und nach wenigen Minuten stand er auf der Straße. Seine Laune war so schlecht wie sein Gewissen, auf dem das Gespräch mit Frau von Hergenrath mit häßlicher Schwere lastete. Wie eine Fliege, die einer klugen Spinne unvorsichtig ins Netz geflogen ist, kam er sich vor; daß aber die Verfertigerin des Netzes für ihn zur Zeit noch unsichtbar war, erhöhte nur sein Unbehagen, ohne ihm Sicherheit zu verleihen.
In tiefen, widerwärtigen Gedanken ging er dahin, übersah die Grüße von Begegnenden, lief einem Trambahnwagen gerade in den Weg und mußte auf dessen wütendes Läuten hin sein krankes Bein zu schmerzhaft-jugendlichen Evolutionen anstrengen. Er war nach den wenig erfreulichen Gewohnheiten der menschlichen Natur ganz in der Stimmung, irgend einem anderen etwas recht Unangenehmes zuzufügen.
So kam er in sein Bureau und fand hier den Kriminalkommissär Niemann seiner bereits wartend. Er hatte den Beamten, als er vor ein paar Stunden mit dem neuen Funde vor ihm erschienen war, mit gnädiger Freundlichkeit willkommen geheißen, jetzt aber, nachdem er sich über die Bedeutung jenes Fundes klar geworden war, empfand seine Seele einen erheblichen Widerwillen gegen den Anblick dieses Mannes. Seine Begrüßung entsprach dieser Stimmung. Sind Sie schon wieder da? war alles, was er dem eifrigen Kommissar zu sagen wußte.
Niemann aber war nicht so leicht irre zu machen; sein Selbstgefühl hatte sich im Laufe der letzten Tage mächtig neu belebt. Er stellte sich in Positur: Ich habe mir erlaubt, noch einmal herzukommen, Herr Oberregierungsrat, weil ich inzwischen auf dem Negenbornschen Grundstück draußen eine kleine Zeichnung von der Fundstelle der eingewickelten Papierschere gemacht habe.
Bornträger zuckte zusammen; er meinte, das Gesicht seiner Freundin mahnend vor sich auftauchen zu sehen. Der Kommissär aber fuhr erbarmungslos fort: Ein paar ergänzende Photographien, die ich aufgenommen habe, müssen natürlich erst entwickelt werden.
Sie sollten sich um diese Sache doch gar nicht mehr bekümmern, murrte sein Chef.
Offiziell nicht mehr, gewiß; aber für private Recherchen haben Herr Oberregierungsrat mich doch selbst autorisiert.
Die Grenze zwischen offiziell und privat ist nicht so leicht zu ziehen; es gehört viel Takt dazu. Es wäre besser, Sie ließen Ihre Hände jetzt überhaupt aus dem Spiel.
Ich meinte nur – Kollege Kirchheim und Schutzmann Stilke haben auch eine Zeichnung von der Fundstelle gemacht – was die beiden so zeichnen nennen. Ich bilde mir ein, daß ich ihnen in diesem Punkt ein wenig überlegen bin und –
Die beiden sind offiziell mit der Untersuchung betraut und es sind tüchtige Männer. Was sie mir bringen, wird mir genügen. Aber meinetwegen können Sie mir Ihr Dingsda ja auch hier lassen.
Niemann machte ein Gesicht, als wenn er eine erhebliche Menge von einer sehr bitteren Medizin hätte schlucken müssen, und mit bebenden Händen überreichte er stumm dem Chef seine Zeichnung. Haben Herr Oberregierungsrat sonst noch etwas zu befehlen? Gekränkter Mannesstolz vibrierte in seiner Stimme.
Nein, ich glaube nicht, ich muß mir die Sache noch überlegen. Sie können sich einen Augenblick setzen, ich will einstweilen die eingelaufene Post hier ansehen.
Niemann setzte sich in ungeheuer ausdrucksvoller Art auf einen Stuhl – jede Muskel an ihm protestierte gegen das erlittene Unrecht – während Bornträger sich zu seinem Schreibtisch wandte und ein Paket von dort liegenden Briefen und Zeitungen durchzusehen begann. Einige Sachen waren rasch erledigt, ein Brief aber, den er dann aufhob, wurde zuerst ein paarmal hin und her gewandt und von allen Seiten betrachtet, bevor er ihn kopfschüttelnd erbrach. Was soll denn das bedeuten? murmelten seine Lippen. Herr Kommissär, sehen Sie sich das Ding auch einmal an. Wissen Sie sich einen Vers darauf zu machen?
Niemann ergriff das dargereichte Papier mit einer widerstrebenden Handbewegung, als wenn ihm sein Chef eine Kröte oder sonst eine unangenehme Schöpfung des Tierreichs überantwortete, sobald er aber den Inhalt gelesen hatte, ging eine aufregende Veränderung mit ihm vor. Herr Oberregierungsrat – Herr Oberregierungsrat – seine Augen leuchteten gleich einem Paar Glühlampen.
Was gibt es denn?
Ich möchte dem Herrn Oberregierungsrat meine bescheidene Ansicht nicht aufdrängen. Ich möchte mich nicht in Dinge mischen, die mich nichts mehr angehen. Aber da der Herr Oberregierungsrat mir die Ehre erwiesen, mich zu fragen, so muß ich es aussprechen, daß mir in diesem Briefe hier die Lösung des ganzen Rätsels gegeben scheint.
Welches Rätsels?
Der Sache Ruschebusch. Der geheimnisvollen Mordaffäre. Des mysteriösen Fundes im Brunnen.
Ach, Unsinn! Wie soll denn der Brief da mit dieser Geschichte zusammenhängen? Ich habe das Ding freilich nur flüchtig gelesen. Ich bin heute ein wenig zerstreut, geben Sie noch einmal her. In bezug auf sein Zerstreutsein sprach er die Wahrheit; seine Gedanken wanderten unablässig in jenem Zimmer umher, in dem eine Dame mit viereckigem Gesichte zwischen viereckigen Tischen mit viereckigen Beinen saß.
Gestatten Herr Oberregierungsrat, meine Ansicht von der Sache zu begründen. Der Brief hier ist ohne Unterschrift. Er ist aus gedruckten, aufgeklebten Buchstaben zusammengesetzt. Die Buchstaben scheinen mir aus der hiesigen »Tageszeitung« ausgeschnitten zu sein. Als Klebstoff hat wahrscheinlich flüssiger Leim gedient. Die blanken, gelblichen Stellen neben den Buchstaben lassen darauf schließen. Der Absender hat offenbar großes Gewicht darauf gelegt, nicht entdeckt zu werden. Es handelt sich also um eine Sache von Wichtigkeit. Der Brief ist ohne Anrede und ohne Namen. Der Kommissär war wieder ganz in seinem Element. Er hatte so rasch gesprochen, daß er einen Augenblick Atem schöpfen mußte.
Bornträger schüttelte so ärgerlich den Kopf, daß ihm das Monocle über die Schulter auf den Rücken flog. Ein anonymes Machwerk, ein Ding ohne Unterschrift, ein Angriff aus dem Hinterhalt. Ich lege prinzipiell auf solche Sachen kein Gewicht.
Aber der Inhalt, Herr Oberregierungsrat, der Inhalt! Ich gestatte mir, die Worte noch einmal vorzulesen. »Wenn ich auch keine Gefangene bin, so bin ich doch eine Gefesselte. Die Schwingen meines Wollens hat man mir gewaltsam beschnitten, persönlich habe ich meine Sache vortragen wollen, aber man hinderte mich daran. Darum sage ich schriftlich: haben Sie ein Auge auf ihn. Er war bei Ihnen, und Sie haben sich von ihm befreit. Ihm ist recht geschehen, ihm ist geworden, was er verdient. Ich weiß, was ich weiß: er ist ein Verbrecher. Er hat mir mein Kind heimtückisch genommen und einer unglücklichen Mutter das Herz gebrochen. Darum wiederhole ich es und unterstreiche es dreimal: er ist ein Verbrecher!« Kann das auf jemand anders deuten als auf ihn?
Auf wen?
Auf meinen früheren Kollegen. Auf den ehemaligen Kommissär Delaroche.
Ach, Unsinn! Man hat mir heute – ich habe heute schon selbst an ihn gedacht, aber ich habe den Gedanken sofort wieder verworfen. Ich habe keinen Anhaltspunkt für diesen Verdacht gefunden.
Aber dieser Brief, Herr Oberregierungsrat, dieser Brief! Gestatten Sie mir doch: er war bei Ihnen, das ist Delaroche, Sie haben sich von ihm befreit, das ist wieder Delaroche. Und hier schreibt eine unglückliche Mutter, der ihr Verführer ihr Kind genommen hat. Kann dieser Brief einen anderen Ursprung haben als bei dem Mädchen, das am Brunnen der Frau Negenborn verzweifelt auf die Knie gesunken ist vor dem Manne, der ihr gemeinsames Kind umgebracht hat? Dieser Mann aber war Paul Delaroche!
Bornträger faßte sich mit der Hand an den Hals; der Atem drohte ihm auszugehen. Gab er seinem Kommissär auch durchaus nicht in allen Folgerungen recht, er hatte doch das beklemmende Gefühl, daß der Verbrecher, den er um keinen Preis entdecken durfte, ihm unheimlich nahe käme. Die logische Folge dieses Gefühls aber war erhöhte Strenge gegen den, der es erzeugt hatte. Sie phantasieren, Herr Kommissär! Phantasie ist gut für einen Kriminalbeamten, ist nötig sogar. Aber im Uebermaß kann sie gefährlich werden, sehr gefährlich, ungeheuer gefährlich! Wie wollen Sie Herrn Delaroche mit dieser Lina Ruschebusch in Beziehung bringen?
Vielleicht hat die Ruschebusch in Wahrheit mit der Sache gar nichts zu schaffen, oder sie ist nur für eine andere eingetreten, für die wirkliche Mutter des Kindes, vielleicht sind ihre Stiefelspuren so gut gefälscht wie meine eigenen –
Wenn man verzweifelt auf die Knie fällt, wovon Sie ja selbst eben gesprochen haben, zieht man sich nicht vorher ein paar falsche Schuhe an. Und woher sollte Herr Delaroche Ihre Stiefel bekommen haben? War er überhaupt bei Ihnen in letzter Zeit?
O ja, ein paarmal.
In Ihrer Privatwohnung oder in Ihrem Bureau?
Nur im Bureau.
Ihre Stiefel bewahren Sie aber doch wohl in der Privatwohnung auf, nicht wahr?
Das allerdings –
Sehen Sie wohl: was Sie da sagen, ist alles nur Schwindel und Phantasterei, und nach diesen letzten Beweisen Ihrer Fähigkeiten muß ich Sie nun doch dringend ersuchen, sich in keiner Weise mehr um diese Sache zu bekümmern, weder offiziell, noch privatim. Sie können gehen.
Wie Herr Oberregierungsrat befehlen. Ein aus dem Himmel in die Hölle gefallener Engel vermag nicht bestürzter auszusehen, als der Kommissär in diesem Augenblick. Von den Höhen scheinbar sicheren Erfolgs war er plötzlich in die dunklen Tiefen aussichtsloser Untätigkeit hinabgeglitten. Er war so verwirrt, daß er seinen Hut auf dem Tische neben sich liegen ließ und barhäuptig zur Tür ging. Als er hier seine Vergeßlichkeit bemerkt und sich den Hut geholt hatte, ließ er seinen Stock auf den Boden fallen, und bis alle diese Fährlichkeiten glücklich überstanden waren, verging einige Zeit.
Mit knurrigem Eifer hatte sich Bornträger inzwischen über die noch uneröffneten Postsachen hergemacht und ein großes, mit dem Siegel der Staatsanwaltschaft versehenes Schreiben zuerst erbrochen. Herr Kommissär Niemann! rief er mit wenig glückverheißendem Ausdruck, als er den Inhalt überflogen hatte. Der Gerufene, der eben die Tür zu endgültigem, schmerzvollem Verschwinden gewonnen hatte, machte eilig kehrt. Herr Oberregierungsrat! – Aerger, Hoffnung, erneutes Zagen zugleich sprachen aus diesen beiden Worten.
Es ist gut, daß Sie noch da sind. Hier diese Sache geht Sie mit an. Der Herr Landgerichtsrat Mauerbrecher teilt mir soeben mit, daß er in dem Falle Ruschebusch zu einer ganz neuen Auffassung gelangt ist. Wir sind ja bisher, und Sie besonders, von der Anschauung ausgegangen, der Mann, der mit der Ruschebusch im »Grünen Baum« getanzt hat, sei notwendig identisch mit demjenigen, der sie dann in den Garten der Frau Negenborn verfolgt hat. Der Herr Untersuchungsrichter ist von dieser Anschauung jetzt abgegangen. Er konzediert die Möglichkeit, daß die Ruschebusch die Wahrheit gesprochen, daß ihr Verfolger ihre Spur verloren hat und ihr nicht in den Garten nachgekommen ist.
Aber Herr Oberregierungsrat –
Ich spreche jetzt und nicht Sie. Diese Möglichkeit zugegeben, würde daraus die Tatsache folgen, daß die Männerspur im Garten keineswegs von dem Tänzer der Ruschebusch herrührt, sondern von einem anderen Manne, der dort schon verborgen gewesen ist oder ein wenig später den Garten betreten hat. Er würde –
Aber Herr Oberregierungsrat sagten doch selbst –
Was ich gesagt habe, ist ganz gleichgültig. Was ich heute sage, darauf kommt es an. Darin eben unterscheidet sich ein guter Kriminalbeamter von einem schlechten, daß er sich nicht in eine vorgefaßte Meinung verbeißt. Sie verbeißen sich, Herr Kommissär. Allerdings haben Sie an dieser Sache ja ein persönliches, ein sehr persönliches Interesse. Ich kann es verstehen, daß die Konsequenzen der neuen Auffassung Ihnen unbequem sind. Denn wenn ein anderer Mann als der Tänzer und Verfolger die Spuren im Garten hinterlassen hat, ist im Hinblick auf Ihre Stiefel die Möglichkeit, ja, die hohe Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß Sie dieser zweite Mann gewesen sind.
Um Gotteswillen, Herr Oberregierungsrat –
Daß Sie dieser zweite Mann gewesen sind! Der im Verborgenen der unschuldigen Ruschebusch aufgelauert hat, der ihr –
Aber wo soll denn das Taschentuch mit dem Knochen hergekommen sein?
Das Taschentuch? Da bringen Sie mich auf eine wichtige Spur! Sie haben Zutritt gehabt, ungehinderten Zutritt zu allen Räumen der Polizeidirektion. Ihnen kann es nicht schwer geworden sein, das Taschentuch zu entwenden –
Entwenden – Taschentuch entwenden –?
Die Sache spitzt sich gegen Sie zu! Ich werde mich mit dem Herrn Untersuchungsrichter ins Benehmen setzen, ob wir nicht doch gegen Sie – Ein Verhaftsbefehl lag ihm auf der Zunge, rechtzeitig aber fiel ihm wieder ein, daß er den wirklichen Verbrecher unter keinen Umständen entdecken durfte! So brach er seine Rede unter so heftigem Räuspern ab, als wenn ihm zehn Ameisen in die Luftröhre gekrochen seien, doch erhöhte das Gefühl, in einer mit Sicherheit arbeitenden Zwickmühle zu sitzen, seine gute Laune keineswegs. Er knurrte und grollte mehr und mehr. Jawohl, wie gesagt, die Sache spitzt sich zu! Zunächst also das eine: Sie haben sich von jetzt an vollständig zurückzuhalten. Sie haben – ja, was soll denn das bedeuten?
Die letzten Worte waren nicht mehr an den vor Wut und Sorge bebenden Kommissär gerichtet. Die Tür war plötzlich aufgerissen worden, und Marion, ein großes Schreiben amtlichen Formats in Händen haltend, war hereingestürzt. Franz, rief sie, Franz, ich muß dich stören! Sieh nur, was man mir hier geschickt hat. Eine Vorladung, Franz, ich soll vor Gericht!
Das war zu erwarten.
Zu erwarten? Warum hast du es denn aber nicht verhindert?
Ich habe keine Macht über das Gericht.
Aber ich gehe nicht hin!
Dann wirst du durch einen Schutzmann vorgeführt werden.
Mit Gewalt?
Eventuell mit Gewalt.
Marion brach in Tränen aus. Aber das ist abscheulich, das ist schändlich, wie man mir mitspielt!
Du hast es dir selber zuzuschreiben – vielleicht auch hier diesem Herrn.
Ihnen – Ihnen?
Ich weiß von nichts, bei Gott, ich weiß von nichts!
Aber mein Bruder sagt ja doch eben –
Dein Bruder sagt, daß du hier nichts zu suchen hast. Geh auf dein Zimmer.
So versprich mir wenigstens, mich aufs Gericht zu begleiten.
Ich denke nicht daran, du gehst allein.
Das werde ich nicht tun. Und wenn du nicht mit mir kommst, dann bitte ich Herrn von Hildebrand, mich zu begleiten. Es gibt zum Glück noch Leute, die mir beistehen.
Damit war sie draußen, Bornträger aber machte seinem Herzen Luft, indem er den Kommissär aufs neue mit Nachdruck anschnauzte. Ja, warum stehen Sie denn immer noch hier? Was haben Sie hier verloren?
Ich – nichts – gewiß nichts, Herr Oberregierungsrat.
Dann gehen Sie endlich. Und merken Sie sich: wenn Sie sich um die schwebende Untersuchung auch nur noch im allergeringsten kümmern, dann sind Sie die längste Zeit Polizeikommissär gewesen!
Stumm, tief gebeugt, schwankte Niemann aus der Tür. Bornträger aber humpelte aufgeregt im Zimmer hin und her, blickte zur weißgetünchten Decke empor, rang seine Hände und stöhnte leise: Oh, Philippine, Philippine, Philippine!