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Polizeikommissär Niemann saß in seinem Bureau und grübelte über sein verfehltes Dasein, verfehlt freilich nur, insofern die Befriedigung seines Ehrgeizes in Frage kam. Im übrigen ging es ihm gar nicht schlecht. Er hatte seinen festen Platz im Leben, war bei den Vorgesetzten ob seiner Strebsamkeit wohl gelitten und besaß, wie Paul Delaroche von ihm gerühmt hatte, eine fromme Frau, deren Wert vor einem Jahre durch die Erbschaft eines hübschen kleinen Vermögens von einer unvermuteten Tante noch erheblich gewachsen war. Von dem Gelde bekam der Herr Kommissär nach den Grundsätzen weiblicher Oberherrschaft allerdings keinen Pfennig zu sehen, aber das geheime Vorhandensein dieses Mammons übte doch eine erwärmende Wirkung auf sein Selbstgefühl aus. Dabei war er trotz seiner vierzig Jahre noch ein hübscher, stattlicher und frischer Kerl, den wohltuend begehrliche Blicke von Frauen und Jungfrauen trafen, wenn er mit seinem Treppensteigergang durch die Straßen stolzierte.
Soweit wäre das Leben in erfreulicher Ordnung gewesen. Auch an Tätigkeit war es reich genug. Niemanns Bezirk war hauptsächlich von Fabrikarbeitern bewohnt, und so kamen hier häufig Dinge vor, die nach der ordnenden Hand eines Polizeimannes verlangten. So häufig sogar, daß man es für nötig befunden hatte, das Amtsbureau des Herrn Kommissärs aus der königlichen Polizeidirektion, wo die meisten dieser bedeutungsvollen Räume lagen, zu verlegen und mit seiner Privatwohnung zu vereinigen. Hier war er mit einer Menge von Bagatellsachen, wie er sie verächtlich nannte, täglich ausgiebig beschäftigt. Aber ein polizeilicher Dämon hatte einen ungebändigten Detektivehrgeiz in sein Herz gepflanzt, und um das Unheil zu vergrößern, hatte sich Conan Doyle mit jenem Dämon verbündet. Seit Niemann die Sherlock Holmes-Geschichten gelesen hatte, war es um den letzten Rest seiner Ruhe geschehen. Durch ihre mehrfach wiederholte Lektüre war er in einen Zustand geraten, der seine Frau mitunter, namentlich bei Nacht, für Scheidungsgedanken zugänglich gemacht hatte. Denn oft war es vorgekommen, daß er die ruhig und ahnungslos Schlummernde durch einen Schrei aus ihrem Frieden aufgeschreckt hatte, wenn es ihr dann mit bebenden Fingern gelungen war, die beruhigende Stearinkerze anzuzünden, hatte sie den Gatten im tiefsten Negligé auf dem Bettrande sitzen sehen, von wo er sie mit auffallend dummen Augen anstarrte und noch in tiefer Schlaftrunkenheit stammelte: Das Band, – das Band, – da ist das getupfte Band! oder ähnlichen Unsinn, der im Ehekontrakte nicht vorgesehen war.
Es gab, zu ihrer Schande sei es gesagt, auch in dieser großen Stadt Polizeikommissäre genug, die einen Raubmord wegen der damit verbundenen Arbeitslast und Störung ihres persönlichen Behagens als eine unangenehme Sache betrachteten. Zu diesen Pflichtvergessenen gehörte Niemann nicht. Er flehte zum Himmel um Raubmorde in ungemessener Zahl, die in seinem Bezirke passieren sollten, aber die Mörder taten ihm den Gefallen nicht. Rings um ihn her in den Bezirken seiner Kollegen verübten sie die beneidenswertesten Schandtaten, ihn und seinen Bereich aber mieden sie wie die Pest. Ein einzigesmal während seiner ganzen Dienstzeit war ihm die Freude zuteil geworden, zur Leiche eines scheinbar umgebrachten alten Trödlers gerufen zu werden, aber das Ergebnis all seiner Mühe und all seiner Klugheit war gewesen, daß der gewissenlose Mensch aus Geschäftsrücksichten Selbstmord verübt hatte! Damals war Niemann fast gebrochen gewesen und hatte ein paar Wochen Urlaub nehmen müssen, um sich von diesem Schlage wieder zu erholen.
Und nun hatten die Aufführungen der Sherlock Holmes-Komödie all seinen leidenschaftlichen Ehrgeiz wieder neu entfacht. Der Erfolg des Detektivs auf der Bühne trieb ihn an, gleiche Lorbeeren im Leben zu suchen. Aber wie war es möglich, wenn kein geheimnisvoller Kriminalfall ihm dazu die Gelegenheit bot, wie waren durch seine Schlauheit Entdeckungen zu machen, wenn nichts zu entdecken war? Schal und leer lag das Leben vor ihm und um ihn her, ein wüstes Feld, auf dem nur die harten Disteln zweckloser, langweiliger Schreibereien als tägliche Nahrung wuchsen. Mit finsterem Gesichte war Niemann auch heute in sein Bureau gegangen, mit einem Seufzer hatte sein gewichtiger Körper sich auf dem Rohrstuhl vor dem Schreibtische niedergelassen, und um so mehr stieg die üble Laune, als in dieser frühen Stunde noch niemand kam, an dem er durch herzhaftes Anschnauzen sein Herz hätte leichter machen können.
Wenn aber die Not am größten, ist bekanntlich die Hilfe am nächsten. In die dumpfe Hoffnungslosigkeit Niemanns hinein klang unerwartet eine Freudenbotschaft. Durch ein Glockenzeichen des Telephons angekündigt, durch Pimpernells aufgeregte Stimme übermittelt, kam die befreiende Nachricht auf den eiligen Flügeln der Elektrizität in das Bureau hineingeschwebt. Ein Mord ist hier draußen passiert, ein Kindsmord zum allermindesten, rief Pimpernell aus der unsichtbaren Ferne her. Die Worte wirkten auf den Kommissär wie ein heller Blitz, der die Finsternis dichter Wolken auf einmal zerreißt. Noch ein paar schnelle Fragen, ein paar langsamere Antworten, dann der freudig tönende Ruf ins Telephon: Ich komme hinaus, ich komme sofort! Mit strahlendem Gesichte wandte sich Niemann ins Zimmer zurück, es gab doch noch eine Gerechtigkeit im Himmel! Endlich, endlich war auch sein Bezirk mit einem hoffnungsvollen Morde begnadigt worden.
Aber nun keine Zeit verlieren! Im Eilschritt stürmte der beglückte Kommissär zur Polizeidirektion in das Bureau seines Chefs, des Herrn Oberregierungsrats Bornträger, empfing seine Instruktionen, setzte den zur Zeit anwesenden Polizeiarzt in Kenntnis, verabredete mit ihm die gemeinsame Fahrt nach der Brand- und Mordstätte hinaus, holte seinen photographischen Apparat herbei – er war ein Künstler im Photographieren der eingelieferten Verbrecher – und stand in überraschend kurzer Zeit unten vor dem Portal, zur Abfahrt bereit. Etwas langsamer folgte der Herr Doktor, aber bald saßen sie doch nebeneinander im Wagen, der sie auf raschen Rädern davontrug.
Das Telephon hatte seine Pflicht getan, und fast gleichzeitig mit ihnen waren die Herren vom Gerichte zur Stelle. Sie fanden den plötzlich berühmt gewordenen Ort von einer dichten Menschenmenge umlagert, die gesamte Nachbarschaft in freudigster Aufregung. Man wußte bereits die allergenauesten Details über das, was hier vorgegangen war, und wenn die alte Frau Negenborn in ihrem Grabe hätte vernehmen können, was ihr nachgesagt wurde, sie wäre sicher wieder daraus hervorgekommen und hätte ihre Nachbarinnen kräftig geohrfeigt. Man behauptete von ihr, sie hätte den Kindsmord gewerbsmäßig seit ihrem zwanzigsten Jahre betrieben, und wenn man auch fürs Jahr nur fünfzig umgebrachte Opfer ansetzte, so kam – die Tote war beinahe siebzig alt geworden – eine hübsche Zahl heraus. Auch das war erwiesen, daß sie sich einen besonderen Ofen für die Verbrennung von Kinderleichen, eine Art von kleinem Privatkrematorium, hatte bauen lassen, und ein dichtumdrängter Mann war sogar in der Lage, den Grundriß dieses Ofens mit einem Stock auf den Boden zu zeichnen.
Das Erscheinen der gerichtlichen und polizeilichen Herren brachte neuen, willkommenen Gesprächsstoff, doch entzog die neidische Tür sie schnell den begierigen Augen. Die vereinigte Kommission fand Stilke neben dem Taschentuch auf dem Herde als getreuen, rotköpfigen Hüter, und nun begannen die Untersuchungen, Forschungen, Besprechungen und Meinungsverschiedenheiten. Die medizinischen Sachverständigen sagten einander die bei diesen Herren so beliebten Freundlichkeiten und gaben sich in möglichst höflichen Worten zu verstehen, daß der eine den anderen für einen Esel halte. Der Herr Staatsanwalt machte ein sehr kluges Gesicht, ging an der Spitze der kleinen Schar in Haus und Garten umher, entdeckte wenig und betraute sodann den Herrn Kommissär Niemann mit einer detaillierten Untersuchung. Seine Tätigkeit begann damit, daß er ein paar photographische Aufnahmen machte. Die räucherige Küche wurde photographiert, sodann in möglichst großem Format noch einmal für sich das verhängnisvolle Taschentuch, in dessen einer Ecke man ein großes eingesticktes B entdeckt hatte. Diese Ecke wurde so gelegt, daß sie ein wenig über die Kante des Herdes niederhing und auf diese Weise der vielleicht verräterische Buchstabe auch deutlich im Bilde sichtbar werden mußte. Nun beschlagnahmte das Gericht dieses wichtigste Zeugnis des mit Gewißheit angenommenen Verbrechens, um das pathologische Institut mit genauester Prüfung zu betrauen, und nach Empfangnahme mannigfacher Befehle und Vorschriften blieben Niemann und Stilke allein zurück. Ein paar inzwischen eingetroffene Schutzleute wehrten der ständig wachsenden Menge den Zutritt zu der verlockenden Stätte des Mordes.
Niemann trat mit großen, feierlichen Schritten auf seinen Untergebenen zu, legte ihm in würdevoller Vertraulichkeit seine rechte Hand auf die Schulter und sagte: Stilke, vielleicht ist heute wirklich mein Tag gekommen. Oder unser Tag. Denn auch Sie sind beteiligt. Sie sollen mich unterstützen bei der Untersuchung in Sachen dieses mutmaßlichen Kindsmordes und sollen Anteil haben an dem etwa dabei zu gewinnenden Ruhm.
Jawohl, Herr Kommissär. Stilke legte aus alter Gewohnheit die Hände an die Hosennaht, obwohl er in Zivil war. Er fühlte sich halb gehoben, halb bedrückt.
Was wir bisher gesehen haben, ist nur der erste, flüchtige Augenschein. Tiefer und weiter sehen, darin liegt die Kunst. Viele bleiben immer nur an der Oberfläche. Meine Arbeit fängt jetzt erst an. Die Sherlock Holmes-Arbeit. Da heißt es, sich zusammennehmen, Stilke.
Jawohl, Herr Kommissär.
Jetzt können Sie auch zeigen, ob Sie scharf zu beobachten wissen. Schärfer als andere. Und aus den Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Darauf kommt es an. Da braucht man Scharfsinn, Verstand, Intelligenz!
Er hatte den Zeigefinger ausgestreckt und bohrte damit bei jedem der letzten drei Substantive ein Loch in die Luft. Dem armen Stilke traten dicke Schweißperlen auf die Stirne bei dieser gewaltsamen Forderung von Geisteskräften, über deren Vorhandensein er nicht ganz im klaren war. Mit den gestammelten Worten: Jawohl, Herr Kommissär, Intelligenz, zog er sich bis auf weiteres aus der Affäre.
Niemann aber war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, als daß er die Nöte seines schwitzenden Untergebenen beachtet hätte. Mit einer Imperatorengeste wies er auf die schwarze Feuerstätte der Küche hin und sagte: Hier haben wir einen Herd. Er kann bei diesem Verbrechen eine Rolle gespielt haben, aber es ist noch ungewiß. Erst das Sichere, dann das Ungewisse. Das Sichere ist der Brunnen; gehen wir zum Brunnen!
Es geschah, wie er befohlen hatte, und die beiden verließen das Haus durch eine der Eingangstür gerade gegenüber gelegene Oeffnung; die früher darin vorhanden gewesene Tür war beim Brande von den eindringenden Feuerwehrleuten offenbar zerschlagen worden. Nach ein paar Schritten kommandierte Niemann ein »Halt«, Stilke machte Front, und der Kommissär sagte: Orientieren wir uns zunächst genau. Genauer, als es bisher geschehen ist. Sie müssen sehen lernen, Stilke. Hier haben wir einen Garten. Ungepflegt, noch kahl, weil das Frühjahr erst im Anzuge ist. Die Mauer, die das Grundstück nach der Straße zu begrenzt, setzt sich rechtwinklig anschließend auf beiden Seiten nach hinten fort. Aber nur auf etwa ein Drittel von der Tiefe des Grundstücks. Mit der Rückseite des Hauses schneiden die beiden Seitenmauern ab. Nach dem Flusse zu, der hinten vorüberfließt, werden sie durch Hecken erseht. Sie gehen auf beiden Seiten des Gartens bis zum Flusse, sind aber schlecht gehalten. Dort ist ein Loch darin, dort ist ein anderes, was folgern Sie daraus Stilke?
Was ich – woraus – aus den Hecken?
Nein, aus den Löchern.
Daraus kann ich nur folgern, daß die Frau Negenborn nicht nachgepflanzt hat.
Unsinn. Nachdenken, Stilke, scharf nachdenken. Intelligenz!
Jawohl, Herr Kommissär.
Also: aus den Löchern kann man folgern, daß jemand sich dort ohne Mühe hat hindurchzwängen können und das Grundstück betreten, ohne das Haus zu berühren.
Jawohl, Herr Kommissär.
Weiter. Um das Haus herum, soweit die Mauern nach hinten reichen, ist der Boden gepflastert. Hier ist auf irgendwelche Fußspuren kaum zu rechnen. Auch sind hier die Maurer schon zu viel herumgelaufen. Im Garten muß man suchen. In ihn führt von da, wo das Pflaster aufhört, ein einziger mit Steinplatten gepflasterter, fester Weg. Alles übrige ist weicher Boden von schwarzbrauner Gartenerde. Dieser einzige Weg führt zu dem inkriminierten Brunnen. Sehen Sie den Brunnen, Stilke?
Jawohl, Herr Kommissär.
Es ist ein runder Brunnen von altmodischer Art mit Steinumfassung. Ein Ziehbrunnen. Man sieht die Vorrichtung. Er liegt nicht geradeaus in der Mitte des Gartens, sondern etwas nach rechts. Der gepflasterte Weg führt schräg darauf zu. Stilke, was schließen Sie aus dem Pflaster dieses Weges?
Daß die Frau Negenborn keine nassen Füße kriegen wollte, wenn sie bei Regen oder bei Schnee Wasser holen ging.
Gut. Aber das war eine leichte Folgerung. Strengen Sie sich an. Der Brunnen steht in einer halbrunden Vertiefung des Gesträuchs, das diese ganze rechte Gartenseite bis zur Hecke einnimmt, links gegenüber sind Gemüsebeete, größtenteils leer, was sehen Sie noch darauf?
Ein paar Köpfe roten Kohl, Herr Kommissär.
Gut. Auch die scheinbar nebensächlichsten Dinge muß man beachten. Haben Sie alles, was Sie hier sehen, fest in sich aufgenommen?
Jawohl, Herr Kommissär.
Dann kommen Sie. Wir wollen jetzt zu dem Brunnen gehen. Treten Sie aber nur auf die Steinplatten hier, nicht auf den weichen Boden daneben. Vorwärts! Er ging voran, Stilke folgte ihm nach. Er schwitzte furchtbar, ließ die Zunge weiter als gewöhnlich heraushängen und atmete laut durch die Nase.
Beim Brunnen machte Niemann wieder Station und schaute ein paar Sekunden auf die schwarze, runde Wasserfläche in der Tiefe nieder, die ihm aber nur das eigene Spiegelbild zeigte, hinter dem Stilkes rotes Gesicht schüchtern hervorlugte. Das Brunnenseil war hochgezogen, der eiserne Haken daran hing ruhig in der Sonne. Nach ihm griff Niemann, zog ihn zu sich her, nahm eine Lupe aus der Tasche und musterte das rostige Eisen mit nachdrücklichster Aufmerksamkeit. Es dauerte lange, bis er mit dieser Prozedur zu Ende kam, wenn er aber auch tiefe Geheimnisse bei der Besichtigung entdeckt hatte, so ließ er doch seine durch Stilke vertretene Mitwelt nichts davon erfahren. Wahrscheinlicher war es, daß er überhaupt nichts herausgefunden hatte, weil die sonnige Heiterkeit jedes großen Entdeckers auf seinen Zügen unsichtbar blieb.
Das Wasser muß abgesucht werden, wie ja auch der Herr Staatsanwalt es bereits verständigerweise angeordnet hat. Lassen Sie Schöpfeimer an langen Stangen unbeweglich befestigen und herausholen, was etwa noch unten liegt. Jetzt gehen wir weiter.
Das Weitergehen wurde jedoch nach zwei Schritten bereits unterbrochen. Sobald Niemann diese zwei Schritte getan hatte, stieß er einen Ton der Befriedigung aus und blieb abermals stehen, wie ich gedacht hatte, rief er. Durch die Luft konnte das Taschentuch mit seinem Inhalte nicht hierherfliegen. Irgend jemand muß es gebracht haben, und hier haben wir seine Spur. Die haben die Herren vom Gerichte wieder einmal nicht gefunden.
Er kniete nieder, um die genannte Spur zu besichtigen, doch fiel ihm noch im rechten Augenblick ein, daß Sherlock Holmes in solchen Momenten sich lang auf die Erde zu legen pflegte, um der verräterischen Oberfläche unserer gemeinsamen Mutter möglichst nahe zu sein. Der Boden war hier im Doppelschatten des Brunnens und des Gesträuchs noch hübsch mit Feuchtigkeit getränkt, aber durch solche Kleinigkeiten ließ Niemann sich nicht abschrecken. In der nächsten Sekunde schon lag er ausgestreckt da, so lang er war, und zugleich rief er seinem erschrockenen Begleiter zu: Stilke, gehen Sie vorsichtig um den Brunnen herum, kommen Sie von der anderen Seite und legen Sie sich dort hin.
Der Schutzmann gehorchte, wenn auch mit einem wehmütigen Blick an seinem neuen Anzug hinunter, den er der Begegnung mit Lina zu Ehren angelegt hatte. Der Befehl des Vorgesetzten aber duldete keinen Widerspruch; gleich darauf lag auch Stilke in ganzer Größe auf der feuchten Frühlingserde, und so glichen die beiden ein paar eifrigen Spürhunden, deren Nasen den Boden beinahe berührten. Die Situation war unbequem, aber verdienstvoll.
Niemann sprach auch jetzt wieder zuerst. Die Spur ist interessant. Sagen Sie mir, was Sie sehen.
Mir scheint es, Herr Kommissär, als wenn jemand hier gestanden hätte.
Wahr und auch wieder nicht wahr. Was ist dies hier? Niemann zeigte auf eine Stelle nahe dem Brunnenrande.
Das ist Erde.
Erde, jawohl. Und auf der Erde, was sehen Sie da?
Laut schnaufend brachte Stilke die Nase noch näher an den feuchten Boden. Aber es kam ihm von dort keinerlei Offenbarung, so daß er nach einem Schweigen schüchtern eingestand: Was Besonderes kann ich hier nicht entdecken.
Sie müssen besser sehen lernen, Stilke. Geben Sie acht. Hier etwas weiter vom Brunnen ab ist der Boden zertreten. Keine bestimmt abgegrenzten Fußspuren sind zu erkennen. Die Person muß hier ein wenig verweilt haben, auch wohl auf ganz engem Raum etwas hin und her gegangen sein. Nun aber kommt die Hauptsache. Hier dieser Eindruck im Boden kann von den Füßen nicht herrühren. Wovon wohl sonst?
Stilke verlegte sich aufs Raten, von den Händen vielleicht?
Unsinn. Von den Knien. Die Person ist niedergekniet, hier ganz dicht am Brunnen. Man sieht es, aber man sieht es nicht mit voller Deutlichkeit. Ich schließe daraus, daß die betreffende Person weiblichen Geschlechts gewesen ist, und daß die Kleider einen noch genaueren Eindruck der Knie verhindert haben.
Großartig! sagte der Schutzmann in aufrichtiger Bewunderung.
Wir werden sehen, ob ich recht habe, gab Niemann zurück, wobei sein Gesicht von einem so selbstgefälligen Schmunzeln verklärt wurde, als es die unbequeme Körperlage nur gestattete. Die Schlußfolgerung war übrigens nicht schwer. Denn ich hatte vorher schon die Spur der Füße hier im Gebüsche rechts gesehen. Besichtigen wir sie genauer.
Stilke hatte gehofft, er würde nun wieder in die senkrechte Lebenslage zurückkehren dürfen, doch er hatte sich getäuscht. Kriechend wandte sich Niemann in das Gebüsch, und mit mühsam verhaltenem Seufzen kroch sein dicker Untergebener ihm nach. Zwischen ihnen befand sich die Spur, die der Gegenstand ihrer Untersuchung war. Ein Paar Füße hatte sich hier dem weichen Boden zwiefach eingeprägt, einmal auf den Brunnen zu-, das anderemal von ihm abgekehrt. Es war, wie auch Niemann betonte, deutlich zu erkennen, daß die betreffende Person den Garten auf dem gleichen Wege betreten und wieder verlassen hatte. Und nun sagen Sie mir, fuhr er fort, wo sie hereingekommen ist.
Stilke hob mühevoll den gebeugten Kopf, und bald erhellte ein Leuchten vom Triumph der Intelligenz das runde Gesicht. Dort ist noch ein Loch, ein Loch in der Hecke. Sollte sie da nicht hereingekommen sein?
Gut, Stilke. Die Sache kann kaum zweifelhaft sein. Und nun betrachten Sie die Spur noch einmal genau. Der Fuß ist offenbar weiblich. Nicht allzu klein, aber für einen Mann doch zu schmal und zu kurz. Möglicherweise könnte auch ein Knabe die Spur hinterlassen haben, man darf niemals mit vorgefaßten Meinungen arbeiten. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht nicht dafür, der Inhalt des Taschentuches weist auf eine weibliche Person. Sie sehen, die Spuren decken sich an einzelnen Stellen, daneben aber sind die Füße auch mehrfach klar abgedrückt. Was haben wir nun im Augenblick am nötigsten?
Stilke hätte gern geantwortet, daß er einen Arzt nötig haben würde, wenn er noch drei Minuten in dieser widernatürlichen Stellung verharren müsse, doch verhinderte der tiefeingewurzelte Respekt solche Antwort. Aber zum Nachdenken war er in diesem Zustand absolut unfähig, und so machten sich seine Gefühle Luft in einem verzweifelten: Ich weiß es nicht, Herr Kommissär. Er schien einem Schlaganfall nahe, sein Gesicht schillerte bläulich.
Gips, Stilke, Gips! Das ist es, was wir gebrauchen. Stehen Sie auf und sagen Sie Pimpernell, daß er uns Gips schaffen soll. Wir müssen einen Abguß von dieser Spur machen, die ich außerdem auch messen und abzeichnen werde.
Rascher, als er selbst es für möglich erachtet hatte, stand Stilke wieder auf seinen Füßen. Er hielt einen Schnaps zur Auffrischung seiner wankenden Lebensgeister entschieden für nötiger, als Gips, doch war er schon froh, sich nach diesem auf den Weg machen zu dürfen. Er hatte jedoch kaum ein paar Schritte getan, als Niemann ihn abermals durch ein donnerndes Halt! erschreckte. Auch der Kommissär war jetzt aufgestanden, hatte jedoch, mit seinem bisherigen Erfolge noch nicht zufrieden, mit unermüdeten Blicken weiter umhergespäht.
Hierbleiben, Stilke, rief er in großer, plötzlicher Aufregung. Hier ist was Neues, ganz was Neues. Eine zweite Spur, die Sache verwickelt sich. Eine Männerspur ohne Frage. Kommen Sie her, sehen Sie her!
Mit gemischten Gefühlen folgte Stilke der Aufforderung. Er sah sich im Geiste schon wieder auf dem Boden liegen und knöpfte heimlich seine Weste auf, um für alles gerüstet zu sein. Aber diesmal vergaß Niemann die vorige Methode; vielleicht war auch ihm die Sache reichlich unbequem gewesen. Er blieb stehen und betrachtete von oben die zweite Spur, indem er sagte: Das ist eine sonderbare Sache. Die Spur läuft hier durch das Gebüsch wie die andere dort, aber sie vereinigt sich nicht mit ihr. Kommt auch von einer anderen Stelle her und geht scheinbar dorthin zurück. Beides geschieht in der Richtung des Hauses.
Während er sprach, drängte sich Niemann voll rücksichtslosen Eifers durch das Gebüsch. Der Schutzmann folgte ihm und suchte in den Winkeln seines Gehirns nach der dort verborgenen Intelligenz, doch war es nicht leicht, sie zusammenbringen, weil die hinter dem Kommissär zusammenschlagenden Zweige den armen Stilke wiederholt auf Nase und Augen trafen, was für die geistigen Fähigkeiten unzuträglich war. Trotz dieser schmerzhaften Zwischenspiele gelang es auch ihm, die wiederum zwiefache Spur zu entdecken und bis zu dem Pflaster zu verfolgen, das die Ruine des Hauses umgab.
Passen Sie gut auf, Stilke. Der Mann ist vom Hause hergekommen und nach dem Hause zurückgegangen. Woraus folgern Sie das?
Wenn es ans Folgern ging, bekam Stilke jedesmal den größten Schrecken. Auch jetzt gab es ihm einen Stoß, und er brauchte Zeit, bis er die Antwort fertig hatte: Weil ich seine Füße hier abgedrückt sehe.
Unsinn. Könnte der Betreffende nicht auch umgekehrt gegangen sein?
Ja, das wäre wohl möglich.
Nein, das wäre eben nicht möglich. Denn er wäre dann vom Brunnen hergekommen und zum Brunnen zurückgegangen. Er müßte im Brunnen wohnen und auch jetzt noch im Brunnen drin stecken. In einem Brunnen aber wohnt man doch nicht.
Nein, Herr Kommissär.
Oder haben Sie schon einmal in einem Brunnen gewohnt?
Nein, Herr Kommissär.
Also. Da haben wir die logische Folgerung, Stilke. Die dürfen Sie niemals außer acht lassen.
Nein, Herr Kommissär.
Die logische Folgerung wird aber auch durch den Augenschein unterstützt. Sehen Sie her: an dieser Stelle und dort und dort noch einmal decken die Spuren der Füße einander. Offenbar ist aber die nach dem Hause zu gerichtete Spur die spätere. Sie sehen hier die zertretenen Ränder der ersten, wir gingen von der logischen Folgerung aus und kehren zu ihr zurück: der Mann ist vom Hause hergekommen und nach dem Hause zurückgegangen.
Jawohl, Herr Kommissär.
Was haben wir nun zunächst zu tun?
Wenn er nur dies gräßliche Fragen lassen wollte! dachte Stilke, um sich nach einigem Besinnen zu der Antwort aufzuraffen: Wir haben zu ermitteln, wer dieser Mann gewesen ist.
Das haben wir allerdings. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Zunächst haben wir zu eruieren, ob zwischen der weiblichen Spur und der männlichen Spur ein Zusammenhang besteht. Und zu diesem Zwecke haben wir das Gebüsch weiter zu durchsuchen, ob noch irgendwo eine sonstige Fußspur vorhanden ist.
Wieder stürzte sich Niemann in den Kampf mit den eigensinnigen Sträuchern, und wieder trug der ihm nachfolgende Stilke einige Verwundungen an empfindlichen Körperteilen davon. Diesmal aber war das Bemühen zwecklos. In dem weichen Boden zeigte sich nicht die geringste weitere Spur, und so ergab sich: das geheimnisvolle weibliche Wesen hatte den Garten durch das Loch in der Hecke, der geheimnisvolle Mann ihn vom Hause her betreten.
Vom Hause her, Stilke! Das bedeutet viel. Denn dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß die abschließende Tat bei diesem Verbrechen hier hinter diesen Mauern begangen worden ist. Wir müssen die Untersuchung dort nachher mit allergrößter Sorgfalt wieder aufnehmen. Aber zunächst wollen wir aus dem, was wir hier gesehen haben, die Schlußfolgerung ziehen.
Ein Seufzer kam von Stilkes Lippen. Es überlief ihn heiß und kalt, so oft er das Wort Folgerung hörte. In seinem ganzen Leben war es noch nie von ihm verlangt worden, so viel zu folgern, wie an diesem schönen Frühlingsmorgen. Vorläufig aber nahm ihm Niemann die gefürchtete Arbeit ab.
In der letzten Nacht hat sich der Vorgang abgespielt, den wir zu ergründen suchen, warum in letzter Nacht? Bei Tage war es unmöglich, ungesehen irgend etwas derart hier vorzunehmen, weil der ganze Garten von den Fabrikfenstern dort überblickt werden kann. Die Sache ist ausgeschlossen. Gestern mittag aber hat der Polier im Vorübergehen das Grundstück inspiziert und auch in den Brunnen hineingesehen. Das Taschentuch ist noch nicht darin gewesen, wie er mir vorhin ausdrücklich bestätigt hat. Bleibt nur noch die vergangene Nacht. Sehen Sie, Stilke, so muß man folgern, so scharf, so korrekt, so einwandsfrei.
Jawohl, Herr Kommissär.
Da ist keine Lücke, kein Loch. Nun weiter. In letzter Nacht haben zwei Personen von entgegengesetzten Seiten her das Grundstück betreten, offenbar in gleicher Absicht, aber getrennt, um vorher auf der Straße nicht zusammen gesehen zu werden. Denn daß die beiden zueinander in Beziehung stehen, daß ihre Begegnung hier verabredet war, das unterliegt nicht dem leisesten Zweifel. Da gibt es absolut nichts anderes. Wer hätte sonst ein Interesse daran, dies öde Grundstück bei Nacht zu betreten? Ein Verbrecherpaar aber war hier sicherer als irgendwo sonst. Stilke, wie denken Sie sich nun den weiteren Vorgang?
Stilke fuhr zusammen. Dann aber kam ihm ein erlösender Gedanke, und er sagte: Herr Kommissär wissen das alles so großartig zu folgern und auseinanderzusetzen, daß ich gar nicht wage, auch eine Ansicht zu äußern.
Niemanns Antlitz leuchtete auf. Nun, warum sollten Sie nicht auch Ihre Ansicht haben und äußern? Aber allerlei können Sie von mir wohl noch lernen. Also passen Sie auf: Die beiden treffen sich hier, sagen wir, zwischen Mitternacht und ein Uhr. Da ist es hier draußen totenstill. Die Frau kommt von der Seite, den Gang dort hinter der Hecke herunter, schlüpft durch das Loch und läuft durch das Gebüsch zum Brunnen. Ich sage mit Absicht: sie läuft. Ich habe die Spuren genau betrachtet und gefunden, daß die Fußstapfen tiefer eingedrückt und weiter auseinander sind, als die von einer Frau, die ruhig geht. Ob der Mann zuerst gekommen ist oder sie, läßt sich vorläufig noch nicht entscheiden. Jedenfalls haben sie einander hier am Brunnen getroffen. Ich glaube, daß der Mann das Kind zerstückelt und verbrannt hat; diese Vermutung ist aber noch keine Tatsache. wissen Sie, weshalb ich den Mann für den schuldigsten Teil erachte?
Nein, Herr Kommissär.
Ich schließe das aus der Verzweiflung der weiblichen Person, in der wir ohne Frage die Mutter des Kindes zu suchen haben. Sie ist jenseits des Brunnens geblieben, sie hat ihrem Verführer nicht einmal die Hand gereicht; der Durchmesser des Brunnens läßt das als ausgeschlossen erscheinen. Und wohlgemerkt, sie ist nicht da drüben stehen geblieben, sie ist auf die Knie niedergesunken. Verzweiflung, Stilke, Verzweiflung!
Jawohl, Herr Kommissär, Verzweiflung!
Er sprach das Wort mit besonderem Nachdruck; es kam seinen eigenen Gefühlen so nahe.
Sie hat ihn angefleht, irgend etwas nicht zu tun, oder sie hat gejammert – was wahrscheinlich ist – über das, was er getan hat. Es ist ein Akt aus einem Trauerspiel, was sich hier abgespielt hat. Seinen Abschluß aber wollen wir ihm geben, wenn wir den Kerl erst haben. Er hat sich's gut ausgedacht gehabt mit dem Brunnen hier. Das Haus da sollte abgerissen werden, der altmodische Brunnen wäre ohne Frage zugeschüttet worden, was man hineinwarf, hätte bald ein paar Meter Erde über sich gehabt, wenn es ins Wasser gefallen wäre, wie die Absicht war. Aber der Eisenhaken hat den verbrecherischen Plan vereitelt. An uns ist es, diesen glücklichen Zufall auszunutzen. Und nun, Stilke, ehe wir weitergehen, holen Sie den Gips.
Jawohl, Herr Kommissär, jetzt hole ich den Gips.