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Lina Ruschebusch hatte neuerdings einen überraschenden Bildungsdrang an den Tag gelegt. Lesen und Schreiben waren ihr auf der Schule stets als höchst überflüssige Beschwernisse des menschlichen Daseins erschienen, und ihre Abneigung dagegen war seitdem nur noch gewachsen. Ihre Mutter, die täglich nach Absolvierung aller Pflichten der Viehzucht mit einer großen Hornbrille auf der Nase zur Belohnung die Zeitung vom ersten bis zum letzten Worte durchstudierte, hätte gern gesehen, wenn auch ihre Tochter an dieser Quelle des Wissens ihren Durst gelöscht hätte. Doch Lina leugnete jeglichen derartigen Durst und erklärte lachend, ohne all den Zeitungsunsinn auskommen zu können.
So war es bis ganz vor kurzem gewesen, jetzt aber war es mit einem Male anders geworden. Sie hatte plötzlich eine Art von Wegelagerei begonnen und lauerte hinter Weidenbüschen, Häuserecken und Baumstämmen auf die nichtsahnende Zeitungsträgerin, der sie das neue Blatt aus der Hand riß, um sich dann mit ihrem Raub an irgend einen menschenfernen Ort – meist war es der Kuhstall – zurückzuziehen und in atemloser Hast mühsam den Inhalt der Tagesneuigkeiten zurechtzubuchstabieren. Wenn sie hinterher ihrer Mutter die Zeitung überbrachte, war sie scheinbar ganz ruhig und gleichgültig, aber mit jeder neu erscheinenden Nummer begann auch ihre seltsame Aufregung von neuem. Zugleich war sie lange nicht so heiter wie sonst, und in das unmelodische Geklapper ihrer Milchkannen klang der melodische Gesang ihrer fröhlichen Stimme nicht mehr hinein.
Sie erschrak jetzt leicht und sie tat es auch in dem Augenblick, als ihr Verlobter mit seiner drohenden Forderung von einem Paar Schuhen vor sie hintrat, obwohl sie versuchte, sein Verlangen von der humoristischen Seite zu nehmen. Aber ihr Lachen klang unnatürlich, und auch die Ausflüchte, die sie suchte, waren geeignet, Stilkes Verdacht nur neue Nahrung zu geben. So erhob er sich in Stimmung und Ausdruck immer mehr zur Größe eines tragischen Helden, der zuletzt, als er nach vielem Hinundher die geforderten Schuhe wirklich in Händen hielt und sie mit seinem Gipsabguß vergleichen konnte, in den dumpfen Tönen eines gebrochenen Mannes verzweifelt stammelte: Du bist es gewesen – woher hast du das Kind gekriegt?
Wieder versuchte sie zu lachen, wieder mißlang es, und plötzlich brach sie statt dessen in Weinen aus. Dabei umschlang sie seinen Hals mit so festen Armen, daß er sie nicht hätte abschütteln können, auch wenn er Energie genug dazu gehabt hätte, und stammelte unter strömenden Tränen: Ach, Lutz, ich bin ja so schrecklich unglücklich!
Da kann ich dir nicht helfen. Das bin ich auch, gab Lutz mit der Kälte des Heroen zur Antwort. Zugleich aber wurde ihm sonderbar warm und beklommen in der Umschlingung der Mädchenarme. Und sie mochte fühlen, daß diese körperliche Nähe ihr bestes Kampfesmittel sei; denn sie machte nicht die geringste Anstalt, ihn loszulassen. Während er ihr aber in die so nahe zu ihm aufschauenden Augen blickte, kamen auch ihm die dicken Tränen in die seinen, und er sagte mit erstickter Stimme: Jawohl, unglücklich, das bin ich auch. Ich könnte heulen wie so ein dummer Junge. Und daß du mir diese Geschichte gemacht hast, wo ich dich doch so gern gehabt habe, so gern, und du bist so ein gemeines Frauenzimmer geworden und hast mit fremden Soldaten getanzt – und jetzt sage ich dir, jetzt will ich wissen, woher du auf einmal das Kind gekriegt hast.
Er hatte nun doch ihre Arme von seinem Nacken heruntergebracht und hielt sie fest an den Händen gepackt. Sie aber lächelte, diesmal ohne besonders Kraftanstrengung, und sagte: Du dummer Lutz, laß es dich doch sagen, ich habe ja gar keins gehabt.
Ach, das ist Unsinn. Wenn man eins umbringt, hat man auch eins gehabt.
Aber ich habe ja wirklich keins umgebracht.
Das kann jeder sagen. Ich habe doch den angebrannten Knochen mit meinen eigenen Augen gesehen.
Und wenn du zehn Knochen gesehen hättest oder hundert oder tausend, darum hätte ich doch noch keins umgebracht gehabt.
Der gute Stilke hätte ihr so gern geglaubt, aber der Gipsfuß, auf den sein hilfesuchendes Auge fiel, zog die Wage der Gerechtigkeit so tief hinunter, daß Linas angebliche Unschuld in die Luft emporflog. Er wurde wieder zum strengen Manne des Gesetzes, nahm den einen von Linas schwarzen Sonntagsschuhen in die eine Hand, den weißen Gipsfuß in die andere, hob die beiden feierlich empor und sprach mit donnergrollender Stimme: Du lügst. Was ich hier habe, das ist, was man einen juristischen Beweis nennt. Die beiden passen aufeinander, wie nur was passen kann. Du bist in der Nacht des Verbrechens im Garten deiner sogenannten Tante Negenborn gewesen.
Sie wurde feuerrot und wickelte in großer Verlegenheit ihre Hände in die blaue Arbeitsschürze, die sie trug. Ich habe dich ja noch gar nich gesagt, daß ich nich drin gewesen wäre.
Ja, Lutz, daß ich da drin gewesen bin, das muß ich dich sagen. Aber nich so, wie du dich das denkst. Ganz gewiß nich so.
Wie denn anders?
Ach, Lutz, du mußt mich man bloß nich böse sein. Ich habe so 'ne Angst vor dich. Und es is auch sehr unrecht von mich gewesen, aber ich tanze doch nu mal so gern.
Mit fremden Soldaten, jawohl!
Nein, nein, am liebsten mit dich, ganz gewiß mit dich! Aber wo du doch so oft Dienst hast, und da bin ich zweimal alleine gegangen, ganz gewiß nich öfter! In den »Grünen Baum«, weißt. Du. wir sind ja doch auch schon zusammen da gewesen. Und weil ich mich gedacht habe, wenn wir verheiratet sind, da is es doch nich viel mehr mit'm Tanzen, darum, weißt du. Und das erstemal habe ich wirklich mit 'nem Soldaten getanzt, aber das zweitemal nich, ganz gewiß nich!
Aber mit dem, der hinter dir hergelaufen ist an dem Abend da.
Ja, das is er wirklich, Lutz. Und getanzt habe ich auch mit ihm.
Lina, wer ist es gewesen?
Das weiß ich dich nich zu sagen, Lutz, ich habe das Mannsbild vorher niemals gesehen gehabt.
Aha, der große Unbekannte! Den kennen wir schon, wir von der Polizei.
Ob du mich's glaubst oder nich, ich weiß es ganz gewiß nich zu sagen, wer es gewesen is. Und ich habe ihn auch gar nich gemocht, aber du weißt ja, wie die Männer so sind. Er hat mich keine Ruhe gelassen, und da habe ich zweimal mit ihm getanzt. Und wie ich nach Hause gegangen bin – es is noch gar nich spät gewesen, um halb zwölf oder so – da is er mich auf einmal nachgekommen und hat allerlei gequasselt von Gernhaben und Schönsein und was die Männer so reden. Und zuletzt – du mußt mich aber nich böse sein, Lutz – zuletzt hat er mir küssen wollen. Aber da habe ich ihm 'n Stoß gegeben und bin ihm weggelaufen. Er hätte mir wohl wiedergekriegt, wenn er nich etwas zu viel gehabt hätte vom Trinken, und da habe ich gehört, daß er hingefallen is. Und da bin ich nur noch schneller gelaufen und rasch um die Ecke, und da is mich Tante Negenborn ihr Garten eingefallen und das Loch in die Hecke, und da bin ich hinein und habe mich hinter dem Brunnen niedergekniet, daß er mir nur ja nich sehen sollte, wenn er am Ende doch noch nachkäme. Sieh, Lutz, das is alles. Genau so is es gewesen.
Und wie er gekommen ist?
Das is er doch gar nich.
Nicht nachgekommen?
Nee, Lutz, gewiß nich.
Das mach du anderen vor. Ich habe seine Spur so gut wie deine. Seinen Gipsfuß genau so gut wie deinen. Und ich weiß, wo er gegangen ist, ganz genau. Zum Brunnen ist er herangekommen, hinter dem du gekniet hast. Mach mir nur nichts vor!
Und ich habe dich doch alles gesagt, was ich weiß. Darum bin ich ja so furchtbar in Angst gewesen. Weil ich immer in die Zeitung gelesen habe von dem fremden Mann und von den beiden Spuren und weil ich doch nichts von ihm gesehen habe.
Da mußt du hübsch blind gewesen sein! Der Brunnen ist so breit wie der Tisch da, und wenn einer dahinter steht, sieht man ihn doch.
Aber ich sage dich, Lutz, ich habe nichts von einem Manne gesehen.
Und ich sage dir, daß alles erlogen ist, was du gesagt hast. Erstunken und erlogen, jawohl. Weil du von dem Kinde nichts wissen willst, da willst du auch von dem Manne nichts wissen, und es ist alles erschwefelter Unsinn, was du mir da vorgeredet hast.
Aber, Lutz, mein guter, lieber Lutz!
Laß mich in Frieden. Ich bin kein guter Lutz und will kein guter Lutz sein. Aber herauskriegen will ich's, wer dieser Lumpenkerl gewesen ist. Und ich bringe es heraus, wie ich das mit dir herausgebracht habe! Darauf kannst du Gift nehmen.
Er war schon draußen, bevor sie die holden Fesseln ihrer frischroten Arme noch einmal um ihn schlingen konnte. Sie preßte die Schürze vors Gesicht und weinte bitterlich; der im Herzen genau so betrübte Schutzmann aber stürmte davon. Es legte sich ihm wie Blei auf die Füße, je mehr er sich von dem Häuschen der wohlhabenden Witwe Ruschebusch entfernte, doch bezwang er sich, keinen Blick dorthin zurückzutun und rastlos vorwärts zu eilen. Er blies dabei den Atem von sich gleich einer über Gebühr angestrengten Dampfmaschine, und eine große Träne lief ihm zuweilen über das Gesicht. Aber nichts machte ihn wankend in seinem Vorsatze. Jetzt galt's! Jetzt war dieser Fall, der ihm schon so viel Aerger und Unbequemlichkeit gebracht hatte, zu seiner eigensten Angelegenheit geworden, jetzt war es der Zweck seines Lebens, den Beweis zu führen, daß die Geliebte seines Herzens die schändliche Mörderin eines auf geheimnisvolle Weise ihr angeflogenen Kindes gewesen sei. Und ihn zu fassen, ihn, der sie zu solchem Verbrechen gebracht hatte! In diesem Gedanken lag für den wütenden, weinenden Stilke ein kleiner Trost, und blutige Vorstellungen von Köpfen, Rädern und Hängen erfüllten wohltuend seine gemarterte Seele.
Den einen Gipsfuß trug er auf die Station zurück, den andern dort verwahrten schlug er sorgsam ein in Papier und preßte ihn zärtlich ans Herz auf der nun beginnenden Irrfahrt. Sie galt den Schustern der großen Stadt. Allen, soweit er nicht im Auftrage seines Kommissärs bereits bei ihnen gewesen war. Ihre Anzahl war nicht ganz klein, aber der Eifer in der Verfolgung dieses Zieles war bei Stilke bisher nicht sehr feurig gewesen. Jetzt sollte keiner von den biederen Fußkünstlern unbesucht bleiben. Hier war eine leise Hoffnung, den Verbrecher entdecken und überführen zu können. Denn der im Gips getreulich abgeformte Stiefel besaß ein untrügliches Kennzeichen: einen auf der Sohle aufgesetzten Flicken, der für den Mörder ebenso unbequem gewesen sein mußte, wie er verhängnisvoll für ihn werden konnte. Verschiedene Schuster hatten bestätigt, daß diese Art der Stiefelheilung nur selten vorgenommen wurde – eben wegen der Unbequemlichkeit für den unglücklichen Träger – daß aber gerade darum die Möglichkeit einer Entdeckung auf diesem Wege nicht ausgeschlossen sei.
Mit dem Feuereifer des getäuschten Liebhabers, der den Beweis von der Schuld der Geliebten ebenso lebhaft erhofft wie fürchtet, eilte der Schutzmann von einer Schusterwerkstätte zur anderen, enthüllte den Gipsfuß und stellte seine Fragen. Er fand Schuster, die sich erinnerten, solche Flickarbeit in letzter Zeit einmal gemacht zu haben, er fand andere, die sich entrüstet von ihm abwandten, weil er ihnen das Abgeben mit solchen Kleinigkeiten zugetraut hatte. Drei Tage lang suchte, verhandelte, verglich der feuereifrige Stilke, doch überall war Enttäuschung sein Lohn.
Endlich am vierten Tage wandte sich das Blatt. Unter den wenigen Schustern, die er bisher unbesucht gelassen hatte, befand sich auch jener, der von den Mitgliedern der hohen königlichen Polizeidirektion, vom obersten Chef bis zum Schutzmann hinunter, mit ihren Aufträgen beehrt zu werden pflegte. Daß hier die Spur eines Verbrechers gesucht werden könnte, war für Stilkes Gehirn ein undenkbarer Gedanke, und er ging auch nur zu dem Manne namens Abenthum, weil er von ihm die Adresse eines aus der bisherigen Wohnung verzogenen Schusterkollegen haben wollte. Bei dieser Gelegenheit aber packte er seinen Gipsfuß aus, und Meister Abenthum betrachtete ihn bedächtig, um dann, die Nase mit dem Zeigefinger reibend, langsam zu sagen: Hören Sie mal, ich glaube, das Ding da kommt mir bekannt für.
Bekannt, wieso?
Ja, wie man so seine eigenen Kinder kennt, wissen Sie. Der Flicken da, das könnte so ein Kind von mir sein.
Weshalb meinen Sie das?
Ja, wissen Sie, sonst behält man ja so was wohl nicht. Aber weil er mir doch so 'nen fürchterlichen Krach gemacht hat. Was nämlich seine Frau ist, die hatte mir doch den Stiefel hergebracht, ohne daß er was davon gewußt hat. Und wie er nu sieht, daß der Flicken unter der Sohle sitzt, was doch nur sehr sparsame Leute machen lassen – seine Frau, die hat es nämlich sehr mit der Sparsamkeit – und wie er fühlt, was das beim Gehen auf sich hat, da macht er uns beiden einen fürchterlichen Krach. Erst seiner Frau, die das Unglück angestiftet hat, und hinterher mir, wo ich doch ganz unschuldig daran bin. Und ich sage noch –
Ja, wer ist es denn eigentlich, wovon Sie reden?
Da haben Sie nicht weit zu suchen, Herr Kriminal. Fragen Sie nur einmal bei Ihrem eigenen Herrn Kommissär an, wie es mit seinen Stiefelsohlen steht.
Stilke taumelte einen Schritt zurück. Nein, es war ja nicht möglich! Der Kommissär und seine Lina! Dieser hochangesehene Beamte, dieser Vertreter der öffentlichen Ordnung, dieser Mann seiner Frau vor allem, die schon aus Sparsamkeitsrücksichten – denn verliebte Leute pflegen verschwenderisch zu sein – jedem Techtelmechtel ihres Gatten rechtzeitig einen Riegel würde vorgeschoben haben! Dieser Mann der Verführer seiner Lina, der Vater eines ungerufenen Kindes, der Zerstückeler eines unschuldigen Säuglings. Nein, nein und hundertmal nein! In ungewöhnlich raschem Wirbeltanz drehten sich Stilkes Gedanken, suchten jener schauderhaften Möglichkeit zu entrinnen und kehrten wider Willen doch immer wieder zu ihr zurück. Und nun fing er an sich zu erinnern, daß Niemann in seinem früheren Regimente heute noch im Ruf eines argen Schwerenöters in vertraulichen weiblichen Angelegenheiten stand, daß er ein hübscher und strammer Kerl war, dem der frühere Militär noch aus allen Hosennähten hervorsah, daß Lina überführter- und eingestandenermaßen mit einem gemeinen Soldaten sogar getanzt hatte. Herrgott im Himmel, wenn es doch möglich wäre!
Das alles ging im Laufschritt durch die Seele des Schutzmanns, während sein sterblicher Leib nur die hilfesuchenden Worte zu stammeln wußte: Sie meinen doch nicht gar den Herrn Kommissär Niemann?
Na, wen denn sonst? Wer hat denn sonst auf der Direktion so 'ne sparsame Frau, daß sie solche Flicken auf Stiefelsohlen setzen läßt? »Abwechselnd immer Gebetbuch und Anschreibebuch«, sagt man doch von ihr. Na, mir sollte so eine 'mal kommen.
Stilke hörte bereits nicht mehr, was der Schustermeister Abenthum sagte. Die Stiefel, die Stiefel! schrie es in seinem Herzen. Fassen, sehen, prüfen, vergleichen, das war es, wozu es ihn trieb. Den Verbrecher überführen, wenn er ein Verbrecher war, die Komplizin des Verbrechers überführen gleich ihm, sie beide morden und sich dann selber eine Kugel vor den Kopf schießen, das war so ungefähr der Verlauf der nächsten Zukunft, wie er sich in vorläufig noch unklaren Umrissen in Stilkes Gehirn abspiegelte.
Mit ein paar unverständlich gemurmelten Worten nahm er vom Schustermeister und seiner pechduftenden Werkstatt Abschied und eilte mit den kurzen, flatternden Hosen durch die Straßen zur Wohnung des Herrn Polizeikommissärs Niemann. Zuerst war er ganz Mut und Untersuchungsdrang, aber je kleiner die Entfernung zwischen ihm und dem erstrebten Hause wurde, desto mehr wurden in seinem Gemüte neben den allgemein menschlichen Empfindungen auch die wohlangedrillten Subordinationsgefühle wieder wach. Er, Schutzmann Stilke, wollte seinen Vorgesetzten eines Verbrechens bezichtigen! War das nicht an sich schon ein Verbrechen, das er selber begehen wollte? Mehr und mehr kroch ein dumpfes Schuldbewußtsein in seiner Brust in die Höhe, und als er die Behausung des Herrn Kommissärs mit stetig verlangsamten Schritten erreicht hatte, stieg er die Treppe mit dem scheuen Aussehen eines geprügelten Hundes hinan.
Er pflegte sich sonst wenig zu freuen, wenn er der frommen und sparsamen Frau Niemann mit ihren geizigen Händen und ihren scharfblickenden Raubvogelaugen begegnete, diesmal aber gab es ihm ein Gefühl der Erleichterung, als ihr hagerer Körper ihm schon auf der Treppe begegnete und ihm, ohne daß er noch gefragt hätte, mit scharfer Stimme zu verstehen gab, daß der Herr Kommissär nicht zu Hause sei, jedoch bald zurückkommen würde.
Ihre strengblickenden Augen zusammen mit dieser Mitteilung gaben ihm einen rettenden Gedanken ein. Hier war eine kleine Unwahrheit offenbar am Platz, und so machte Stilke denn mit geschmeidig lügnerischer Stimme der Hausgewaltigen die Eröffnung, daß der Herr Kommissär selbst ihn hergeschickt habe, um etwas an seinen Stiefeln nachzusehen.
An seinen Stiefeln?
Jawohl, an seinen Stiefeln.
Es gab noch einiges Hin und Her über dies unerklärliche Verlangen, doch erfüllte Frau Niemann schließlich kopfschüttelnd die Wünsche ihres Gatten, da sie keine Unkosten verursachten. Nun sah sich Stilke am nächsten Ziel; er wurde von der Frau Kommissär in die neben dem amtlichen Bureau belegene Privatwohnung geführt, und vor ihm aufgereiht stand seines Vorgesetzten Stiefelschatz am Boden. Er begann mit bebenden Händen zu suchen. Das erste Paar hatte unversehrte Sohlen, das zweite zerrissene, jedoch ungeflickte, das dritte – der gefaßte Stiefel entfiel Stilkes Händen und polterte zu Boden. Gleich aber hatte der Schutzmann ihn wieder aufgehoben, hatte den Gipsfuß daneben gehalten, hatte den Originalflicken, der auf der Sohle zu sehen war, mit seinem weißen Doppelgänger verglichen und murmelte nun mit gebrochener Stimme: Er ist es – er ist es!
Das Drama sollte nach dem Willen des unsichtbar waltenden Schicksals gleich seine Katastrophe haben, und um sie herbeizuführen, erschien hier der heimkehrende Herr Kommissär selbst auf der Bühne, die augenblicklich sein Schlafzimmer darstellte. Vor ihm stand seine Ehehälfte, deren Nase irgendwelche unerlaubte Ausgaben zu wittern schien und noch spitzer war als gewöhnlich, vor ihm stand Schutzmann Stilke, einen Stiefel und einen Gipsfuß in seinen Händen, und von den Lippen dieses Mannes erschallte der sonderbare Gruß: Herr Kommissär, ich bin nur Ihr Untergebener – aber Sie sind es gewesen!
Niemann wurde grob. Was fällt Ihnen ein? Was wollen Sie mit meinen Stiefeln?
Sie überführen, Herr Kommissär. Sie sind es gewesen!
Kerl, Sie scheinen toll geworden zu sein. Was soll denn das alles bedeuten?
Sehen Sie selber her. Sie können nicht leugnen. Es ist Ihr Stiefel!
Deutlicher als die Worte Stilkes besagte der wohlbekannte Gipsfuß in seinen Händen, worauf er abzielte. Kopfschüttelnd und mit großem Nachdruck »Dummheiten!« murmelnd, nahm ihm der Kommissär Stiefel und Gipsfuß aus den Händen, um dann, sobald er sie mit vergleichenden Blicken gemustert hatte, in große Aufregung zu geraten. Er stürzte zum Fenster ins hellere Licht, verglich noch einmal, gab sonderbar tierische Töne äußerster Ueberraschung von sich und setzte sich schließlich, als wenn seine Beine die übliche Kraft verlören, auf einen Stuhl, indem er halblaut sagte: Schockschwerenot, es ist wahrhaftig mein Stiefel!
Stilke reckte seine Figur zu äußerster Länge aus und erhob die Stimme zum Tone feierlicher Anklage: Jawohl, es ist erwiesen. Sie sind es gewesen! Sie haben es getan. Sie sind in dem Garten beim Brunnen gewesen, Sie sind auf dem Balle im »Grünen Baum« gewesen, Sie können es nicht in Abrede stellen.
Niemann war so betroffen, daß er kaum hörte, was Stilke sagte. Die beiden Verräter in seinen Händen anstarrend, murmelte er nur noch einmal: Wahrhaftig, es ist mein Stiefel!
Seine hagere Hälfte hatte die Aussage des Schutzmanns besser verstanden, und in die Worte ihres Gatten hinein schrie sie nun mit gellender Stimme: Wo hast du dich wieder herumgetrieben, du Lump? Was, auf dem Balle bist du gewesen? Jetzt weiß ich's, jetzt weiß ich, wo die drei Mark fünfundsiebzig geblieben sind, die mir bei meiner letzten Monatsrechnung gefehlt haben!