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Siebtes Kapitel

Wäre Stilke nicht ein wenig indolent gewesen in religiösen Dingen, er hätte jetzt wohl jeden Morgen und jeden Abend gebetet: Lieber Gott, gib mir Intelligenz! Lieber Gott, gib mir Logik! Denn es war schauderhaft, welche Summe von diesen beiden Eigenschaften sein Vorgesetzter gegenwärtig von ihm verlangte. Und hätte diesem nicht ein mit mäßigen Gaben ausgestatteter Untergebener weit besser gepaßt, als ein an geistigen Glücksgütern reicherer, um auf dem dunklen Grunde holden Stumpfsinns die Brillanten eigener Schlußfolgerungen um so heller leuchten zu lassen, der geheimnisvolle Kriminalfall aus der Augsburgerstraße hätte dem braven Lutz wohl den Hals gebrochen.

Der Herr Kommissär hatte ihn auf Grund genialer Schlüsse à la Sherlock Holmes auf das genaueste über die Personen der beiden an der Schandtat beteiligten Uebeltäter aufgeklärt. Er hatte so viel untersucht, gemessen, photographiert, daß er sich einbildete, aus den gefundenen Spuren die beiden greifbar konstruieren zu können. Das Mädchen war 1,35 Meter groß und stammte aus besseren Kreisen, es hatte am fraglichen Abend ein Kleid von dunkelblauem Wollstoff getragen; der Mann war um 35 Zentimeter größer und gehörte den Arbeiterkreisen an, hatte – dies war der Beweis der niederen Herkunft – ein Paar Stiefel angehabt, von denen der eine auf der Sohle des rechten Fußes einen Flicken hatte, war von brutalem und grausamem Charakter und hatte sein unglückliches Opfer auch zu dem letzten, greulichen Verbrechen gezwungen. Weshalb das alles so war, erläuterte Niemann dem Genossen seiner Nachforschungen in den geistvollsten Vorträgen, doch hätte dieser die gewichtigen dafür angeführten Gründe schon eine halbe Stunde später nicht wiederholen können; der geflickte Stiefel allein blieb als ein Gegenstand von prosaischer Deutlichkeit in seinem Geiste haften. Trauriger war es für Niemann, daß er bei dem Herrn Landgerichtsrat Mauerbrecher, der auf Antrag der Staatsanwaltschaft die weiteren Ermittlungen in dieser Sache übernommen hatte, keine Gegenliebe fand für seine gewichtigen Schlußfolgerungen, solange die beiden von ihm so deutlich gesehenen und beschriebenen Personen ein Dasein als namenlose Geister führten. Und wenn ihm das Bewußtsein eigenen Wertes auch über unverdiente Mißachtung von oben hinweghalf, der Ehrgeiz, nun auch wirklich die Namen der beiden Unbekannten ins Taufregister der großen Verbrecherkolonie auf Erden eintragen zu können, wurde dadurch zu hellen Flammen angeblasen.

So irrte denn Stilke mit unzähligen Ermittelungsaufträgen als ruheloser Wanderer in den Straßen umher, was durch neuerdings eingetretenes Regenwetter nicht erfreulicher wurde. Seine Rendezvous mit Lina waren jetzt auf ein schmerzliches Minimum beschränkt, und seine Stimmung demzufolge so grau wie der weinende Himmel über dem betrübten Schutzmann. Allein die alte Regel, daß die Not einen befruchtenden Einfluß auf die Erfindungsgabe des Menschengeistes ausübt, bewährte sich auch hier. Stilke hatte so lange vergeblich durch die Brille umhergespäht, die sein Vorgesetzter ihm auf die Nase gesetzt hatte, daß auch sein friedliebendes Gemüt endlich revolutionären Regungen zugänglich wurde. Selbstbefreiung war die Folge. Mit eigenen Augen begann er zu forschen und auf die Stimme des eigenen Geistes zu hören. Und sobald ihm niemand hineinredete, war es nicht ausgeschlossen, daß ihm auch einmal ein vernünftiger und selbständiger Einfall kam.

An diesem grauen Dienstagmorgen sollte das geschehen. Stilke hatte sich das verdächtige Terrain des Negenbornschen Grundstücks zum hundertsten Male genau betrachtet, war den steingepflasterten Weg hinauf- und hinuntergegangen, der daneben von der Hauptstraße her zwischen Gartenhecke und Fabrikmauer scheinbar zwecklos zum Flusse führte, und von dem die Mutter des umgebrachten Kindes durch das Loch in der Hecke in den Garten hineingeschlüpft sein sollte. Nach Niemanns Theorie war die Verbrecherin – Stilke wußte nicht mehr, auf Grund welcher Beweise – gleich ihrem Verführer an der ganzen Vorderseite des Grundstücks entlang geeilt und sodann erst nach linkshin abgebogen. Während aber Stilke jetzt an der Ecke von Gang und Straße wohl eine Viertelstunde lang sinnend stand, kam ihm eine plötzliche Erleuchtung, wenn auch einmal der kluge Herr Polizeikommissär sich geirrt hätte! Jäher Schrecken über die frevelhafte Insubordination dieses Gedankens überlief den Schutzmann zuerst mit Eiseskälte. Doch kam er wieder und wieder, nistete sich ein im Gehirn und erzeugte dort eine kleine Familie von weiteren unvorschriftsmäßigen Gedanken und Fragen. Wenn das Mädchen nicht von der Stadtseite her gekommen war, woher dann? Drei Möglichkeiten zeigten sich dem unerwartet aufgewachten Geiste: der Fluß, die der Stadtseite entgegengesetzte Richtung der Hauptstraße und endlich eine schräg gegenüber neben der Gefängnismauer mündende Seitenstraße. Die kurzen Beine so hastig bewegend, daß die kurzen Hosen darum herflatterten, stürmte Stilke zunächst noch einmal den Kieselweg hinunter, um dann jäh stehen zu bleiben. Nein, der Fluß mußte aus der Rechnung gestrichen werden. Hier hinderte dichtes Gesträuch zwischen Hecke und Mauer jegliches Landen vom Wasser aus, von dort konnte das Mädchen unmöglich gekommen sein. Stilkes Geist arbeitete weiter in gewohnter langsamer Art, während sein Inhaber zur Straße zurückschritt. Auch die zweite Richtung war unwahrscheinlich. Jenseits der Fabrik war die Vorstadt hier zu Ende, und in der häuserlosen Oede dort hatte das Verbrecherpaar kaum seine Heimat. Blieb noch die Straße neben der Gefängnismauer. Der Schutzmann ging dort hinüber und schaute mit seinen dienstlich geschärften Blicken diese Straße hinunter. Still und leer lag sie vor ihm. Kein Mensch war auf ihr zu erblicken. Und doch – ein lebendes Wesen regte sich dort, eine der menschlichen Maschinen, die man Militärposten heißt. In seiner dunkelblauen Uniform ging er mit gleichmäßigem Pendelschritt auf und nieder und bewachte eine Seitentür in der Gefängnismauer. Stilke blickte unverwandt auf ihn hin. Etwas Großes ging in ihm vor. Seine Zunge trat langsam immer weiter heraus, und seine Augen quollen mit ihr um die Wette aus ihren Höhlen. Er folgerte. Mit ungeheurer Anstrengung arbeitete sein Geist. Dort stand ein Soldat. Gut. Es war jetzt fünf Minuten vor elf. Gut. Um zwölf Uhr wurde dieser Soldat abgelöst. Das war seine Bestimmung. Gut. Nach ihm kam ein anderer. Auch er wurde nach zwei Stunden abgelöst. Andere kamen nach ihm, wie andere vor ihm hier gestanden hatten. Dieser Platz vor dem Schilderhause war niemals leer gewesen, solange das Gefängnis existierte. Niemals, weder bei Tage, noch bei Nacht. Auch nicht in jener Nacht, als das Verbrechen passierte, wenn das Mädchen hier vorbeigekommen war, mußte der damals auf Wache befindliche Soldat es gesehen haben. Oder er müßte blind gewesen sein, was der Instruktion widersprach.

Stilke atmete tief. Die Kette der Folgerungen war geschlossen. Es gab ein menschliches Wesen, auf das er fahnden konnte, und er wußte nun, was er zu tun hatte. Bei dem Infanterieregiment, das hier die Wache stellte, war er selbst Unteroffizier gewesen, er konnte dort auf die willfährigste Beihilfe bei seiner Untersuchung rechnen. Sobald seine Patrouille heute zu Ende war, begab er sich daher auf den altvertrauten Weg zur Kaserne. Dort erfolgte ein fröhliches Wiedersehen mit früheren Kameraden und eine willkommene kleine Aufregung über sein Erscheinen in dienstlicher Eigenschaft. Dann aber auch wirklich die bereitwilligste Unterstützung in seinem Vorhaben, und es war kaum eine Viertelstunde vergangen, als auch schon der gesuchte, drillichjackenbekleidete, verflossene Posten in Lebensgröße vor ihm stand.

Er hieß Zieseniß und war im Besitz von einem Paar ungewöhnlich langer Beine, einer gleichfalls ungewöhnlich langen Nase und ungewöhnlich weit abstehenden Ohren, im übrigen aber noch unbestraft. Nach Aussage des ihm vorgesetzten Unteroffiziers war er langsam von Natur, doch nicht ganz so dumm, wie er aussah, wenn man ihm die nötige Zeit ließ, um sich zu besinnen. Der wißbegierige Schutzmann wappnete sich also mit Geduld, als er eine kleine vorläufige Vernehmung anstellte.

Sind Sie vom sechsten bis zum siebten April auf Wache gewesen?

So kann ich das nich sagen.

Warum nicht?

Weil ich das nich weiß.

Können Sie es nicht erfahren?

Oh doch, das kann ich ganz gut.

Woher denn?

Von mich selber, weil ich es mich doch immer aufschreibe, wenn ich auf wache gewesen bin.

Sehr gut. Sehen Sie nach.

Zieseniß verschwand und erschien wieder, mit seinen Memoiren in der Hand. Sein Suchen darin war etwas zeitraubend, hatte jedoch das Ergebnis, daß die ohnehin bereits dienstlich festgestellte Tatsache seines Wachhabens am fraglichen Tage auch von ihm selbst bestätigt wurde und somit wieder in seinem Bewußtsein erwachte. Gleichermaßen ergab sich, daß er in der gemutmaßten Zeit des Verbrechens zwischen zwölf und zwei Uhr nachts Posten gestanden hatte. Nun fragte Stilke von neuem. Er sprach fest und bestimmt; er wuchs offenbar mit seinen höheren Zwecken.

Kommen gewöhnlich viele Menschen vorbei, wenn Sie da so bei Nacht auf Posten sind?

Ach nee, fast gar keine.

Können Sie mir sagen, ob in der fraglichen Nacht irgend jemand vorbeigekommen ist?

Nee, das kann ich nich.

Warum nicht?

Weil ich es mich erst überlegen muß.

Ueberlegen Sie sich's. Nehmen Sie sich Zeit.

Zieseniß tat beides, und nach Verlauf von etwa fünf Minuten umspielte ein Lächeln innerer Erleuchtung seine große Nase.

Ja, es is andem, es is wer vorbeikommen in die Nacht, von wo Sie sprechen. Jetzt is es mich wieder eingefallen.

Gut. Erzählen Sie, wie es war.

Ja, das is nämlich so gewesen, wie ich da so stehe, oder vielmehr, ich gehe für gewöhnlich auf und ab von wegen die kalten Füße, da höre ich auf einmal, wie sie gelaufen kommt.

Wer denn?

Nu, das Mächen.

Ein Mädchen?

Natürlich! Un gelaufen is sie, was sie hat laufen können. Un sie hat das Kleid vorne hoch genommen, oder sie hat was getragen, was ich nich so genau gesehen habe. Un wie ich eben hinsehe, is sie schon wieder weg gewesen. Un denn is er gekommen.

Er?

Nu, der Mann, wo hinter ihr hergelaufen is.

Ein Mann? Wie hat er ausgesehen?

Nu, so genau kann ich das nich sagen, wie so 'n Mann aussieht.

War es ein Mann aus dem Volke?

Ja, das kann woll sein.

Oder war es ein Mann aus der höheren Gesellschaft?

Ja, das kann auch woll sein.

Was hat er denn angehabt?

Nu, es war doch kalt in die Nacht, da wird er woll – ja, so 'nen Havelrock, den hat er angehabt.

Wissen Sie, von welcher Farbe?

Die Farbe, – ja, braun kann er woll gewesen sein, oder auch schwarz, oder am Ende auch blau.

Sonst wissen Sie kein besonderes Kennzeichen, woran man ihn wiedererkennen könnte?

Nee, das wüßte ich nich zu sagen.

Stilke war vorläufig am Ende seiner Weisheit. Er hätte den Menschen hernehmen mögen und ihn auspressen wie eine Zitrone, aber es war ihm unklar, an welchem Ende er den Soldaten zu diesem Zwecke packen sollte. So ging er nun eine Weile tief in Gedanken mit möglichst weitgedehnten Schritten im Zimmer auf und nieder, um zuletzt nahe vor Zieseniß halt zu machen und – des wohltätigen Einflusses energischer Einschüchterung auf Soldatenseelen eingedenk – den Krieger anzuschreien: Sie, Zieseniß. Denken Sie einmal nach. Sie müssen mir sagen, wie ich herausbringen kann, wer dieser Mann gewesen ist.

Da verzog sich Zieseniß' Gesicht zu einem fröhlich-breiten Grinsen. Das kann ich auch, lautete die überraschende Antwort.

Wieso denn können Sie das?

Wir brauchen ja doch ihr nur zu fragen.

Das Mädchen? Woher sollen wir denn wissen, wer sie ist?

Nu, ich kenne ihr doch.

Sie kennen sie? Und das sagen Sie mir erst jetzt?

Ja, Sie haben mir doch noch gar nich darnach gefragt.

Nun, heraus mit der Sprache, wer ist das Mädchen und wie heißt es?

Wie es heißt? Ja, das – gewußt hab' ich's. Un es fällt mich auch wieder ein. Ganz gewiß fällt es mich wieder ein. Ich habe doch mal mit sie getanzt im »Grünen Baum«. Un 'ne flotte Tänzerin is se gewesen. Aber wie se heißt, na, es fällt mich schon wieder ein.

Stilke übte die schwere Kunst der Selbstbeherrschung. Er hätte den Soldaten am liebsten solange an den großen Ohren gezogen, bis der gesuchte Name von seinen Lippen gekommen wäre, doch war er verständig genug, die Hoffnungslosigkeit dieser Prozedur einzusehen. Somit bezwang er sich und sagte so ruhig als möglich: Nehmen Sie sich Zeit, besinnen Sie sich.

Und während nun Zieseniß einem stillen Denkprozeß anheimfiel, tat er selbst, als wenn ihn die ganze Sache gar nichts mehr anginge, setzte sich zu ein paar dienstfreien Unteroffizieren und ließ sich die neuesten Regimentsgeschichten erzählen. Dies Verfahren hatte den gewünschten Erfolg. Nach einiger Zeit kam der Geist über Zieseniß, er sprang auf und rief: Jetzt weiß ich's wieder.

Im selben Augenblick stand Stilke vor ihm. Also, wie heißt sie?

Ruschebusch heißt se – Lina Ruschebusch.

Armer Stilke! Armer, unglücklicher Schutzmann! Hatte der Himmel dir nur darum ein Herz in die Polizistenbrust gegeben, um es zu brechen? Hattest du nur darum all deine Geisteskräfte bis an ihre äußersten Grenzen angespannt, um zugleich mit dem ersten dienstlichen Erfolge dein persönlichstes Unglück zu ernten? Waren die schwarzen, blitzenden Augen deiner – ach, nicht mehr deiner! – Lina, waren die drei Kühe ihrer Mutter und das geheimnisvolle Sparkassenbuch nur Lockungen des Teufels gewesen, um dein ehrliches Gemüt zu umgarnen und ins Verderben zu stürzen? Wahrlich, kein billig denkender Mensch konnte dir's verargen, daß du dich in diesem Augenblick auf den Soldaten Philipp Zieseniß stürztest, ihn bei den Schultern packtest und ihn schütteltest, als wenn er ein mit Früchten beladener Pflaumenbaum gewesen wäre. Was du von ihm herunterschütteltest, waren freilich keine wohlschmeckenden Früchte; statt ihrer fielen die wütenden Worte von den Lippen des Mißhandelten: Donnerwetter noch mal, was soll denn das heißen?

War es die Wirkung dieser Worte, war es die lähmende Kraft eines immer heißer kochenden Schmerzes, genug, Stilkes Hände ließen die Schultern des Kriegers los und sanken ihm schlaff am Körper herab. Und als er jetzt weiter fragte, geschah es nicht mehr im drohenden, nur noch im wehmütig klagenden Tone: Wie kommen Sie dazu, das zu behaupten? Wie können Sie einem rechtschaffenen Mädchen so was nachsagen?

Philipp aber blieb noch aufgeregt. Ja, was wollen Sie denn? rief er. Ich habe sie ja doch weiter gar nichts nachgesagt, als wie sie heißt. Un was is denn das vor'n Verbrechen, wenn eine Ruschebusch heißt?

Die Wiederholung des richtigen Namens, die jede Möglichkeit des Mißverstehens ausschloß, gab Stilke einen neuen Stich ins Herz, und mühsam sprach er: Woher kennen Sie das Mädchen und woher wissen Sie ihren Namen?

Nu, das hab ich doch schon gesagt, daß ich mit sie getanzt habe. Im »Grünen Baum« is es gewesen, und so 'ne Wochen viere oder fünfe is es her. Auf'n Sonntag war's, und was der Heinrich Neubert von meine Kompagnie is, der is auch mit dabei gewesen.

Hat Ihnen das Mädchen selber gesagt, wie es heißt?

Nee, das hat se nich. Im Gegenteil, wie ich ihr gefragt habe, da hat se gelacht und hat se gesagt: »Das braucht Ihnen gar nich zu interessieren, denn wir zwei sehen uns doch niemals wieder!«

Nun, also? Ein schwacher Hoffnungsstrahl fiel in die Schutzmannsbrust. Woher wollen Sie denn wissen, wie sie heißt?

Nu, weil's dem Heinrich Neubert seine doch gesagt hat, die ihr kennt.

Das Mädchen könnte aber gelogen haben.

Das weiß ich nich. Warum sollte se denn gelogen haben?

Das wußte auch Stilke nicht zu beantworten, aber unaufhörlich suchte sein Geist nach einem Ausweg aus diesem schmerzlichen Labyrinthe. Und den Mann, der dem Mädchen nachgelaufen ist, den haben Sie nicht gekannt?

Nee, von dem weiß ich gar nichts zu sagen.

Aber einen Havelock hat er angehabt?

Ja, so'n Havelrock, den hat er angehabt.

Stilke fragte nicht weiter; ein heißes Verlangen trieb ihn plötzlich fort. Der Verräterin selbst gegenüberzustehen und vielleicht – er gestand sich die leise Hoffnung nicht ein – durch sie die scheinbaren Verdachtsmomente beseitigt zu sehen, das war der Wunsch, der ihn von dannen trieb. Er ordnete an, was ihm dienstlich oblag, und machte sich dann eilig auf den Weg zu dem friedlichen, weidenumstandenen Häuschen jenseits des Flusses, das er heute bei sich in schmerzvollpoetischer Anwandlung eine Schlangenhöhle benannte. Während er dieser Höhle zuschritt, legte sich das, was er gehört hatte, mit immer größerer Last auf seine biedere Seele. Was ihn persönlich anging, bewegte seine Gedanken zuerst. Lina war heimlich zum Ball gegangen, Lina hatte mit fremden Soldaten getanzt, Lina hatte ihn – wer weiß, wie oft! – betrogen. Dagegen war nichts mehr zu sagen. Den Namen Ruschebusch gab es zum zweiten Male nicht in der Stadt, und welches Interesse sollte der Soldat gehabt haben, ihn anzulügen? Nein, das Mädchen hatte sein gläubiges Gemüt schmählich getäuscht! Und wenn sie dazu imstande gewesen war, weshalb sollte sie dann vor größeren Verbrechen zurückgeschreckt sein? Freilich war bisher nicht festgestellt worden, daß sie wirklich das Negenbornsche Grundstück in jener Nacht betreten hatte, doch war der Schutzmann in seiner gegenwärtigen Gemütsverfassung zugänglich für jeden schwarzen Verdacht. Eine Lügnerin und Betrügerin hat keinen weiten Weg, um auch zur Mörderin zu werden. Er blieb mitten auf seinem Wege stehen und preßte die Faust auf das Herz. Es tat ihm dort auf einmal so schauderhaft weh. Wie schändlich hatte dies Mädchen an ihm gehandelt, das er so treu verehrt hatte! Wie schändlich, wie schändlich, wie schändlich!

Aber dann kam ihm plötzlich ein Gedanke, der wie ein leises Hoffnungswehen über seine gemarterte Seele dahinging. Woher hatte die Verräterin denn auf einmal das Kind gekriegt? Wenn sie ein Kind umgebracht hatte, mußte sie doch vorher eins gehabt haben. Und wenn Kinder auch manchmal dort erscheinen, wo man sie nicht gerufen hat, so ganz unerwartet pflegen sie doch nicht durch die Luft angeflogen zu kommen. Und wenn Lina Ruschebusch – nein, davon müßte der Schutzmann doch auch etwas gewußt haben! Sein rotes Gesicht, das sich in schmerzlicher Verzerrung in die Länge gezogen hatte, wurde auf einmal wieder rund und hell. Wie ein kleines, duftendes Veilchen unter einem schweren Felsblock hervorwächst, so erblühte in Stilkes empfindsamem Herzen eine neue Blume des Vertrauens. Freilich, der schwere Felsblock des Zweifels lag noch immer darüber und lastete auf ihren Wurzeln. Wenn er fort gewesen wäre! Wenn er ihn mit seinen starken Bauernhänden ohne weiteres hätte nehmen und in einen dunklen Abgrund schleudern können, aus dem er nie wieder hervorgekommen wäre! So einfach aber war die Sache nicht. Um einen Schuldverdacht zu entkräften, bedurfte es eines unwiderleglichen Beweises der Unschuld; also belehrte ihn seine kriminalistisch geschulte Seele. Des einen Beweises vor allem, daß Lina in der Verbrechensnacht nicht auf dem Negenbornschen Grundstücke gewesen war. Und nun leuchtete Stilkes Antlitz im Licht eines neuen Gedankens doppelt hell. Er war in der Lage, sich hierüber unwiderlegliche Gewißheit zu verschaffen. Er hatte mit seinem Vorgesetzten zusammen die beiden Spuren im Garten sorgsam in Gips abgeformt, und auf dem Tische vor seinem Bette standen im Abguß die beiden Verbrecherfüße wie beständige Mahner, nicht nachzulassen in der Verfolgung. Einer von diesen Füßen sollte nun Stilkes Helfer sein, um den Unschuldsbeweis für Lina Ruschebusch zu führen. Er änderte jäh die Richtung seines Weges, stürmte zur Schutzmannsstation, wo er hauste, wickelte den weiblichen Gipsfuß in Zeitungspapier und stand eine Viertelstunde später vor seiner scheinbar so schwer belasteten Braut, die er atemlos mit den Worten anherrschte: Zeig mir ein Paar von deinen Schuhen, Lina – rasch ein Paar von deinen Schuhen!


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