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Neunzehntes Kapitel

Um Gotteswillen, was will denn der Mensch hier?

Dies waren allerdings nicht die Worte, wohl aber die Gedanken des Herrn Oberregierungsrats Bornträger, als er Paul Delaroche am Nachmittag des gleichen Tages in sein Bureau treten sah. Seine gesprochene Begrüßung lautete: Ah, Herr Delaroche – Herr Redakteur wollte ich sagen –, was verschafft mir die unerwartete Ehre?

Paul hatte sich völlig in Schwarz gekleidet und sah aus, als wenn er zu einem Begräbnis gehen wollte. Auch sein Gesichtsausdruck und seine Stimme hatten den entsprechenden düstern Charakter. Er sprach mit gesenkten Blicken.

Herr Oberregierungsrat, ich hätte eine Bitte an Sie.

Und welche?

Mich in Haft nehmen zu lassen.

In Haft? Aber weshalb denn?

Wegen groben Unfugs in idealer Konkurrenz mit schwerer Beamtenbeleidigung.

Ich glaube, Sie wollen sich einen Scherz mit mir erlauben.

Das sei ferne von mir, Herr Oberregierungsrat! Paul machte ein Gesicht, als wenn die Hauptperson der vorzunehmenden Beerdigung soeben aus dem Hause getragen würde.

Ja, worauf zielen Sie denn ab mit Ihren wunderlichen Reden?

Delaroche dämpfte die Stimme und schaute vorsichtig umher. Auf den sogenannten, – fälschlich sogenannten Fall Ruschebusch.

Alle Wetter, also wirklich! Dies waren wiederum die Gedanken und nicht die Worte des Herrn Polizeichefs. Er mußte nach solchen erst ein wenig mühsam suchen und brachte sie mit sonderbar belegter Stimme hervor, während seine Gesichtsmuskeln zuckten, als wenn er heimlich elektrisiert würde. Sogenannt, – fälschlich sogenannt, – was soll das heißen? Allerdings, – das eine muß ich Ihnen sagen, daß ich beinahe glaube, wir werden den eigentlichen Urheber dieses Verbrechens kaum ermitteln.

Das glaube ich auch, Herr Oberregierungsrat.

Sie? So? Sie auch? Und warum, wenn ich fragen darf? Ueber das rote Gesicht Bornträgers zitterte bei diesen Fragen ein sanftes Licht verborgener Hoffnung wie Mondschein hinter Wolken hervor.

Weil überhaupt kein Verbrechen begangen worden ist.

Kein Verbrechen? Ja, was denn aber?

Ein Vergehen des groben Unfugs in idealer Konkurrenz mit Beamtenbeleidigung.

Ach, hören Sie auf mit Ihrer idealen Konkurrenz! Wenn Sie wirklich etwas wissen sollten über das umgebrachte Kind –

Es ist überhaupt kein Kind umgebracht worden.

Sie treiben Ihren Scherz mit mir, Herr Delaroche. Wir haben die Reste, die Knochen dieses Kindes mit eigenen Augen gesehen –

Die Knochen stammten überhaupt von keinem Kinde. Pauls Ton war so feierlich-mystisch geworden, als wenn er jetzt auf dem Friedhof am offenen Grabe stände.

Ja, woher denn in Dreiteufelsnamen?

Von einem Affen, Herr Oberregierungsrat.

Bornträgers Kopf glich einer Melone, deren innere Farbe sich dem Aeußeren mitgeteilt hat. Sein Monocle baumelte schon lange hilflos auf seinem Bauche. Jetzt begann sich das Zimmer mit ihm zu drehen, und inmitten der um ihn her tanzenden Schränke, Pulte, Türen und Fenster sah er für einen Augenblick das angstverzerrte Gesicht seiner Philippine, obwohl sie zu dem geheimnisvollen Affen in keiner sichtbaren Beziehung stand.

Nach Luft schnappend, keuchte der Polizeichef: Sind Sie verrückt geworden, Herr Delaroche, oder bin ich es?

Hoffentlich keiner von beiden.

Ja, was reden Sie denn für ungereimtes Zeug? Wie wollen Sie das alles wissen und beweisen, was Sie da sagen?

Weil ich der nächste dazu bin, Herr Oberregierungsrat.

Wieso?

Weil ich – zu meiner Schande sei es gesagt – die ganze Sache angestiftet habe.

Bornträger stand auf, trat einen Augenblick ans Fenster und suchte schweigend seine amtliche Würde wieder zusammen, die auf dem besten Wege gewesen war, auf die Straße hinauszufliegen. Seinen Rock zuknöpfend und seine untersetzte Gestalt mühsam aufreckend, trat er dann vor Delaroche hin.

Ich will Ihnen etwas sagen. Ihre Mitteilungen kommen mir nicht so überraschend, wie Sie vielleicht glauben. Ich hatte gegen Sie bereits den dringenden Verdacht, gegen Sie und gegen Ihre Braut, ein begangenes Verbrechen durch eine in Szene gesetzte Komödie vertuscht zu haben.

Ah, deshalb haben Sie meine Braut polizeilich überwachen lassen?

Das wissen Sie auch schon? Allerdings. Ungefähr so. Und nun rechtfertigen Sie sich, wenn Sie können.

Ein Lachen ging über Pauls Gesicht. Er warf den ganzen düsteren Beerdigungsernst von sich und sagte heiter: Das wird mir nicht schwer werden, Herr Oberregierungsrat, wenn ich Ihnen die Geschichte von Anfang an erzähle. Darf ich mich setzen?

Bitte. Das zweisilbige Wort klang ungefähr wie eine Ohrfeige, doch ließ Paul sich dadurch nicht irre machen, sondern setzte sich behaglich dem ehemaligen Chef gegenüber.

Ganz aus mir selbst habe ich die Sache nicht geschöpft. Von drei Seiten bin ich dabei in schätzenswerter Weise unterstützt worden: von Ihrem Fräulein Schwester, von Herrn Sherlock Holmes und von seiner Majestät, dem Zufall.

Von meiner Schwester?

Jawohl. Sie hat sogar in Verbindung mit dem erwähnten Zufall den Hauptanstoß dazu gegeben. Zunächst muß ich bemerken, daß ich mich etwas über sie geärgert hatte. Sie war – ich will nicht sagen: verliebt in mich –, das würde meine Bescheidenheit verbieten. Aber sie hätte mich gerne als Kurmacher an ihren Triumphwagen gespannt, und das war mir unsympathisch; ich mag es nicht, wenn Frauen die Liebe so männlich-energisch betreiben.

Marion! Marion! murmelte Bornträger.

So hatte sich schon eine kleine Verstimmung in mir gegen sie angesammelt, als der Zufall mich zum Zeugen einer interessanten Szene machte. Vor mehreren Wochen – es war kurz nach meiner Entlassung von hier – ging ich eines Abends in den halbdunklen Anlagen der Ludwigspromenade spazieren. Ich selbst war durch die kahlen Gebüsche genügend gedeckt, aber ich konnte gut auf den hell erleuchteten Platz beim Kaiserdenkmal hinaussehen. Eine einzelne Dame tauchte dort auf, – Sie müssen verzeihen, aber ich erkannte Fräulein Marion in ihr. Sie wartete offenbar auf jemanden, wobei sie, wahrscheinlich als Erkennungszeichen, ein Taschentuch auffällig in der Hand trug. Das interessierte mich lebhaft –

Kann ich mir denken!

– und ich blieb stehen, um die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Es dauerte auch nicht lange, bis eine zweite Person erschien. Aber es war kein Mann, wie ich in meinem verdorbenen Gemüte vorausgesetzt hatte, sondern ein weibliches Wesen. Und ich erkannte sie auch. Einige Tage vorher hatte der Löwenbändiger Enrico aus dem damals neu eröffneten Zirkus mit einem Löwen und seiner Frau zusammen mir auf der Redaktion seinen Besuch gemacht. Seine Frau war es, die nun in großer Aufregung und Wut vor Fräulein Marion hintrat. Ich verstand sogar einzelne Worte, denn sie schrie ziemlich laut. Sie sprach von einem Brief, einem Taschentuch und leider auch von einer Ohrfeige, vielleicht sogar von mehreren. Das war um so unangenehmer für Ihr Fräulein Schwester, als die kräftige Dame dieses Wort unmittelbar in die Tat übersetzen zu wollen schien. Es entstand ein kleines Ringen, wobei das Taschentuch zu Boden fiel, dann tat Fräulein Marion das Klügste, was möglich war: sie konzentrierte sich rückwärts. Die andere schimpfte noch ein wenig hinter ihr her, dann wurde wieder alles still.

Und das Taschentuch?

Herr Oberregierungsrat haben allen Grund, nach ihm zu fragen. Denn das Taschentuch spielt in meiner Geschichte dieselbe wichtige Rolle wie in Shakespeares »Othello«. Nun, ich ging hin und hob es auf. Zuerst nur in der Absicht, es Fräulein Marion wieder einzuhändigen. Dann aber fiel mir ein, daß es ihr vermutlich sehr unangenehm sein würde, wenn ich mich dadurch als Zeugen der ärgerlichen Szene zu erkennen gäbe. So behielt ich es, vorläufig ohne böse Absicht, höchstens mit dem geheimen Gedanken, Ihrem Fräulein Schwester mit Hilfe dieses Taschentuches vielleicht einmal einen kleinen Streich spielen zu können. Denn ich war ihr auch deshalb nicht gewogen, weil ich glaubte, sie hätte bei meiner Entlassung die Hand im Spiele gehabt.

Da muß ich meine Schwester in Schutz nehmen. Zunächst hat sie niemals irgend welchen Einfluß auf dienstliche Angelegenheiten, und in diesem Falle hat sie auch durchaus keinen Versuch gemacht, solchen zu üben.

Dann bedaure ich meine falsche Voraussetzung um so mehr, als ich dadurch in meinen Handlungen erheblich beeinflußt worden bin. Den eigentlichen Anstoß gab dann ein Theaterabend. »Sherlock Holmes« wurde gegeben, Sie selbst mit Ihrem Fräulein Schwester waren zugegen. Vielleicht erinnern Sie sich, daß ich Ihnen in der Garderobe nach Schluß der Vorstellung meine Braut vorstellte, und daß Fräulein Marion sie beleidigte.

Ich weiß nicht, – es ist mir so dunkel –

Mir ist es um so heller. Ihr Fräulein Schwester war ungewöhnlich ungezogen gegen sie, und es zuckte mir in den Fingern, ihr auf der Stelle den Hals umzudrehen. Denn der alte Groll kam zu dem augenblicklichen Aerger hinzu. Da sich das aber nicht ohne weiteres ausführen ließ, vertiefte ich mich auf dem Nachhausewege mehr und mehr in meinen Zorn, bis mir auf einmal ein glücklicher Gedanke kam. Wenigstens hielt ich ihn damals dafür, – jetzt bin ich ein wenig wankend geworden in meiner Ansicht. In mein wütendes Grübeln mischte sich die Erinnerung an das Theaterstück, an Sherlock Holmes, – und plötzlich war ein schwarzer Plan fertig in meiner Seele. Wie wär's, wenn du ein umgekehrter Sherlock Holmes würdest? sagte ich zu mir. Wenn du mit möglichstem Scharfsinn ein Verbrechen fingiertest, das niemals begangen worden ist, anstatt ein wirklich ausgeführtes zu entdecken? Sherlock Holmes geht immer nur den einen Weg, der zur Entdeckung führt, geh du zur Abwechslung einmal den anderen. So sprach ich zu mir und lachte zugleich laut auf aus Freude, weil sich der Anfang des Weges mir bereits zeigte, den ich gehen konnte. Das Taschentuch war in meinen Händen, wenn ich das geschickt benutzte –

Herr, Sie haben eine Gemeinheit begangen!

Warten Sie noch ein wenig, Herr Oberregierungsrat; Sie werden Ihre Kraftausdrücke später nötig haben. Was mich betrifft, so kommt nach meiner bescheidenen Ansicht eine jede Tat ebensogut von außen wie von innen. Man meint zu schieben, und man wird geschoben. Während ich noch mit einem gewissen teuflischen Behagen über das zu erfindende Verbrechen grübelte, schob eine unbekannte Macht mich wieder um einen Schritt vorwärts – mitten hinein. Aus den Fenstern meiner Wohnung sah und sehe ich in einen alten, dichtverwachsenen Garten. Er gehört zum Hause des Hauptmanns Dittfurth, und der Sohn dieses Herrn, ein frischer, netter Junge, spielt häufig darin herum. Damals tat er es gerade mit besonderem Jubel, weil ein älterer Bruder von ihm, ein Seekadett, ihm einen lebendigen Affen von seiner ersten Seereise mitgebracht hatte.

Ich weiß, ich weiß. Der Affe – Marions Papagei – soweit stimmt Ihre Geschichte.

Sehr erfreut über diese Bestätigung, sagte Paul, erhob sich ein wenig von seinem Sitz und verbeugte sich vor dem Polizeigewaltigen. Mein kleiner Nachbar ließ mich das komische Vieh oft genug bewundern. Dann aber kam ein herzzerreißender Jammer, der Affe wurde krank und starb. Sein feierliches Leichenbegängnis vollzog sich in einem dichten Gesträuch unter meinen Fenstern. Und indem ich das mit anschaute, packte mich der Satan. In der nächsten Nacht – es war eben mondhell genug, um sich zurechtfinden zu können, ohne gesehen zu werden – sprang ich aus meinem Fenster, holte den Affen aus seinem frühen Grabe hervor, hackte dem Tier einen seiner Arme ab und vergrub es wieder an seiner Stelle. Kein Mensch hat etwas davon gemerkt. In meinem Zimmer wurde sodann der Affenarm fein säuberlich präpariert; was überflüssig war, wurde abgeschnitten und verbrannt, der Knochen selbst ein wenig angesengt – der Arm des ermordeten Kindes war fertig!

Herr! Sie haben mit bodenlos raffinierter Gemeinheit –

Warten Sie immer noch ein wenig, Herr Oberregierungsrat! Auf unsere Sachverständigen glaubte ich mich verlassen zu können, und sie haben mein Vertrauen nicht getäuscht. Sie haben den Affenarm als Kinderarm legitimiert. Wo ich ihn verstecken konnte, das zeigte sich mir bei der Besichtigung der Negenbornschen Brandstätte im Auftrage meines Blattes. Der Ort war unheimlich genug dazu, die alte Kartenschlägerin war auch von vornehmen Damen vielfach besucht worden, die Mauer war unschwer zu übersteigen. Ich bin immer ein ganz guter Turner gewesen. Die Einsamkeit der Gegend entsprach auch meinen Wünschen, und wann die Schutzmannspatrouillen dorthin kamen, war mir genau genug bekannt, um sie vermeiden zu können. Mir fehlte nur noch einiges für meinen schwarzen Plan.

Die Stiefel – woher haben Sie die Stiefel genommen?

Gerade wollte ich davon sprechen, Herr Oberregierungsrat. Abermals muß ich mich schwarz in schwarz vor Ihnen abmalen, indem ich Ihnen gestehe, daß ich meinen verflossenen Kollegen, den Kommissär Niemann, gern tüchtig hineinlegen wollte. Daß er mich hier mit hinausgebissen hatte, darüber war ich ihm noch nicht einmal besonders böse. Aber der Mann war immer so furchtbar klug! Das war mir oft auf die Nerven gefallen. Und ihn mit all seiner Klugheit einmal recht gründlich aufs Glatteis zu locken, das machte mir, wie ich nun einmal bin, ein Bärenvergnügen. Ein lustiger Streich war mir immer beinahe so viel wert wie ein gutes Frühstück mit Sekt und Austern.

Werden Sie nicht frivol – äußern Sie sich über die Stiefel.

Gut. Also, ich war oft als Kollege bei Niemann gewesen, kannte die Hausgelegenheit und auch seine Frau. Herr Oberregierungsrat wissen, daß bei ihm aus dienstlichen Gründen sein Bureau mit seiner Privatwohnung vereinigt worden ist. Das heißt, man hat vom Treppenhaus eine Tür durchbrechen lassen, durch die man direkt in das Bureau gelangt, ohne den Korridor der Wohnung zu betreten. Auf diesen Korridor führt aber aus dem Bureauraum eine zweite Tür, die sich fast unmittelbar neben der anderen und in einer Linie mit ihr befindet. Man kann mit jeder Hand bequem einen der Türgriffe fassen. Nun ist es nach meiner Beobachtung eine berechtigte Eigentümlichkeit aller Bureaubeamten, vorwiegend aber der Herren von der Polizei, ihre Besucher nicht bis zur Tür zu begleiten, sondern sie sitzend mit einem Kopfnicken zu verabschieden, ohne sich viel nach ihnen umzuschauen. Das paßte mir nun ausgezeichnet. Auch Frau Niemanns Gewohnheiten waren mir bekannt. Sie ist eine rühmenswert sparsame Frau und hatte mir einmal erzählt, sie mache jeden Morgen um neun Uhr den weiten Weg zum Markte, um in der Fleischbank das Fleisch für den Mittag um ein paar Pfennige billiger einzukaufen. Ich hatte mich also nur einmal auf die Lauer zu legen, um zu sehen, ob sie wirklich fort war. Das wurde gemacht, und ich besuchte nun meinen alten Freund und Kollegen in seinem Bureau. An einem Vorwand fehlte mir es nicht, weil er den Polizeibericht für unser Blatt lieferte; so sprach ich oft einmal bei ihm vor. Ich wartete dann, bis ein anderer Besucher kam, der, wie die meisten Besucher eines Polizeibureaus, nur mit sich selbst beschäftigt war und auf den Kommissär starrte, dem er irgendwelche wichtige Papiere zur Prüfung vorgelegt hatte. Nun rief ich Niemann ein freundliches Lebewohl zu, das er wie gewöhnlich kopfnickend erwiderte, ohne sich umzusehen, und ging aus der Tür. Aber aus der falschen. In die Wohnung, anstatt ins Treppenhaus.

Sehr raffiniert!

Soll ich das als ein Lob nehmen?

Nein, durchaus nicht.

Das tut mir leid. Nun war ich also in der Privatwohnung, brauchte nur leise ins Schlafzimmer zu gehen und mir ein paar alte, scheinbar wenig benutzte Stiefel herauszusuchen. Da Niemann größer ist als ich, war ich sicher, daß ich hineinkommen würde. So zog ich sie an und stellte die meinigen hinter den Vorhang, wo sie aufbewahrt wurden. Dann ging ich vorsichtig auf den Korridor, hörte, daß im Bureau noch gesprochen wurde, sah durch die Glasfenster der Tür, daß niemand auf der Treppe war, und spazierte ganz gemütlich durch die Korridortür hinaus, die ich leise hinter mir zuzog. Kein Mensch hatte etwas bemerkt. Ich hatte die Stiefel, die ich brauchte, an den Füßen, und brachte sie auf dieselbe Weise nach ein paar Tagen sauber abgewischt wieder an ihren Platz.

Das war ja eine ungeheure Frechheit!

Ziemlich frech war es, Herr Oberregierungsrat, ich kann es nicht leugnen. Jedenfalls war es der schwierigste Teil meines kleinen Unternehmens, alles andere war Kinderspiel. Die Löwenhaare schnitt ich aus einem Fell in der Wohnung meines Freundes Hildebrand, als er für einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte, das zur Erinnerung an seine Jagdfahrten mit Fellen von allen möglichen Bestien dekoriert ist. Eine zum Einwickeln der Haare geeignete Zeitung, die eine passende Gerichtsverhandlung brachte, war mir kurz vorher auf der Redaktion in die Hände gefallen, dort war mir auch die Zeitschrift »Im Reiche König Hammurabis« zugänglich –

Bornträger bekam plötzlich ein Zucken in die Beine und sagte hastig: Nun, das übrige kann ich mir schon denken.

O nein, Herr Oberregierungsrat. Sie müssen mir schon gestatten, Ihnen jetzt alles ganz genau zu erzählen. Mein Gewissen –

Verschonen Sie mich mit Ihrem Gewissen. Ich bin genügend orientiert.

Aber ich bitte Sie! Für das von mir begangene Vergehen der Beamtenbeleidigung, das leider in erster Linie gegen Sie selbst gerichtet war, kommt jetzt das allerbelastendste Material.

Nun, so reden Sie ins –

Dreiteufelsnamen. Sehr gern, wir waren eben bei der genannten Zeitschrift angekommen. Herr Oberregierungsrat kennen sie ja sehr gut. Ich habe verschiedentlich hier in diesem selben Zimmer eine Nummer davon in Ihren Händen gesehen, wenn ich irgend eine dienstliche Meldung zu erstatten hatte. Ein paarmal kam eben die Post in meiner Gegenwart, und Sie griffen merkwürdigerweise zuerst nach dem »Reiche König Hammurabis«. Das fiel mir auf und – ich habe sehr gute Augen. Als Herr Oberregierungsrat einmal durch Ihr Fräulein Schwester abgerufen wurden, trat ich rasch an Ihren Tisch dort und sah auf dem liegengebliebenen Blatte ein paar ganz fein unterstrichene Worte. Zusammen ergaben sie den Satz: »Heute abend um sieben Uhr!« Das diente mir als Muster für mein Unternehmen. Eine Papierschere besaß ich von meinem Vater her, vielleicht als Vorbedeutung für meinen jetzigen Beruf, ein wenig echtes Menschenblut für Taschentuch und Schere war leicht beschafft, indem ich mich selbst oben am Arme ritzte, wo es niemand sah, und so waren sämtliche Requisiten für meine kleine Komödie rasch bereit.

Bornträger stand auf und stellte sich vor ihn hin. Herr Delaroche, Sie sind ein ganz durchtriebener Patron!

Ja, Herr Oberregierungsrat – vielleicht hätten Sie mich doch bei der Polizei gebrauchen können. Das zu beweisen, war nebenbei das Ziel meines Strebens. Darum genügte mir's auch nicht, zu wissen, daß irgend jemand auf so geheimnisvolle Weise mit Ihnen korrespondierte, darum gab ich keine Ruhe, bis ich herausgebracht hatte, wer dieser oder vielmehr diese Jemand wäre.

Bornträger sagte nichts, aber während er in grausamer Spannung dastand, bewegten sich seine Lippen, als wenn er auf einem sehr harten Stücke Holz kaute. Doch war es offenbar kein Süßholz.

Delaroche fuhr erbarmungslos fort. Damals allerdings, als ich den Scherz auf dem Negenbornschen Grundstück ausführte, als ich in einer Nacht über die Mauer voltigierte und meine corpora delicti sorgsam im Haus und im Brunnen versteckte, damals hatte ich noch keine Ahnung, wer Ihnen aus dem Reiche Hammurabis Botschaften sandte. Das Blatt mit den angestrichenen Worten sollte so nur eine nette Ueberraschung für Sie bedeuten. Aber dann ging ich eines Abends mit meiner Braut spazieren und sah den Herrn Oberregierungsrat aus dem Hause Nummero sieben der Müllerstraße herauskommen. Das interessierte mich, und ich war so frei, bei der Besitzerin des Hauses nach den Bewohnern des unheimlichen alten Kastens zu fragen. Da hörte ich denn, daß er einen einzigen Mieter hatte, der seine Wohnung auch nur zeit-, nur stundenweise benutzte, einen Herrn, der nach der Beschreibung Ihnen merkwürdig ähnlich sehen mußte, Herr Oberregierungsrat. Nun brauchte ich nur noch ein paarmal aufzupassen – lange haben Sie mich nicht warten lassen – um zu wissen, daß Sie und Frau von –

Nennen Sie keinen Namen! Ich verbitte mir das. Es handelt sich um eine Dame, die ich hochschätze –

Sehr hoch! Ich bin davon überzeugt, Herr Oberregierungsrat. Ich habe mir auch schon überlegt, wie es zu machen wäre, den Namen dieser Dame bei der etwaigen Gerichtsverhandlung zu unterdrücken, aber ich sehe dazu leider – leider keinerlei Möglichkeit.

Ein Stöhnen, das mit einem halbunterdrückten Bellen Aehnlichkeit hatte, kam aus Bornträgers Brust. Er lief mit kurzen, unsicheren Schritten hin und her und sprach in aller Stille mit sich selbst. »Blamiert – kompromittiert, rettungslos kompromittiert!« waren seine verzweifelten, tonlosen Worte. Dann aber nahm er sich zusammen und erhob sich aufs neue zu altgewohnter Würde. Langsam, nach Worten suchend, sprach er jetzt wieder vernehmlich: Sie haben – haben mir da – eine Geschichte erzählt, von der man – der man sagen kann: »wenn man's so hört, möcht's glaublich scheinen.« Aber, Herr Delaroche, es steht doch schief darum. Denn Sie haben dabei die zweite Spur im Negenbornschen Garten völlig ignoriert. In welcher Weise paßt die verhaftete Ruschebusch in Ihre Geschichte?

In gar keiner, Herr Oberregierungsrat.

Aber sie war dort. Ihre Anwesenheit im Garten ist erwiesen!

Wird auch von ihr nicht geleugnet. Ich glaube, daß die Ruschebusch in jedem Punkte die Wahrheit gesagt hat.

Dann wäre sie ja unschuldig!

Ist sie auch. Und hauptsächlich darum bin ich zu Ihnen gekommen, die Sache aufzuklären. Eine Unschuldige soll meines Scherzes und eines unglücklichen Zufalls wegen nicht länger in Haft sein. Ich hätte aus diesem Grunde schon eher gesprochen, wenn ich mir nicht gesagt hätte: »Die Person hat ihren Verlobten, den guten, dicken Stilke, hintergangen und sich ohne ihn auf dem Tanzboden amüsiert, dafür kann sie schon ein wenig brummen.« Aber jetzt ist es genug.

Auch ein Polizeichef kann einmal seine Selbstbeherrschung verlieren und sich haltloser Wut hingeben. Dies geschah mit Herrn Bornträger leider im Augenblick. Die bebenden Hände zu Fäusten geballt, ging er auf Delaroche zu, um sodann eine scheinbar ziemlich überflüssige Frage zu tun: Herr, wissen Sie auch, daß das eine sehr unangenehme Sache ist?

Aber zweifellos! Höchst unangenehm für die kleine Ruschebusch, die weinend in Haft sitzt, fast noch unangenehmer für die übrigen Beteiligten. Die Polizei ist blamiert, das Gericht ist blamiert, die Sachverständigen sind blamiert, Frau von Her –

Keinen Namen, wenn ich bitten darf!

Pardon! Und es ist leider nicht anders: durch eine Gerichtsverhandlung werden alle diese Sachen in sehr weiten Kreisen bekannt.

Das Beben der Fäuste hatte sich bei Bornträger jetzt auf den ganzen Körper verpflanzt. Herr – Herr – es ist eine Schlinge, die Sie uns da um den Hals gelegt haben!

Wirklich, es hat Aehnlichkeit mit einer Schlinge. Aber – Paul Delaroche lächelte sein gewinnendstes Lächeln – man brauchte sie ja vielleicht nicht zuzuziehen.

Wieso? Wieso?

Ich für meine Person würde mich verpflichten, sie nicht zuzuziehen, Herr Oberregierungsrat.

Was soll das heißen?

Daß ich Ihnen mein Wort geben würde, Niemandem außer meiner Braut – sie hat Anspruch darauf, aber sie ist verschwiegen wie das Grab – jemals das mitzuteilen, was ich Ihnen heute mitgeteilt habe.

Und unter welcher Bedingung? Bornträger quetschte die Frage mühsam heraus.

Ich stelle keine Bedingung. Ich erlaube mir nur einen ganz bescheidenen Vorschlag. Sie, Herr Oberregierungsrat, Ihr Fräulein Schwester und Kommissär Niemann sind die Hauptbeteiligten und Hauptbeleidigten bei dieser Sache. Denn Frau von –

Lassen Sie die Dame aus dem Spiel.

Gut. Wenn Sie, die Hauptbeteiligten, auf eine Verfolgung des ergebenst vor Ihnen stehenden Schuldigen verzichten würden – ich glaube, das beleidigte Recht würde stark genug sein, diese kleine Wunde zu tragen.

Ich sollte Sie straflos ausgehen lassen? Das haben Sie nicht verdient. Sie haben mit einem geradezu grenzenlosen Leichtsinn diese Sache in Szene gesetzt, Sie haben schlecht, Sie haben unverantwortlich gehandelt –

Es kommt mir selber jetzt beinahe so vor.

Also bereuen Sie, was Sie getan haben?

Wenn Ihnen damit gedient ist: aufs tiefste!

Sie bereuen also. Das ist wenigstens etwas – das freut mich zu hören. Man soll den Leuten, die bereuen, den Weg zur Besserung nicht verlegen. Also – ich werde mir die Sache – den von Ihnen gemachten Vorschlag einmal überlegen –

Uebereilen Sie nichts, Herr Oberregierungsrat! Vielleicht besprechen Sie den Fall erst noch mit Frau von –

Die Dame hat nichts mit der Sache zu tun! Aber zum Herrn Staatsanwalt werde ich vielleicht gehen, werde ihm vielleicht im Vertrauen berichten, was ich von Ihnen gehört habe – womit noch keineswegs gesagt sein soll, daß ich Ihnen ohne weiteres glaube – daß er Ihnen ohne weiteres glauben wird. Ich verlange Beweise, wie er sie verlangen wird.

Ein einziger Beweis genügt meiner Ansicht nach.

Und welcher?

Der Affe. Lassen Sie den Kadaver an der Stelle ausgraben, die ich Ihnen bezeichnen werde, passen Sie den in gerichtlicher Obhut befindlichen sogenannten Kinderknochen dem Tierkörper an, und Sie werden finden, daß wieder zusammenkommt, was zusammengehört. Verschwindet das umgebrachte Kind aus der Geschichte, dann ist erweislich kein Verbrechen mehr begangen worden, und es bleibt nur das auf mir lastende Vergehen des groben Unfugs in idealer Konkurrenz mit –

Hören Sie doch nun endlich davon auf! Vielleicht – ich sage vielleicht – kann ich den Herrn Staatsanwalt vermögen, daß er kein Verfahren wegen groben Unfugs gegen Sie einleitet. Nicht Ihretwegen, Herr Delaroche – Sie haben keine Schonung verdient – sondern in Rücksicht auf Polizei und Gericht. Aber wenn ich das durchsetzen sollte, dann tun Sie mir auch den Gefallen –

Und gehen Sie rasch nach Amerika, nicht wahr? Sie sollen über mich nicht zu klagen haben. Der schnellste Dampfer soll mir eben schnell genug sein. Darf ich vielleicht noch um eine Empfehlung an Ihr Fräulein Schwester bitten und an Frau von –?

Machen Sie, daß Sie hinauskommen!

Mit Vergnügen. Wissen Sie, im Grunde wäre mir's doch weniger angenehm gewesen, wenn Sie mich hier behalten hätten. Habe die Ehre, Herr Oberregierungsrat.


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