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Siebzehntes Kapitel

Im Zeugenzimmer des Gerichtshofes warteten zwei Personen. Es war der Löwenbändiger Enrico mit seiner Gattin Hulda, oder vielmehr sie mit ihm. Das Wort »Er soll dein Herr sein« war für dies Ehepaar offenbar außer Kurs gesetzt worden. Der schöne Mann schrumpfte neben seiner gewaltigen besseren Hälfte zu einem unscheinbaren Bürschchen zusammen, und seine körperlichen Vorzüge wurden erheblich durch die neuerdings immer stärker hervortretende Gewohnheit beeinträchtigt, seinen Kopf zwischen die Schultern zu ziehen und seine Ellenbogen in jener abwehrenden und schirmenden Weise zu heben, wie die Schulbuben es tun, wenn sie eine Ohrfeige fürchten.

Im Augenblick hatte seine Gattin den Unglücklichen fest an der Hand gepackt und redete mit vorgeneigtem Kopfe auf ihn ein, daß es aussah, als wenn die weiße Möve auf ihrem Hut – Hulda hatte sich schön gemacht für's Gericht – ihm die Augen aushacken wollte. Und in dieser behaglichen Situation vernahm Enrico die behaglichen Worte: Heinrich, in einer Viertelstunde stehste vor Jott!

Na nu, so schlimm wird's doch nicht gleich werden.

Du stehst vor Jott. Denn du mußt schwören, un man schwört vor Jott. Heinrich, noch is es Zeit.

Ich wüßte nicht, wozu es noch Zeit sein sollte.

Zum Jestehen. Erst vor mir un denn vor 's Gericht. Schwöre du keenen Meineid, Heinrich, denn uff Meineid kommt Zuchthaus, un Zuchthaus is unanjenehm.

Weiß schon, weiß schon.

Stürze dir nich ins Verderben. Wat würden die Löwen sagen, wenn se dir dabehielten? Mit so 'n Jericht is nich zu spaßen, erleichtere dein Jewissen un jestehe.

Aber ich habe ja gar nichts zu gestehen, liebe Hulda. Ich habe dir das schon ein paarmal gesagt.

Es wird manches jesagt un es is doch nich wahr. Keen eenziger kann doch die Löwen die Haare abjeschnitten haben, als wie du. Det is doch 'ne pure Unmöglichkeit! Erleichtere dir un schütte dein Herz vor mir aus.

Es ist ja nichts auszuschütten – laß mir doch meine Ruhe.

Meenste etwa, daß ick Ruhe jehabt hätte all diese Tage? Nee, un de Nächte ooch nich. Un jetzt, wenn ick man bloß wüßte, ob ick mit dir zusammen rinjehen darf?

Nein, Hulda, ich glaube, das ist exkludiert. Heinrich drückte sich immer möglichst gebildet aus; er hatte in der Jugend ein paar Klassen von einer höheren Schule besucht. Soviel ich weiß, wird jeder Zeuge einzeln vorgerufen.

Eenzeln? Ja, wenn nu aber da drin – Se haben dir doch schon eenmal mit die Person konfrontiert, mit die Ruschebuschen – nee, da muß ick aber jleich mal 'n Jerichtsdiener fragen.

Bevor ihr Mann den Versuch machen konnte, sie daran zu hindern – beim Versuch wäre es ohne Zweifel geblieben – war sie schon an der Tür und rief hinaus: Herr Jerichtsdiener, Herr Jerichtsdiener!

Der Mann im blauen Rock erschien ziemlich schnell, und Hulda trat so nahe vor ihn hin, daß es den Anschein hatte, als wenn sie das alte, hagere Kerlchen an die Wand pressen und erdrücken wollte. Sie, Herr Jerichtsdiener, is die Ruschebuschen da drin?

Trotz langjähriger Praxis erschrak der kleine Mann vor dem Riesenbusen, der in der Nähe seines Kopfes wogte, und rief ängstlich: Nu, nu, geben Sie mir nur erst einmal Luft, daß ich reden kann. So, da bleiben Sie stehen, wenn Sie was von mir wissen wollen. Ob die pp. Ruschebusch da drin ist? Nein, heute nicht. Heute ist Zeugenvernehmung, und die Ruschebusch ist ja die Angeklagte.

Na, denn is et jut, denn bin ick zufrieden. Aber – Herr Jerichtsdiener! Jibt et hier ooch noch keene weibliche Rechtsanwälte?

Nee, so weit haben wir's noch nicht gebracht.

Oder jar weibliche Richter?

Nee, nee, nee. Hier bei uns ist alles männlich.

Na, Jott sei Dank! Et is man bloß, weil Heinrich, wat mein Mann is, jesagt hat, er muß eenzeln rinjehen. Is det wahr, Herr Jerichtsdiener, daß ick 'm nich bejleiten darf?

Zum Zeugenverhör? Nee, da geht jeder alleine.

Det is mir aber sehr unanjenehm! Na, Sie können da nischt vor. Da, trinken Sie 'n Jlas Bier.

Danke schön, sagte der Gerichtsdiener und verschwand mit jugendlicher Geschwindigkeit aus Huldas Bereich.

Sie aber ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Unanjenehm, sehr unanjenehm! Jern laß ick dir da nich alleene rinjehen. Aber Jericht is Jericht, dabei is nischt zu machen. Un wenn du dir schuldig fühlst, Heinrich –

Aber ich tue das ja gar nicht!

Wenn du dir schuldig fühlst, denn immer man raus mit die Sprache. Abschwören is keen jutes Jeschäft nich. Un wenn se dir nu fragen – Heinrich, Heinrich, det is se!

Der letzte Ausruf, der kreischend hervorgestoßen wurde, war durch das Oeffnen der Tür zum Korridor und das Erscheinen von zwei neuen Personen veranlaßt worden. Es waren Marion und Hans von Hildebrand, um dessen ritterliche Begleitung sie gebeten hatte.

Hulda war aber durch diesen Anblick in höchste Aufregung versetzt worden. Also doch, also doch! zischte das zur Megäre werdende Riesenweib. Hundertmal – nee, det langt nich – fünfhundertmal mindestens ha 'ck dir jefragt, ob du nischt weeßt von die Dame, wo dir jeschrieben hat, wo mit 'n Taschentuch in die Hand an dem verabredeten Orte jekommen is un wo denn hinterher so jequiekt hat in 'n Zirkus. Immer haste jesagt, du weeßt nischt von ihr. Un nu steht se da vor dir! Soll ick jlooben, daß det 'n Zufall is? Nee, so dumm is Hulda Müller noch lange nich! Wat ick nu jloobe, det is janz wat anderes. Nu jloob ick ooch an dem Kinde – un du bist der Vater von det Kind, un sie is die Mutter!

Der Schwall ihrer Worte war so plötzlich auf ihren Gatten und auf die beiden Eingetretenen herab gestürzt, daß zunächst keiner ein Wort zur Erwiderung fand. Marion war heute ohnedies im Gegensatz zu der Aufregung im Gespräch mit ihrem Bruder von einer heiteren Ruhe, die scheinbar nicht leicht zu trüben war. Auch jetzt lächelte sie nur die Aufgeregte an und gebot Hildebrand, auf dessen Gesichte Kampflust aufglühte, mit einer leichten Handbewegung Schweigen. Sie ging ein paar Schritte auf Hulda zu und sagte leichthin: Mir scheint, wir sind hier in der selben Sache als Zeugen geladen. Mein Name ist Marion Bornträger; darf ich fragen, mit wem ich das Vergnügen habe?

Ihre Sicherheit machte die Wütende für einen Augenblick stutzig, und sie erwiderte die Vorstellung: Ick heeße Hulda – Hulda Müller. Aber duhn Se man bloß nich so, als wenn Se mir nich kennten. Un wenn Se mir wirklich nich kennten – dem da kennen Se jut jenug. In ihrer Stimme kündigte sich ein neues Unwetter an, und indem sie die Hand gegen ihren stumm zusammengekauerten Gatten ausreckte, schien sie einen Blitz auf ihn schleudern zu wollen.

Marion lächelte. Herrn Enrico kenne ich allerdings, aber bisher nur von weitem, aus dem Zirkus. Ich freue mich, Sie auch einmal persönlich begrüßen zu können. Sie ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, doch Hulda vertrat ihr als Rachegöttin den Weg.

Nich anrühren! Det is mein Mann, ziviliter un kirchlich anjetraut, un ick will ihm vor mir behalten. Un ick sage Sie, vier Zentner ha 'ck jestemmt mit diese Hand, un wer mit die Bekanntschaft jemacht hat, der vergißt ihr so leicht nich wieder. Un diese Bekanntschaft könnten Sie machen, verstehen Se mir? Aber wat meinen Heinrich anbetrifft, da sag ick: Hand von die Butter. Der is vor Ihnen nich jewachsen. Un wenn Se sich noch eenmal unterstehen un schreiben Briefe un wedeln mit Taschentücher, denn –

Still, meine liebe Frau.

Scheinbar in größter Seelenruhe hatte Hans von Hildebrand es gesagt und zugleich Huldas gefahrdrohend erhobene Hand mit festem Griffe gefaßt. Mit einem Griffe, der sie so eisengleich umspannte, daß auf ihrem Gesichte höchstes Erstaunen sich malte. Wenn etwas ihr imponierte, so war es eine der eigenen überlegene Körperkraft. Bei diesem Manne, der trotz ansehnlicher Größe doch immer noch um einen Kopf kleiner war als sie selbst, hatte sie am wenigsten darauf gerechnet, und ihre maßlose Verblüffung, als es nicht gelang, die fremde Hand spielend von sich abzuschütteln, äußerte sich zunächst nur in dem einen anerkennenden Worte: Donnerwetter! Dann aber, während sie mit unverhohlener Bewunderung auf ihn hinunterblickte, fügte sie die Frage hinzu: Sie, Herr, Sie sind wohl von 's Metier?

Lachend gab Hildebrand sie nun frei. Dieses weniger. Habe mich nur etwas trainiert. Ich bin Offizier und heiße Hans von Hildebrand.

Alle Achtung! Wir beide zusammen, det hätte 'ne schöne Nummer abjejeben.

Leider muß ich verzichten. Aber in aller Freundschaft und Ruhe möchte ich Ihnen ein paar Worte sagen, wenn Sie an diese Dame hier irgend welches Anliegen haben sollten, so bitte ich Sie, mit mir darüber zu verhandeln. Ich bin ihr Vertreter –

Ihr Vertreter, wieso?

Ihr natürlicher, berufener Anwalt; denn diese Dame ist meine Braut.

Herr von Hildebrand! Marion rief seinen Namen mit einem Tone schlecht verhehlten Jubels, doch ließ ihr Hulda keine Zeit für weitere Worte: Ihre Braut? Ja, wahrhaftig? Aber det is ja jroßartig, det is ja kolossal! Nee, so wat! Wie 'ck mir darüber freue, det kann ick ja jar nich sagen. Heiraten Se ihr, heiraten se ihr man janz rasch un machen Se ihr unschädlich. Nu wird se doch meinen Heinrich in Ruhe lassen, nich wahr? Wer 'n Mann kriegt wie Sie, mit so 'ne Kräfte, der kann doch zufrieden sint. Ja, an den werden Se Ihre Freude erleben, da verlassen Se sich druff. Un ick jratuliere Sie alle beede von janzen Herzen – Heinrich, jratuliere du ooch – nee, nee, bleib man da hinten – un det is mir, als wenn ick fünf Minuten lang die vier Zentner jestemmt hätte un ick dürfte nu det Jewicht uff der Erde schmeißen. Un nu können wir det ja ooch in alle Freundschaft besprechen, wie wir det am besten einrichten mit die Zeugenaussagen –

Herr Heinrich Müller, genannt Enrico, Löwenbändiger! Die Tür zum Nebenzimmer hatte sich geöffnet, und der Gerichtsdiener begann, die Zeugen aufzurufen.

Hulda stürzte zu ihrem Manne. Heinrich, Sie rufen dir. Na, da jeh man un mach et jut. Aber bleib nich zu lange, hörste? Un wenn die Ruschebuschen doch da drin sein sollte, denn kömmste jleich wieder, verstehste?

Der schöne Heinrich ging ab nach links, und seine Gattin postierte sich dicht an der Türe, um so viel als möglich von daneben wenigstens zu hören, wo sie nicht Augenzeugin werden durfte. Sie war so hingenommen von ihrer Beschäftigung, daß Marion und Hans glauben konnten, sie seien allein in dem öden Zeugenzimmer.

Ganz leise trat er nahe zu ihr hin. Sind Sie mir böse?

Sie sah ihn an, aber keineswegs mit einem bösen Blick. Dann tat sie eine der überflüssigen Fragen, die man erfahrungsgemäß in solch einer Situation zu tun pflegt: Worüber?

Weil ich die Hürde ein wenig rasch genommen habe. Weil ich Sie meine Braut genannt habe, ohne bisher das offizielle Recht dazu erhalten zu haben. Weil ich –

Ach, Herr von Hildebrand –

Nein, lassen Sie mich noch ein paar Worte sagen. Gut bin ich Ihnen schon gewesen, ehe ich gestern Ihren Brief erhielt, in dem Sie mich baten, hier Ihren Beschützer zu spielen. Sie müssen von einem alten Jägersmann keine sentimentalen Jünglingsgefühle verlangen, aber ich bin Ihnen wahrhaftig von Herzen gut. Ich habe das bestimmte Gefühl, wir beide passen zusammen. Und als ich heute morgen an Ihrer Seite ging, da war mir ganz bräutigamsmäßig zumute. Daher denn auch mein übereiltes Wort. Muß ich's zurücknehmen, oder soll ich Sie wirklich meine Braut nennen dürfen?

Wenn Sie es mit mir wagen wollen? Ihre Stimme zitterte, sie beugte sich mädchenhaft und schüchtern vor ihm nieder.

Da ist nichts zu wagen –

Doch, doch – ich bin wirklich manchmal ein wenig leichtsinnig gewesen –

Ach, Unsinn! Das ist nur die Geschichte vom Apfelbaum. Der soll uns nun der Baum der Erkenntnis werden – aber nur der Erkenntnis des Guten.

Er hatte sie leise zu sich hergezogen und war auf dem besten Wege, sie zum ersten Male zu küssen. In diesem Augenblick aber stieß Hulda Müller einen Schrei des Schreckens aus. Herrjott, det is 'ne weibliche Stimme! Det is die Ruschebuschen – nee, det lass' ick mir nu aber nich jefallen!

Schon hatte sie auch die Tür aufgerissen und verschwand im Gerichtssaal. Allerdings nur für kurze Zeit. Dann wurde sie, mit einer Ordnungsstrafe belegt, von einem stattlichen Schutzmannsaufgebot wieder ins Zeugenzimmer zurückgeführt, wo sie, wenn auch noch immer aufgeregt, in verhältnismäßigem Seelenfrieden anlangte. Denn sie hatte sich überzeugt, daß die weibliche Stimme nur eine Täuschung ihrer Sinne gewesen war, und daß weder Lina Ruschebusch, noch irgend ein anderes Wesen feminini generis unter Obhut der Herren Richter ihren Enrico verführte.

In das bräutliche Geflüster von Marion und Hans hatte dieser Zwischenfall störend eingegriffen, aber der Frohsinn ihrer Herzen war heute durch nichts zu verscheuchen. Alles erschien ihnen vergoldet und sonnenhell: das weißgetünchte Zimmer, der grauhaarige Gerichtsdiener, die eifersüchtige Riesendame, das ganze Zeugenverhör. Und wenn man Marion ins Gefängnis gesperrt hätte, wozu kein Anlaß vorlag, sie würde wohl auch dann vergnügt gesagt haben: Mein Hans wird mich schon wieder herausholen. –

Leider sind immer die Freuden des Lebens verschieden verteilt. Während Marion jene höchst angenehme gymnastische Uebung zum ersten Male probierte, die man poesievoll als ein Schwimmen im Glück bezeichnet, hatte ihr gestrenger Herr Bruder wieder eine weniger angenehme Massage durch des Schicksals Hände zu erdulden. Er saß in voller polizeilicher Würde in seinem Bureau und verriet im Aeußern keinerlei Aufregung, aber auch unter der Weste des Herrn Oberregierungsrats klopfte ein Herz, und es klopfte heute in so bänglichen Schlägen, daß es mit einem frischgefangenen Vogel, der in einem noch unbekannten Käfig umherflattert, eine unangenehme Aehnlichkeit hatte. Denn vor Bornträger stand Stilke und berichtete über das Ergebnis der »mit Vorsicht und Diskretion« angestellten Ueberwachung von Martha von Bühring.

Er hatte soeben den ersten Hauptpunkt vorgetragen und über den geheimnisvollen Transport von Kinderzeug in die Wohnung der Frau Tübbe berichtet, was einige nervöse Sprünge des Vogels im Käfig zur Folge hatte. Dem Schutzmann gegenüber affektierte sein Chef jedoch ungetrübten Seelenfrieden. Ich kann in dieser Sache nichts Besonderes finden. Die werktätige Nächstenliebe hat ja in unserer Zeit einen erfreulichen, höchst erfreulichen Aufschwung genommen. Zu Weihnachten schneidert meine eigene Tante wohl ein Dutzend Kinderkleidchen. Und ob Weihnachten oder nicht – die Sache bleibt ja gleich. Er versuchte ein behagliches Lachen, doch klang es ein wenig trocken, und sein beredtes Monocle wollte durchaus nicht im Auge sitzen bleiben. Wenn Sie nichts weiteres zu berichten haben –

Oh doch, Herr Oberregierungsrat, sagte Stilke mit Nachdruck und begann die Erzählung von dem gekauften Eisenbahnbillet nach Karlsruhe. Seine eigene Rolle als internationaler Bankräuber blieb dabei bescheiden unerwähnt.

Nun, die Dame wird verreisen wollen, sagte Bornträger mit einem ungewohnten Aufgebot von Bonhomie. Karlsruhe ist eine recht nette Stadt, und sie wird vielleicht Verwandte dort haben. Auch dabei ist gar nichts Besonderes, was gibt es denn sonst zu berichten? Ist Fräulein von Bühring in diesen Tagen häufiger mit ihrem Verlobten zusammengetroffen?

Nicht ein einzigesmal.

So? Nun, sie wird eben mit Reisevorbereitungen zu tun gehabt haben. Da kommt man leicht zu kurz mit seiner Zeit. Und weiter gibt es nichts?

Stilke berichtete, was noch zu berichten war, doch ging sein Vorgesetzter über alle diese Kleinigkeiten mit heiterem Gleichmut zur Tagesordnung über und sagte dann: Nun, es freut mich, daß nichts irgendwie Gravierendes zu melden war. Aber Sie haben Ihre Sache gut gemacht, ich bin mit Ihnen zufrieden. Das eine nur merken Sie sich: diese Recherchen bleiben streng unter uns. Verstanden?

Jawohl, Herr Oberregierungsrat, erwiderte Stilke, machte auf eine verabschiedende Handbewegung Bornträgers kehrt und verschwand. Mit seinem Chef ging aber nun eine rasche Veränderung vor sich. Er sprang empor – sein Podagrabein gestattete ihm diesen Luxus jetzt wieder – und lief in großer Aufregung hin und her. Dann tat er etwas höchst Unmodernes, in gewissen Lebenslagen aber trotzdem immer noch sehr wohltuendes – er hielt einen Monolog. Daß dieser mit einer Anrufung des Gottseibeiuns begann, war allerdings für einen Chef der Sicherheitspolizei nicht schön.

Teufel, Teufel, Teufel! jammerte der geplagte Mann. Das ist eine schlimme Sache, eine böse, böse Sache! Hier steht meine Pflicht, hier steht meine Liebe – dies Wort wurde wieder gedämpft ausgesprochen und war von einem scheuen Umherblicken begleitet – was soll ich tun, was soll ich tun? Wenn die Person wirklich in die Geschichte verwickelt sein sollte! Kinderzeug hat sie zu dieser Frau getragen. Möglicherweise kann man es harmlos deuten, aber, aber –! Vielleicht hat sie doch die Sachen für ein eigenes Kind hergerichtet gehabt und hat sich gescheut, sie nach der Ermordung des Kindes zu vernichten. Und dieses Billet nach Karlsruhe! Offenbar will sie fliehen, sie oder er. Und es ist keine Zeit zu verlieren, keine Minute! Wenn ich die beiden entwischen lasse, versäume ich meine Pflicht, und wenn ich sie festsetze, wird dieser Delaroche mich schonen, wird er Philippine schonen? Es wäre Wahnsinn, darauf zu rechnen. Wo gibt es einen Ausweg?

Er fuhr zusammen, denn es hatte laut an der Tür geklopft. Aber es war kein Häscher, der eintrat, es war nur die übliche Mittagspost, die gebracht wurde. Seufzend machte sich Bornträger an die Musterung der Eingänge, um gleich aufs neue zu erschrecken. Ein Brief lag unter den anderen, ganz gleich dem einen, der vor kurzem zuerst seinen Verdacht auf Paul und Martha gelenkt hatte. Auch hier war die Adresse wieder aus aufgeklebten, ausgeschnittenen Worten und Buchstaben gebildet und ebenso war der Brief selbst, der in Bornträgers bebenden Händen knisterte, hergestellt worden. Er war kurz, aber inhaltsreich: »Hohe Polizei! Wie Luna hoch oben am Himmel sind auch wir Menschen hienieden dem Wechsel unterworfen. Auch ich bin ein Mensch. Und so nehme ich feierlich zurück, was ich das vorigemal gesagt habe. Mein Urteil über ihn hat sich vollkommen geändert, er ist ein vortrefflicher Mensch. Machen Sie ihm keine Ungelegenheiten, er soll mein Kind behalten.«

Das war alles; die Unterschrift fehlte wie das erstemal. Aber die wenigen Zeilen genügten, um Bornträger einem Ausbruch von Raserei sehr nahe zu bringen. Was soll denn das wieder heißen? schrie er wütend. Er soll das Kind behalten? Ja, wo will sie es denn herkriegen, wenn es verbrannt ist? Und was soll er anfangen mit einem verbrannten Kinde? Behalten – behalten – Kind behalten – ich werde verrückt – Herrgott im Himmel, ich werde verrückt!


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