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Das Podagra hatte den Herrn Oberregierungsrat Bornträger in respektloser Weise gefällt. Was es bisher geleistet hatte, waren harmlose Vorpostengefechte gewesen. An diesem Unglücksmontag aber war der große Hauptsturm erfolgt, sein Opfer lag hilflos darnieder, und allein die Scheu vor der Stellung des hohen Polizeichefs verbot es, ihn als ein Häufchen Unglück zu bezeichnen.
Er hatte sich unter Schelten und Stöhnen mit Hilfe von Marion und Tante Aurelie mit vieler Mühe bis ins gemeinsame Wohnzimmer geschleppt und lag nun – so leise wimmernd, wie es nur große Männer tun – auf dem Divan. Sein für heute dauernder Aufenthalt im gemeinsamen Wohnraume hatte den merkwürdigen Erfolg gehabt, daß beide Damen sich plötzlich notwendiger Besorgungen erinnert hatten, die in der Stadt zu machen waren. Tante Aurelie gab sich damit nur sehr selten ab, sobald sie jedoch die gegenwärtige Sachlage begriffen hatte, war auch sie sogleich wichtiger Pflichten eingedenk geworden. Mit eiligem Eifer hatten beide sich gerüstet und waren – voraussichtlich für geraume Zeit – gemeinsam verschwunden. Bornträger blieb seinen Schmerzen, dem Papagei und der Beschäftigung mit dem Falle Ruschebusch überlassen. Denn wenn dieser ausgezeichnete Mann sich vom Dienst in seinem Bureau für heute auch hatte frei machen müssen, er blieb sich seiner dienstlichen Aufgaben stets bewußt. Und so lagen denn auf dem Tische des Wohnzimmers neben seinem Schmerzenslager alle die Sachen ausgebreitet, die Bornträger sich zu erneuter Orientierung über den schwierigen Kriminalfall vom Gericht hatte kommen lassen und die er gleich nach dem Fortgehen der Damen hierher beordert hatte. Da waren verschiedene Photographien von der Brandruine Negenborn, vom Ziehbrunnen der verewigten Kartenschlägerin und von den unheimlichen Dingen, die man in diesem Brunnen gefunden hatte. Das blutige Taschentuch, der Stein, der Knochen darin waren gemeinsam und getrennt mehrfach aufgenommen worden; das Taschentuch besonders lag hier in einem Bilde von beinahe natürlicher Größe, mit seinen unheimlichen Flecken und seinem hineingestickten B deutlich erkennbar. Auch die Gipsfüße beiderlei Geschlechts fehlten so wenig, wie die sorgsamen Zeichnungen der gefundenen Spuren.
Ein übelwollender Beobachter hätte jedoch leicht auf den Gedanken kommen können, daß diese Dokumente des Pflichtbewußtseins mehr für die Augen der Damen bei ihrer Heimkehr berechnet seien, als für den Herrn Polizeichef in Person. Denn sobald alles hübsch ausgebreitet dalag und er mit dem Papagei nun wirklich allein war, zog er unter so schmerzlichem Stöhnen, als wenn es ihn die größte Ueberwindung kostete, ein Buch aus der Tasche, dessen gelber Umschlag es bereits als französischen Roman verraten hätte, wenn durch das Wort » Liaisons« auf dem Titel die Deutlichkeit nicht noch erhöht worden wäre. Offenbar erfüllte der Inhalt ihn jedoch mit dem höchsten Abscheu, wie sein fortgesetztes Wimmern und Stöhnen verriet, und er machte sich zweifellos nur darum aus diesem verwerflichen Buche mit einigen neuen Schlechtigkeiten der Welt vertraut, um sie genügend verfolgen zu können. Ungerechtfertigt war es zweifellos, wenn der heute gleichfalls mißgelaunte Papagei ihm ab und an ein mürrisches »Du Luder!« zurief. Unklar aber blieb es, weshalb der Polizeichef mitten im Lesen auf einmal das Buch sinken ließ und in einen kurzen, aber ausdrucksvollen Monolog ausbrach, der die Worte enthielt: »Warum das mich nun gerade heute treffen muß!« Pause, Wimmern und Andiedeckestarren, dann der erneute, noch ausdrucksvollere Ausruf: »Ach, Philippine!« dem ein langdauerndes erneutes, von Wimmern begleitetes Andiedeckestarren folgte.
Starren, Wimmern und Lesen, abwechselnd oder – soweit als tunlich – auch gleichzeitig angewandt, übten schließlich eine besänftigende Wirkung auf die Schmerzen des gepeinigten Mannes aus, und obwohl er nach seiner eigenen Aussage niemals auch nur eine Minute lang bei Tage schlief, so war es doch nach einiger Zeit nicht mehr zu leugnen, daß er diesmal eine Ausnahme machte. Auch war sein Ruhebedürfnis durchaus entschuldigt; in der vorigen Nacht hatten die Schmerzen ihn tatsächlich kaum eine halbe Stunde lang schlafen lassen, und jetzt war er so müde, daß nicht einmal der Abscheu vor den » Liaisons« ihn wach erhalten konnte. Vom sanften Einnicken ging er zu friedlichem Schlummern, vom Schlummern zum Schlafen mit vernehmlichem Schnarchen über, was den gelangweilten Papagei so sehr ärgerte, daß er mit gesträubten Federn wohl zwanzigmal sein »Du Scheu, du Greu!« hinüberschrie, ohne jedoch eine andere Antwort als erhöhtes Schnarchen zu erhalten.
Mehr als eine Stunde verging unter diesem eigentümlichen Duett von Tier- und Menschenlauten – welche von beiden tierischer klangen, wäre schwer zu entscheiden gewesen –, als ein unerwarteter Ton, vielleicht auch ein Luftzug das eine Auge der Gerechtigkeit aus dem Schlafe weckte. Die Tür hatte sich geöffnet, und Tante Aurelie war hereingetreten. Ihr Kommen erinnerte den Herrn Polizeichef an den französischen Roman, der friedlich auf seinem Bauche gelegen hatte, und er griff darnach, um das Buch in einer geräumigen Tasche zu bergen. Schlaftrunkenheit macht aber auch geschickte Leute oft ungeschickt; das Buch entglitt seinen Händen und fiel zu Boden. Mit jener Hilfsbereitschaft, die zu den naturgeschichtlichen Eigentümlichkeiten der Tanten gehört, kniete die gute alte taube Dame so geschwinde nieder, als ihr Knochengerüst es gestattete, und ergriff den schwefelgelben Roman.
Ach, was ist denn das für ein Buch? » Liaisons dangereuses«! Du, Franz, das ist wohl furchtbar interessant?«
Gib es mir her!
In dem berechtigten, diesmal aber unangebrachten Glauben, ihr Neffe hätte das Aufheben mit einem freundlichen »Danke sehr« belohnt, schüttelte sie ablehnend den Kopf und sagte lächelnd: Ach, bitte, bitte, das habe ich gerne getan. Wie geht es denn jetzt mit deinen Schmerzen?
In meinem Beine stecken zwanzig Messer!
So, besser geht's? Das ist ja wunderschön.
Sie legte das Buch auf den Tisch, ohne von dem Wutgebrumm ihres Neffen das Leiseste zu vernehmen, und wandte sich zum Spiegel, um ihr vom Hut ein wenig zerzaustes Haar zu ordnen, dessen natürliches Grau mit dem Strohblond eines eingeflochtenen künstlichen Zopfes angenehm kontrastierte. Trotz ihrer Jahre hatte Tante Aurelie noch nicht ganz mit allen kleinen Eitelkeiten dieser Welt gebrochen, was auch der Grund war, daß der Gebrauch eines Hörrohres von ihr hartnäckig verweigert wurde. Jedesmal, wenn man sie auf dem allein möglichen schriftlichen Wege dazu überreden wollte, betonte sie nachdrücklich, ihr Gehör sei gerade neuerdings viel besser geworden; bei Südwestwind höre sie überhaupt so gut wie ein ganz gesunder Mensch. Diese Windrichtung war für den heutigen Ausgang mit bestimmend gewesen; Marion hatte die alte Dame auch nur sechsmal vor dem Ueberfahrenwerden durch Automobile retten müssen, deren Hupen ihr wie ein sanftes Räuspern in die Ohren klang.
Bornträger lag leise wimmernd auf dem Diwan; wenn das Podagra so arg war, wie eben jetzt wieder nach der plötzlichen Störung durch die Tante, dann biß er die Zähne zusammen, sprach nur das Nötigste und unterließ auch die Schmerzensausrufe, durch die er sich bei leichteren Anfällen Erleichterung schaffte. Die Tante sparte ihm aber sowieso die ohnehin vergebliche Mühe des Fragens; wenn sie einmal auf der Straße gewesen war, dann kam sie stets in lebhafter Gesprächigkeit zurück, die zu ihrer sonstigen, still-philosophischen Weltbeobachtung am Spion in scharfem Gegensatze stand.
Auch jetzt redete sie vom Spiegel her. Marion ist noch nicht mitgekommen, wir haben nämlich unterwegs einen Herrn getroffen.
Schon wieder einen! wehklagte Bornträger, ohne sich der aussichtslosen Hoffnung hinzugeben, daß die Tante ihn hörte.
Ein sehr netter Herr war's, offenbar aus guter Familie. Marion hat ihn mir natürlich auch vorgestellt, aber ich habe den Namen nicht genau verstanden. Es fuhr gerade ein Lastwagen vorüber. Er ist ein Stück mit uns gegangen – den Herrn meine ich, nicht den Wagen – und sie haben mich dann auch bis hierher ans Haus gebracht. Was sie jetzt noch zusammen vorhaben, weiß ich nicht; sie haben es mir gesagt, aber es fuhr gerade wieder ein Lastwagen vorüber. Uebrigens muß ich dir noch etwas erzählen. Eine Dame hat dich besuchen wollen, sie verhandelte eben draußen mit der Köchin, die sie natürlich nicht hereinlassen wollte.
War sie jung oder alt? Bornträger machte einen schwachen Versuch, sich verständlich zu machen, da die Tante seinem Schmerzenslager wieder etwas näher gekommen war. Ein verständnisinniger Ausdruck belebte denn auch ihr Gesicht. Kalt? Nein, kalt ist es gar nicht. Die Dame war sogar schon ganz sommerlich angezogen. Auffallend sommerlich sogar –
Es war doch nicht Frau von Hergenrath?
Was sie auf dem Herzen hat? Das kann ich dir leider nicht sagen. Sie hat vielerlei geredet, aber sie sprach ein wenig rasch und –
Und es fuhr wieder ein Lastwagen vorüber, ich kenne das! Bornträger schrie es in heller Wut, weil aber die Tante ihn eben nicht anschaute, merkte sie gar nicht, daß er sprach, und fuhr ohne Unterbrechung fort: – und ich weiß nur das eine genau, daß sie um jeden Preis zu dir hineinwollte. Denn das hat mir die Rieke auf die Tafel geschrieben. Die dumme Person schreibt ja immer alles auf die Schiefertafel, was sie von mir will; sie behauptet, sie ruinierte sich ihre Lunge, wenn sie mit mir spräche, das hat sie mir neulich auch aufgeschrieben. Und ich verstehe die Leute, die ich kenne, doch sehr gut, besonders bei dem Winde heute höre ich ausgezeichnet. Uebrigens war es eine ganz merkwürdige Dame, so wunderlich angezogen, und ihr Hut – aber was hast du denn da für Sachen? Gott, wie interessant!
Sie war in ihren Gedanken so sehr mit der erwähnten wunderlichen Dame und mit ihrem eigenen Bilde im Spiegel beschäftigt gewesen, daß die kriminellen Gegenstände auf dem Tisch ihren Blicken bisher entgangen waren. Da sie mit vielen tauben Leuten aber die Eigenheit teilte, ein wenig neugierig zu sein, so streckte sie jetzt rasch die Hand nach einer Photographie vom Brunnen der toten Frau Negenborn aus.
Laß die Hände davon! Bornträger brüllte die Worte, zum Teil seiner Schmerzen, zum Teil der Verständlichkeit halber, doch auch sein Gebrüll verhallte vor den Ohren der Tante.
Was ich davon weiß? Ach, nichts natürlich. Wie sollte ich von solchen Sachen etwas wissen? Aber interessieren tun sie mich fabelhaft. Du, das alles hat gewiß mit einer Mordgeschichte zu tun. O Gott ja, da ist ein Knochen auf dem Bilde – wie gräßlich! Und hier ein Haus und ein Brunnen und – was ist denn das für ein sonderbares Bild? Es sieht ja so aus – ja, wahrhaftig, es ist ein Taschentuch! Da der Rand und der Saum und der Buchstabe – was ist es denn für ein Buchstabe? Laß mich die Photographie ein wenig herumdrehen, so kann ich es besser sehen. Es ist ein B., ein großes B. – Franz, Franz, um Gotteswillen, das ist ja das verlorene zwölfte vom Dutzend!
Bornträger wollte vom Diwan emporspringen, setzte sich aber damit einer solchen Schmerzensattacke aus, daß er stöhnend zurücksank. Was für ein Tuch, was für ein Dutzend? stammelten seine zuckenden Lippen.
Tante Aurelie hatte natürlich keine Silbe gehört, sagte jedoch auch ohne dies, was zu sagen war. Wie oft habe ich sie schon gefragt, wo sie dies Tuch nur gelassen hat. »Ich weiß nicht,« hat sie mir immer nur geantwortet. Aber ich habe mich zu sehr geärgert, weil ich ihr doch das Dutzend selbst gestickt hatte für letzte Weihnachten, und nun –
Sprichst du von Marion? Bornträger vermochte die Worte kaum hervorzubringen, und es war diesmal kein Wunder, wenn ihn die Tante nicht verstand.
Aber damit du nicht sagen kannst, daß ich mich irre, will ich gleich einmal gehen und die anderen Tücher holen. Da kannst du mit eigenen Augen sehen – einen Augenblick!
Mit auffallender Geschwindigkeit war sie zur Tür hinaus, der Herr Oberregierungsrat aber arbeitete sich mit ungeheuerer Kraftanstrengung aus der liegenden Stellung empor und setzte sich unter den entsprechenden Klagelauten aufrecht auf den Diwan. Es duldete ihn nicht in der untätigen Stellung, und er wäre am liebsten tobend im Zimmer umhergelaufen, wenn sein Bein kein Veto eingelegt hätte. So saß er da, grübelte, rang die Hände und fragte laut: Marion, Marion, ist es denn möglich? Die Antwort, die er bekam, war aber ziemlich unbefriedigend; sie ertönte aus dem Bauer des Papageis und lautete: Ich bin der kleine Postillon. Worauf der Herr Oberregierungsrat sich so weit vergaß, dem armen, unvernünftigen Tiere zuzurufen: Verfluchtes Vieh, halt' deinen Schnabel! Mach du mich nicht auch noch verrückt!
Jetzt war aber Tante Aurelie bereits wieder da und breitete sieben unschuldsweiße Taschentücher vor ihrem Neffen aus. Hier sind sie, hier sind sie! Drei sind in der Wäsche, eins hat Marion in Gebrauch, macht zusammen vier. Hier sind sieben, macht im ganzen elf. Das zwölfte fehlt am Dutzend; wie ich gesagt habe. Mein Gott, ich kenne doch die Tücher ganz genau, weil ich sie selbst gestickt habe. Du mußt sie doch auch kennen, Franz.
Ich kümmere mich nicht um euere Frauenzimmergeschichten.
Schlimme Geschichten? Um Gotteswillen, doch nicht etwa für Marion? Ist es ein Kriminalfall, in den sie verwickelt werden könnte? Das wäre ja schrecklich – für Marion und für dich und für die ganze Polizei. Gewiß hat man ihr das Tuch gestohlen und –
Wo ist Marion?
Die Tante schüttelte den Kopf und antwortete traurig: Ach, momentan nicht! Was sie verstanden hatte, blieb ihr Geheimnis. Um die Photographie des Tuches noch einmal zu betrachten, war sie gleichzeitig aber an den Tisch und so auch zu ihrem Neffen nahe herangekommen, der seinen Vorteil ersah, die Erschrockene an der Hand, am Arme packte, sie unsanft zu sich nieder zog und ihr unmittelbar ins Ohr schrie: Wo ist Marion? Schaffe mir Marion herbei!
Um Gotteswillen, was machst du, Franz? rief die Tante. Du zerreißest mir ja mein gutes Kleid!
In ihre Worte hinein erklang aber eine andere Stimme. Die Tür zum Nebenzimmer hatte sich geöffnet, und Marion war in ihr erschienen. In einem Tone, der in seiner heiteren Frische merkwürdig von dem aufgeregten Klange der beiden anderen Stimmen abstach, fragte sie: Hast du mich gerufen, Franz?
Marion, komm hierher!
Es ist Besuch im Salon –
Komm hierher.
Ich sage dir, es ist Besuch da.
Schick ihn fort und komm hierher.
Es ist niemand, den man so ohne weiteres fortschicken könnte –
Und wenn es der Kaiser selber wäre, jetzt hast du mir Rede zu stehen.
Ja, was ist denn los? Die mit richterlicher Feierlichkeit gemischte Wut in ihres Bruders Worten veranlaßte sie trotz ihres Widerstrebens, näher zu ihm heranzutreten und die Gegenstände auf dem Tische mit flüchtigem Blicke zu mustern. Das sind ja meine Tücher. Was willst du damit?
Du erkennst diese Tücher als die deinigen an?
Aber selbstverständlich.
Eins von den Tüchern fehlt. Wo ist es geblieben?
Sie zauderte einen Augenblick, dann warf sie trotzig den Kopf zurück. Ich weiß es nicht.
Ich will es dir sagen. Sieh hierher. Diese Photographie stellt ein Taschentuch dar. Ist es dein Tuch oder nicht.
Aber was bedeutet dies alles?
Ja oder nein. Ist es dein Tuch oder nicht?
Ja, zweifellos. Es ist mein Tuch. Aber –
Und nun höre mich an. Ich will dir sagen, wo man dies Taschentuch gefunden hat. Im Brunnen der Frau Negenborn an der Augsburgerstraße. Mit einem Steine und mit den Ueberresten eines zweifellos ermordeten Kindes angefüllt. Marion, Marion, die Knochen eines toten Kindes in deinem Taschentuch!
Er war so außer sich, daß er für den Augenblick sogar seine Schmerzen vergaß. Die Tante sah mit angstvollen Augen von einem zum andern, verstand keine Silbe und preßte die Hände nur umso angstvoller ineinander, je weniger sie verstand. Der Papagei aber war taktlos genug, in diesen tragischen Moment hinein wieder einmal die unwahre Behauptung aufzustellen, er sei der kleine Postillon.
Marion hatte für ein paar Sekunden ganz betäubt und stumm dagestanden. Aber wie ist denn das möglich? fragte sie jetzt mit unsicherer Stimme. Wie läßt sich denn das alles erklären?
Ich habe zu fragen, nicht du. Als Polizeibeamter und als Bruder in einer Person fordere ich von dir jetzt eine bündige Auskunft: hast du jemals bei dieser alten Kartenschlägerin namens Negenborn verkehrt?
Ja, ich bin bei ihr gewesen.
Wie oft?
Zweimal im ganzen.
Was hast du bei ihr gemacht?
Mir die Karten legen lassen wie viele andere Damen auch. Ich glaubte natürlich nicht daran, aber es machte mir Spaß.
Und was weißt du über den Verbleib dieses Taschentuches?
Ich hab es verloren. Sie antwortete jetzt noch schneller und trotziger als zuvor.
Wo, wie und wann?
Ich weiß es, aber ich verweigere darüber die Auskunft.
Damit machst du dich im höchsten Grade verdächtig!
Einerlei.
Daß Bornträgers Gesicht noch um einen Ton röter werden konnte, als es ohnedies vor Aufregung und Zorn schon war, erschien eigentlich unmöglich, aber es geschah trotzdem. Das ist nicht einerlei! Nicht für dich und nicht für mich. Jawohl, ich spreche auch einmal von mir. Alles hat seine Grenzen, auch meine Langmut. Und ich will mir mein Leben, meine Stellung, meine Existenz nicht ruinieren lassen durch ein leichtfertiges, ungeratenes Frauenzimmer!
Der Herr Oberregierungsrat war einem Schlaganfall offenbar sehr viel näher, als es für die Gesundheit gut ist, aber auch Marion glühte. Jetzt ist es genug! Ich verbitte mir, daß du in diesen Ausdrücken von mir sprichst. Es ist möglich, daß ich unvorsichtig und leichtsinnig gewesen bin, dies dunkle, trübselige Polizeigebäude mit seiner Freudlosigkeit hat mich dazu gemacht. Vielleicht wird auch dieser Tag dafür gut sein, daß ich anders werde in Zukunft. Aber ich habe das mit mir abzumachen, mit mir ganz allein. Und ehe ich mich von dir behandeln lasse, wie du es heute tust, eher gehe ich für immer aus diesem Hause hinaus!
Aber meine Herrschaften! Die unerwarteten Worte kamen weder von den Lippen der Tante, noch aus dem Schnabel des Papageis. Eine ganz neue Stimme hatte sich in das erregte Gespräch gemischt, und ihr kühler und ruhiger, ein wenig spöttischer Ton wirkte auffallend besänftigend auf die hochgehenden Wogen der Leidenschaft. Ein Herr, der einen schönen Strauß von dunkelroten Rosen in der Hand hielt, war in die Tür vom Nebenzimmer getreten und blickte mit ironischem Lächeln auf die bewegte Gruppe.
Wer ist dieser Mann und was will er hier? Bornträger tat auch diese Frage noch in erheblicher Aufregung, aber gegen vorher war es doch ein Unterschied wie zwischen Sturm und frischer Brise. Der neue Herr trat ein paar Schritte weiter ins Zimmer und verbeugte sich leicht mit einer gewissen Ueberlegenheit vor Bornträger: Dieser Mann heißt mit Ihrer gütigen Erlaubnis Hans von Hildebrand. Ist Oberleutnant außer Dienst, also satisfaktionsfähig, wie er vorbeugend bemerken möchte.
Ein adeliger Zuschauer wirkt auf bürgerliche Familienszenen, wenn er im geeigneten Moment erscheint, meist wie Oel auf die tobende See. Solch hochgeborenem Zeugen gegenüber empfindet jeder das Unpassende zügelloser Leidenschaft, legt sein Gesicht wieder schnell in die konventionellen Falten und betont mit seinem ganzen Wesen: Auch ich bin ein gebildeter Mensch. Zufällig nicht von Adel, aber sehr dazu geeignet. So geschah es auch hier; Tante Aurelie sah mit besonders hellem Gesicht auf den Ankömmling und nickte ihm sehr freundlich zu.
Wie ich hierhergekommen bin, fuhr Hildebrand fort, erzähle ich Ihnen, Herr Oberregierungsrat, wenn wir erst besser miteinander bekannt geworden sind. Die kleine Geschichte hat einen ganz harmlosen Charakter, und hier spielt sich, wie ich mit Bedauern gehört habe, augenblicklich eine Tragödie ab. Daß ich's gehört habe, war nicht meine Schuld. Die Tür zum Salon, in den Ihr Fräulein Schwester mich geführt hatte, war offen geblieben, und die Herrschaften haben nicht ganz leise miteinander verhandelt.
Wollen Sie nicht Platz nehmen? sagte Tante Aurelie und schob einen Stuhl zurecht.
Hans aber hielt scheinbar die politische Lage noch nicht für friedlich genug, um der Einladung zu folgen. Er dankte nur mit einem angenehmen Lächeln und blieb stehen. Und nun möchte ich mir einen Vorschlag erlauben. Wie wär's, wenn die Herrschaften versuchten, die gegenwärtige Familientragödie von der heiteren Seite zu nehmen? Tragödien können das nämlich sehr schlecht vertragen und werden so am leichtesten aus der Welt geschafft. Die vorliegende hat aber nach meinem Gefühl ungeheuer viel Heiteres von Natur. Ja, Herr Oberregierungsrat, können Sie denn wirklich Ihr Fräulein Schwester im Ernst mit solch einer Kriminalgeschichte in Verbindung bringen?
Das ist meine Sache, brummelte Bornträger und machte ein sehr unliebenswürdiges Gesicht.
Das Hildebrands wurde nur noch liebenswürdiger. Zweifellos ist das Ihre Sache. Aber Sie werden einem unparteiischen Beobachter auch vielleicht gestatten, sein bescheidenes Urteil zu äußern. Einem Manne, der sehr wohl begreift, wie man in solch einem feierlichen, von Schutzleuten wimmelnden Polizeidirektionsgebäude leicht dahinkommt, in jedem Menschen einen Verbrecher zu suchen und allen alles zuzutrauen. Da draußen behält man doch vielleicht einen etwas freieren Blick, und ich sage Ihnen, Herr Oberregierungsrat, ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß Ihr Fräulein Schwester mit dieser Geschichte auch nicht das allermindeste zu schaffen hat.
Ach, Herr von Hildebrand! Marion rief es in einem Tone, der förmlich schwer war von Dankbarkeit. Ihr Gesicht leuchtete, sie sah ein paar Jahre jünger aus als sonst und ungewöhnlich hübsch zugleich.
Hans aber sprach weiter zu dem grollenden Polizeichef, dessen Gesicht sich nach und nach wider seinen Willen auch ein wenig aufheiterte. Sie kennen Ihr Fräulein Schwester doch schon seit einigen Jahren, meine Bekanntschaft mit ihr ist leider noch ziemlich jung. Aber soviel weiß ich heute schon mit Bestimmtheit: Fräulein Marion mag ein wenig lebenslustig sein – was mir, nebenbei bemerkt, kolossal gefällt – aber um Kinderknochen, in Taschentücher gewickelt, in alte Ziehbrunnen zu werfen, dafür ist sie viel zu klug und viel zu geschmackvoll.
Das Taschentuch ist gefunden worden und das Taschentuch hat ihr gehört. Bornträger grollte noch wie ein abziehendes Gewitter.
Und wenn man alle zwölf Taschentücher im Brunnen gefunden hätte, so spräche ich ebenso, wie ich gesprochen habe. Hier liegt ein Irrtum vor, eine Bosheit, ein unglücklicher Zufall oder ein Ulk, was weiß ich! Die Sache wird sich aufklären, und Fräulein Marion wird im weißen Unschuldskleidchen daraus hervorgehen. Nicht wahr, mein gnädiges Fräulein?
Marion streckte Hans mit plötzlichem Impuls die Hand entgegen: Ich danke Ihnen, Herr von Hildebrand! Das ist keine gesellschaftliche Redensart, es ist viel mehr. Sie sind der erste Mensch, der mir Verständnis und Vertrauen zeigt. Ihnen gestehe ich's darum auch offen ein: ja, ich habe manche Dummheit gemacht in meinem bisherigen Leben, aber an Schlechtigkeiten oder gar an Verbrechen habe ich niemals gedacht. Und ich verspreche Ihnen – es wird Ihnen wenig daran liegen, aber mir ist es Bedürfnis – ich will von heute an vernünftiger werden.
Er drückte kräftig ihre Hand. Einverstanden! Sie brauchen es ja nicht gleich zu übertreiben mit der Vernunft, aber ein wenig davon kann uns allen nicht schaden.
Wut und Groll hatten sich bei Bornträger nach und nach in Staunen verwandelt. Allen Respekt, Herr von Hildebrand! Ich habe meine Schwester noch niemals dahin gebracht, so zu sprechen. Wenn Sie die wirklich zur Vernunft bringen könnten –
Wird das gnädige Fräulein jetzt ganz allein besorgen. Verlassen Sie sich darauf. Die nimmt alle Hindernisse, wenn sie nur will. Und die verrückte Geschichte mit diesem blutigen Taschentuch aus der Welt zu schaffen, wird einem so ausgezeichneten Polizeibeamten wie Ihnen doch sicher nicht schwer werden. Aber nun will ich Ihnen auch sagen, wie ich hier hereingeschneit komme.
Darauf bin ich allerdings begierig.
Also: ich hatte das unverhoffte große Vergnügen, den beiden Damen vor einer Stunde ungefähr in der Galerie zu begegnen. Ihr Fräulein Schwester stellte mich der gnädigsten Tante vor, und ich hatte das große Vergnügen, die Damen bei ihren Einkäufen begleiten zu dürfen. Allmählich wurden wir alle drei etwas müde und hungrig, und da kam die gnädigste Tante auf den ebenso liebenswürdigen wie angenehmen Gedanken, uns zu einem kleinen Frühstück in einer Konditorei einzuladen. Ich akzeptierte mit Freuden, fühlte aber natürlich die Verpflichtung, mich ein wenig zu revanchieren. Daher fragte ich an, ob es gestattet sei, heute noch hier meinen Besuch zu machen und der gütigen Dame ein paar Blumen zu Füßen zu legen. Die Gnädigste willigte in freundlichster Weise ein –
Die Tante verstand wieder einmal kein Wort, fügte Marion in Parenthese hinzu, Hildebrand aber fuhr fort: So bin ich denn hier und gestatte mir, dem gnädigsten Fräulein diese Rosen dankbarst zu überreichen.
Er machte seine schönste Verbeugung vor der Tante, der er die Blumen entgegenhielt.
Für mich! rief sie. Das ist aber wirklich zu liebenswürdig! Diese wundervollen Rosen!
Hildebrand küßte die Hand, die sie ihm dankend reichte, und sagte: Nun will ich mich aber schleunigst empfehlen. Sie sind heute leidend, Herr Oberregierungsrat, wie ich zu meinem Bedauern gehört habe, und ich würde nie daran gedacht haben, Sie zu belästigen, wenn die Ereignisse mich nicht hier herein geführt hätten. Ich empfehle mich Ihnen und wünsche von Herzen gute Besserung. Hoffentlich sind Sie mir nicht gar zu böse.
Ich glaube, ich habe Ihnen dankbar zu sein, entgegnete Bornträger mit einem Blick auf Marion und reichte ihm die Hand.
Noch ein paar gegenseitige Höflichkeiten, dann verschwand Hans, von Marion geleitet, in der Tür zum Salon. Die Tante sah die Rosen an, lächelte, blickte nach der Tür und sagte: Du, Franz, die Rosen sind eigentlich gar nicht für mich. So klug bin ich auch noch, daß ich das merke. Ich glaube, dieser Herr von Hildebrand will Marion heiraten.
Wenn das der Himmel gäbe! rief ihr Bruder und schaute demutsvoll bittend nach oben.