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Frau Kommissär Niemann war eine sparsame, tugendhafte und fromme Frau. Sie sparte, wo sie konnte, besonders am Taschengeld ihres Mannes, wandelte, da sie durch ihr Aussehen vor jeder Versuchung geschützt war, unweigerlich auf den Pfaden der Tugend und ging regelmäßig an jedem Sonntag zur Kirche. Bei diesen Gelegenheiten trug sie ein schönes Kleid von schwerer schwarzer Seide, das die gestorbene Tante ihr vererbt hatte – gekauft würde sie sich's niemals haben – und von dem sie mit Bestimmtheit wußte, daß es die Herzen ihrer schlechter gekleideten Kolleginnen zu wildem Neid entflammte. Im Kreuzfeuer all der neidischen Blicke hörte sie dann voll tiefer Andacht eine Predigt über christliche Nächstenliebe oder ähnliche gute Dinge und verbot hinterher, um den Feiertag zu heiligen, ihrem Manne die Zigarre, die er nach Tische zu rauchen pflegte.
So vortrefflich diese Eigenschaften ohne Frage waren, so mußte der Herr Kommissär doch bei der plötzlich über ihn hereingebrochenen Katastrophe die Erfahrung machen, daß Tugend und Sparsamkeit im Verein recht unangenehm werden können. Stilkes Entdeckung hatte zunächst auf ihn wie ein Schlag vor den Kopf gewirkt. Dann war ihm die Besinnung soweit wiedergekommen, um sich zu sagen, daß es die Hauptsache sei, etwas Zeit zu gewinnen. So nur war es möglich, den Verdacht zu entkräften, der durch die unerklärte Spur der eigenen Stiefel so nachdrücklich auf ihn selbst hingewälzt wurde. Niemann hatte daher die Würde eines gestrengen Vorgesetzten dem Ueberbringer der bestürzenden Kunde gegenüber wieder hervorgesucht und in gewohntem dienstlichem Tone zu Stilke gesagt: Sie wissen, der Instanzenweg muß innegehalten werden; ich selbst werde an geeigneter Stelle von Ihrer Entdeckung Mitteilung machen. Stilke hatte sich vorschriftsmäßig in diese Anordnung gefügt und war wortlos von der Bildfläche verschwunden.
Auf der Bildfläche waren dann aber der Kommissär und seine Gattin zurückgeblieben, und er hatte sie zunächst mit einem Regen von Fragen überschüttet, ob und wie es möglich gewesen sei, daß irgend jemand in die Wohnung hineingekommen sein könne, um hier die Stiefel zu so schändlichem Frevel zu entwenden. Doch ergaben die beängstigend zurückhaltenden und kalten Antworten der Frau Kommissär dafür keinerlei Anhalt. Sauber geputzt, ohne Spuren von Staub und Schmutz hatte sie die Stiefel heute hinter dem Vorhang im Schlafzimmer hervorgeholt, wo sie zusammen mit den übrigen Fußbekleidungen aufbewahrt zu werden pflegten.
Dieser kriminelle Teil der Unterredung war also resultatlos verlaufen, und nun war eine intimere kleine Familienszene gefolgt, bei der Tugend und Sparsamkeit als Hauptrequisiten dienten. Sie hatte damit begonnen, daß Niemann ein paar Minuten lang stumm gestikulierend im Zimmer umhergelaufen war, während seine Frau sich in kühler Haltung auf einen Stuhl setzte. Hatte sie sich im ersten Eifer auch zu dem Ausrufe »Du Lump!« hinreißen lassen, so war sie sich ihrer gern gerühmten Bildung jetzt wieder voll bewußt.
In seinem stummen Gedankengange bewies der Polizeikommissär, daß auch er nur ein Mensch sei. Er war verdächtigt, er mußte sich frei machen von diesem Verdachte. Das war der Gedanke, der ihn allein beschäftigte, und eine heiße Angst packte ihn dabei mit würgenden Händen. Wo aber lag der Weg zu diesem Ziele? Mit Schrecken empfand er, daß die gewohnte, von ihm selber so hoch geschätzte Fähigkeit logischen Folgerns versagen wollte, seit er persönlich in Frage kam. Was war zu tun – was war zu tun? Er faßte sich gewaltsam, er besann sich. Seine Stiefel nannten ihn schuldig, sie mußten Lügen gestraft werden. Das war am besten möglich, wenn er sein Alibi beweisen konnte. Das beschworene Zeugnis einer zweiten Person war nötig, um ihn zu entlasten, und diese zweite Person saß im Augenblick vor ihm. Sie hatte, um keine Minute ungenutzt vorübergehen zu lassen, jetzt ein Strickzeug hervorgeholt und klapperte geschäftig mit den silberblitzenden Nadeln. Es galt, sie für Ablegung jenes Zeugnisses zu gewinnen.
Der Kommissär räusperte sich und ging zum Angriff auf die Festung über, deren guter Verteidigungszustand aus ihrer Haltung bereits zu erkennen war. Das versteht sich doch von selbst, daß du an den Unsinn nicht glaubst? Er tat seine Frage mit ein wenig bebender Stimme.
Welchen Unsinn? Die Antwort klang, als wenn die beiden Worte von einer längeren Kette gewaltsam abgehackt würden.
Na, den mit den Stiefeln natürlich. Das heißt, meine Stiefel sind es ja, das ist nicht zu leugnen. Aber daß ich selbst sie damals angehabt habe, und daß ich in der fraglichen Nacht –
Ich habe noch niemals gehört, daß Stiefel alleine spazieren gehen.
Aber du weißt ganz gut, daß ich sie nie mehr getragen habe. Weil sie mir ja zu unbequem waren wegen dieses Flickens unter der Sohle. Da kannst du doch nicht glauben, daß ich bei nachtschlafender Zeit in fremden Gärten damit herumgelaufen bin?
Warum nicht? Die Festung eröffnete ihr Feuer; der erste Schuß erfolgte mit unangenehmer Sicherheit.
Du fragst: warum nicht? Ebenso gut kann ich fragen: warum? Warum sollte ich mich hier von dir fortgestohlen haben und auf Abenteuer ausgegangen sein? Gibt es dafür irgend welche Wahrscheinlichkeit, gibt es dafür irgend welchen Beweis?
Ich dächte wohl.
Wieso denn, wieso?
Die große Kanone feuerte einen Schuß ins Ziel: weil mir die drei Mark fünfundsiebzig fehlen.
Ach, laß mich endlich in Frieden mit deinen drei Mark fünfundsiebzig! Hundertmal habe ich dir schon gesagt, daß ich nichts davon weiß. Du wirst sie verloren haben, du wirst vergessen haben, sie anzuschreiben, bring mir nicht wieder diesen Dreck daher, wo sich's um so viel wichtigere Dinge handelt.
Er war zornig geworden, mußte jedoch gleich die Erfahrung machen, daß Zorn bei solchen Debatten sehr schädlich ist. Seine Gattin reckte sich auf ihrem Stuhl in die Höhe. Drei Mark fünfundsiebzig sind kein Dreck. Du weißt auch, daß ich niemals etwas verliere und niemals vergesse, etwas anzuschreiben, wenn du aber so giftig wirst, ist es mir nur noch wahrscheinlicher, daß du die drei Mark fünfundsiebzig heimlich in deinen geflickten Stiefeln verjubelt hast.
Niemann bereute, was er gesagt hatte, und griff in seiner Not zur Zärtlichkeit, was im Laufe der Jahre in dieser Ehe, wie vielleicht auch in mancher anderen, leider immer seltener geworden war. Er trat nahe hinzu und versuchte, die Festung in seine Umarmung zu ziehen, kam jedoch über die Wallgräben nicht hinaus. Aber Fränzchen, wie kannst du nur so etwas sagen! wenn ich in jener Nacht fort gewesen wäre, so müßtest du doch die erste sein, die davon wüßte. Du müßtest es doch gehört haben, wenn ich heimlich aufgestanden wäre –
Bitte sehr, davon brauchte ich noch gar nichts gehört zu haben. Du weißt es gut genug, daß ich einen festen Schlaf habe. Du hast schon häufig davon profitiert, wenn du spät nach Hause gekommen bist, und ich habe nachher nicht gewußt, wann es gewesen ist.
Aber dies ist doch etwas ganz anderes!
O nein. Warum solltest du nicht ebensogut leise aufgestanden sein und in der Eile die falschen Stiefel angezogen haben und heimlich fortgegangen sein? So kann ich mir das mit den Stiefeln sogar sehr gut erklären.
Aber ich habe die Stiefel doch gar nicht angehabt! Niemann rief es im Tone aufrichtiger Verzweiflung. Ihm war siedeheiß geworden bei der starren Unerbittlichkeit seiner Ehehälfte, die jetzt, in Schweigen verharrend, seinen letzten Ausruf überhaupt keiner Entgegnung würdigte. Leise tastend begann er eine neue Politik. Sieh, Fränzchen, wie wär's denn, wenn ich dir die drei Mark fünfundsiebzig ersetzte? Wo sie geblieben sind, weiß ich wahrhaftig nicht, aber du sollst nicht zu Schaden kommen. Ich gebe dir das Geld.
Er griff zur Bestätigung seiner Worte in die Tasche und zog das Portemonnaie verlockend hervor, doch schlug die Festung auch diesen Angriff ab. kaltherzig erwiderte die Unerbittliche: Du täuschest dich. Käuflich bin ich nicht. Und zu meinem Gelde komme ich sowieso. Es wird dir am Taschengeld abgezogen.
Langsam versank das Portemonnaie wieder in der Hosentasche des Kommissärs. Er fühlte sich immer hilfloser und verzweifelter; seine Gedanken begannen einen wilden Wirbeltanz. Mit einem letzten Versuch, das Mitleid seiner Gestrengen zu erwecken, begann er, ihr die möglichen Folgen der gegenwärtigen Situation auszumalen. Fränzchen, ich glaube, du machst dir nicht ganz klar, was diese Sache für mich bedeutet. Wenn ich mein Alibi für die fragliche Nacht nicht nachweisen kann, so bin ich sicher, in eine Untersuchung verwickelt zu werden, verstehst du?
O ja, ganz gut.
Es kann sogar dazu kommen, daß ich in Anklagezustand versetzt werde.
So?
Ich kann verurteilt werden, Fränzchen!
Wirklich?
Und du machst dir gar nichts daraus?
Bisher hatte die Sparsame gesprochen, jetzt nahm die Tugendhafte das Wort. Was du dir eingebrockt hast, mußt du auch ausessen, wer gefehlt hat, soll Strafe leiden. Wessen Fleisch sündigt, der soll gezüchtigt werden.
Fränzchen, Fränzchen, du weißt selber nicht, was du redest. An Kopf und Kragen kann es mir gehen, wenn ich mein Alibi und dadurch meine Unschuld nicht nachweise. Du aber bist die einzige, die mir bestätigen kann, daß ich in der fraglichen Nacht ruhig in meinem Bette geschlafen habe.
Seine Stimme bebte, doch ihr Herz bebte nicht. Bestätigen, sagst du? Wie kann ich bestätigen, was ich nicht weiß, und was ich nicht glaube? Nein, wer Unrecht tut, soll Recht leiden. Es steht geschrieben: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Und die drei Mark fünfundsiebzig hast du mir doch durchgebracht!
Der letzte Schuß der Belagerten. Sie war uneinnehmbar. Niemann sah es ein und gab seine Versuche auf, irgendwelchen Vorteil über sie zu erringen. Mit einem herzzerreißenden Seufzer begann er, vom triumphierenden Geklapper der Stricknadeln begleitet, seine stumme Wanderung durchs Zimmer aufs neue. Nein, hier war keine Hilfe. Die Hoffnung, sein Alibi nachweisen zu können, war zerstört. Seine tugendhafte Gattin gab ihn der Gerechtigkeit preis, wenn es ihm nicht gelang, sich vorher mit eigener Kraft aus dem ihn umstrickenden Netze zu befreien. Aber wie war das möglich? Er grübelte und wanderte, wanderte und grübelte. Und zuletzt stand es fest: nur wenn er den Verdacht von sich selbst auf einen anderen ablenken konnte, war er entlastet und befreit. Aber dazu waren bisher unbekannte Beweisstücke nötig – woher sie nehmen?
Eine Viertelstunde später stürmte der Kommissär in rasender Eile nach dem Grundstücke der Frau Negenborn, und als wiederum anderthalb Stunden das Zeitliche gesegnet hatten, stand er mit verwandeltem, aufgeregt freudigem Gesichte vor dem Untersuchungsrichter, Herrn Landgerichtsrat Mauerbrecher. Dieser empfing ihn mit gnädiger Freundlichkeit. Nun, mein lieber Niemann, was bringen Sie Neues? Ihr Gesicht sagt mir schon, daß es etwas Wichtiges ist. Setzen Sie sich, nehmen Sie eine Zigarre.
Niemann gehorchte der zwiefachen Aufforderung und begann zu berichten. Herr Landgerichtsrat vermuten ganz richtig, daß ich etwas Wichtiges bringe. Es ist mir gelungen, zu dem Fund auf dem Negenbornschen Grundstück eine neue Entdeckung von Bedeutung zu machen.
Das ist ja interessant, worin besteht sie? Schießen Sie los.
Das ganze Grundstück ist, wie Herr Landgerichtsrat wissen, bereits wiederholt durchsucht worden. Trotzdem ließ es mir keine Ruhe; ich hatte immer das Gefühl, es müßte doch noch irgend eine Spur zu finden sein, die zur Aufklärung des Verbrechens führen könnte. Da bin ich denn heute noch einmal ganz allein losgegangen und habe das Haus und das Grundstück aufs neue durchsucht. Und ich habe etwas Merkwürdiges gefunden.
Im Haus und im Garten war alles vergeblich. Zuletzt bin ich dann aber noch einmal in den kleinen Stall gegangen, der an das Haus angebaut ist, – Herr Landgerichtsrat werden sich erinnern.
Gewiß, gewiß. Und dort?
Auch der Stall war schon in meiner Gegenwart ein paarmal durchsucht worden. Aber doch wohl nicht gründlich genug. Wir hatten den inneren Räumen des Hauses bisher immer das größte Gewicht beigelegt. Jetzt nahm ich den Stall noch einmal nach meiner Methode vor.
Nach Ihrer Methode – ich weiß, ich weiß. Der Herr Landgerichtsrat geruhten, ein wenig zu lächeln bei diesen Worten.
Allerdings. Ich arbeite dabei viel mit der Lupe. Der Kalkverputz der einen Wand gab mir zu denken. Der Stall ist längere Zeit nicht mehr benutzt worden; die Frau Negenborn war zu bequem geworden, um sich Vieh zu halten. Dort an der Wand aber zeigte sich mir bei meiner, wie ich wohl sagen kann, sehr sorgfältigen Untersuchung eine Stelle, die sich von ihrer Umgebung unterschied. Es war, als wenn die oberste Schicht von Staub und Kalk abgestreift worden wäre, vielleicht mit einem Rockärmel. Indem ich besagter Annahme folgte, kam ich zum Ziel. Die Abstreifung war möglicherweise geschehen, indem dort etwas versteckt worden war. Also ich suchte. Zuerst vergeblich. Die Raufe unter der Stelle war leer. Aber ich ließ nicht nach. Und zuletzt war ich so glücklich, etwas zu finden, Herr Landgerichtsrat.
Das ist ja famos. Lassen Sie hören.
Nicht in der Raufe, sondern hinter der Raufe. In einem schmalen Spalt zwischen ihr und der Wand war versteckt, was ich die Ehre habe, dem Herrn Untersuchungsrichter hiemit zu übergeben.
Er war mit Elan aufgestanden und überreichte in militärisch-feierlicher Haltung dem Landgerichtsrat ein an sich außerordentlich unscheinbares Ding. Es war ein zusammengewickeltes Stück Zeitungspapier von geringer Größe mit unregelmäßig abgerissenen Rändern.
Ein Fetzen Papier? fragte der Untersuchungsrichter ein wenig enttäuscht.
Bitte sehr, es ist etwas darin eingewickelt und außerdem ein sehr vielsagender Artikel mit Bleistift bezeichnet.
Das ist etwas anderes. Lassen Sie sehen.
Der Landgerichtsrat wickelte das Papier vorsichtig auseinander, und ein Büschel von gelblichbraunen Haaren wurde sichtbar.
Sind das Menschenhaare?
Ich glaube kaum, Herr Landgerichtsrat. Ich habe mir die Frage auch schon vorgelegt, bin aber zu einer verneinenden Antwort gekommen. Mir scheinen die Haare weit eher von irgend einem Tiere zu stammen.
Kann sein, wenn ich auch vorläufig nicht weiß, was das bedeuten soll. Aber sehen wir weiter. Der angestrichene Artikel bildet einen Absatz der Gerichtszeitung und lautet – Sie haben ihn zweifellos bereits gelesen, aber es kann nicht schaden, wenn Sie ihn noch einmal hören. Also: »In das geheimnisvolle Verbrechen in der Neckarstraße scheint allmählich etwas Licht zu kommen. Die Marie Bergmüller hat ein teilweises Geständnis abgelegt. Danach hat sie das Kind, angeblich nur, um es vor ihrer Dienstherrschaft zu verbergen, kurz nach der Geburt heimlich in die Wohnung ihres Geliebten, eines Metzgerburschen, getragen. Am nächsten Tage hat dieser ihr die Nachricht gebracht, das Kind sei plötzlich gestorben, und er habe für ein spurloses Verschwinden der kleinen Leiche Sorge getragen. Auf welche Weise dies erfolgt sei, will die Bergmüller nicht wissen, auch hat sie sich hartnäckig geweigert, ihren Geliebten zu nennen. Trotzdem ist es der Polizei gelungen, ihn auf Grund eines Briefes in der Person des Wielandstr. 4 beschäftigten Metzgerburschen Hans Ungewitter zu ermitteln. Er verlegt sich auf hartnäckiges Leugnen und will über den Verbleib des Kindes nicht das mindeste wissen. Trotzdem glaubt man in ihm den Hauptverbrecher gefaßt zu haben. Wie er die Leiche beseitigt hat, weiß man allerdings noch nicht bestimmt. Die Polizei hegt auf Grund der aufgefundenen, angebrannten Knochenteile die Ansicht, die Leiche sei zuerst zerstückelt und dann durch Ungewitter verbrannt worden.«
Der Landgerichtsrat versank in sinnendes Schweigen und betrachtete das Zeitungspapier mit Aufmerksamkeit, um dem Resultat seines Nachdenkens demnächst in den Worten Ausdruck zu geben: Dies Blatt stammt von einer Nummer des »Berliner Tageblattes«; ich kenne Druck und Papier genau. Zum Ueberfluß ist hier auch noch ein Stückchen vom Titel und das Datum, sechsundzwanzigster März, erhalten geblieben. Die Nummer ist also kurze Zeit vor dem hier begangenen Verbrechen erschienen und hat nach meiner Ansicht dazu gedient, um dem Verbrecherpaare den Weg zu weisen, den es dann gegangen ist. Bei der Frau Negenborn hat das verführte Mädchen verkehrt; an einem ihr allein bekannten Orte – dort in dem unbenutzten Stalle – hat ihr Geliebter diese Botschaft für sie deponiert, um ihr anzuzeigen, auf welche Weise das Kind aus der Welt verschwinden sollte. Die beigefügten Haare können, besonders dann, wenn sie von einem Tiere stammen, auf das Metier des Verbrechers hinweisen, eine Art Visitenkarte für ihn bedeuten. So stellt sich mir die Sachlage auf den ersten Augenschein dar. Einiges bleibt allerdings noch dunkel, besonders der Umstand, daß dieses leicht zu vernichtende Papier mit seinem Inhalte dort verborgen geblieben ist, aber ich denke, auch das wird sich noch aufklären lassen.
Je mehr er sprach, desto salbungsvoller wurde sein Ton; in leuchtender Selbstgefälligkeit saß er vor dem Kommissär. Dieser machte die zustimmenden Kopfbewegungen, die dem wohlerzogenen Beamten Höhergestellten gegenüber zukommen, in ansehnlicher Zahl und mit schöner Lebhaftigkeit. Jetzt brach er in die begeisterten Worte aus: Herr Landgerichtsrat haben ohne Zweifel den Nagel auf den Kopf getroffen. Auf diese Weise kommt erwünschte Klarheit in eine dunkle Sache, und ich bin froh, durch meinen Fund etwas dazu beigetragen zu haben. Niemann sprach selten mit solcher Bescheidenheit, aber die Verhältnisse nötigten ihn heute zu dieser empfehlenswerten Charaktereigenschaft; denn der schwerste Teil seiner Mitteilungen stand ihm noch bevor. Mauerbrecher vermochte ein behagliches Schmunzeln nicht ganz zu unterdrücken, sah dann aber an einem gewissen Zögern des Kriminalbeamten, daß dieser mit seiner Aussage noch nicht ganz zu Ende war, und fragte väterlich: Haben Sie noch etwas auf dem Herzen, mein lieber Niemann?
Jawohl, Herr Landgerichtsrat, ich hätte noch etwas zu deponieren. Das heißt, eigentlich – es ist eine tolle Sache – ich weiß nicht, ob es sich überhaupt lohnt, ein Wort darüber zu verlieren – es geht nämlich gewissermaßen mich selber an.
Sie selbst, wieso?
Ja, man hat noch etwas – der Schutzmann Stilke nämlich – Herr Landgerichtsrat werden sich des Mannes erinnern – er will – er hat auch noch etwas entdeckt.
In dieser Sache? Und was Sie selber angeht? Ich verstehe Sie nicht; sprechen Sie deutlicher.
Jawohl, Herr Landgerichtsrat, ich will deutlich sprechen, ganz deutlich, sagte Niemann mit männlichem Entschluß und brachte nun mit Räuspern, Stottern und Würgen die trübe Geschichte von der mit seinen eigenen Stiefeln übereinstimmenden Spur mühevoll heraus. Es war ein bemerkenswerter Anblick, wie unter seinen Worten der Sonnenschein der Herablassung und Bonhomie aus dem Gesichte des Untersuchungsrichters mehr und mehr verschwand, wie dessen Züge, nach und nach erstarrend, einem Versteinerungsprozeß unterlagen, und wie diese Versteinerung vom Kopf auf die ganze Figur des Herrn Landgerichtsrats überging. Als Niemann zu Ende war, gehörte der Untersuchungsrichter der Tertiärperiode an.
Auffallenderweise war ihm jedoch die Sprache geblieben, nur hatte auch sie eine steinerne Kälte gewonnen: Und diese Mitteilung machen Sie mir erst jetzt, Herr Kommissär? Ich muß mich sehr darüber wundern. Zeitlich sowohl, wie nach ihrer Wichtigkeit hätte sie an die erste Stelle gehört. Haben Sie sich das nicht selbst gesagt, als alter Kriminalist?
Ich dachte – ich meinte – ich wußte doch –
Sie wußten, daß wir mit Anspannung aller Kräfte danach suchten, den Urheber jener männlichen Spur im Garten der Frau Negenborn zu ermitteln. Und Sie melden mir nicht sofort, welch eine Entdeckung in dieser Hinsicht gemacht worden ist! Ja, wann haben Sie selber denn von dem Schutzmann Stilke die Mitteilung erhalten?
Vor drei Stunden ungefähr.
Und wann haben Sie dies Papier da gefunden?
Vor einer Stunde.
War jemand bei Ihnen, haben Sie einen Zeugen?
Um Gotteswillen, Herr Landgerichtsrat, Sie werden doch nicht etwa denken –
Haben Sie einen Zeugen?
Nein, einen Zeugen habe ich nicht. Ich war allein im Stalle.
Wissen Sie auch, daß dies eine höchst unangenehme Sache für Sie ist?
Allerdings – in gewisser Weise – aber Herr Landgerichtsrat werden doch nicht glauben –
Ich sage nicht, was ich glaube. Sie selbst sind gewiegter Kriminalist genug, um sich klar zu machen, welche Folgerungen man aus den vorliegenden Tatsachen ziehen könnte.
Ziehen könnte –? stammelte Niemann im Tone der Frage.
Vor drei Stunden erhalten Sie den Beweis von der Uebereinstimmung jener Stiefelspuren mit Ihren eigenen Stiefeln; zwei Stunden später finden Sie angeblich – angeblich diesen merkwürdigen Gegenstand, der möglicherweise auf eine neue Spur hinweisen könnte. Wie gesagt, Sie werden imstande sein, die nötigen Folgerungen selbst zu ziehen.
Aber was Sie da andeuten, Herr Landgerichtsrat, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!
Ihre Stiefel sind in der Nacht vom sechsten zum siebten April im Garten der Frau Negenborn gewesen; beweisen Sie, daß Sie damals nicht in Ihren Stiefeln gesteckt haben.
Wie soll ich das machen?
Wo haben Sie sich aufgehalten in der fraglichen Nacht? Können Sie ein Alibi nachweisen?
Zu Hause bin ich gewesen, ganz ruhig zu Hause.
Nun, Sie sind doch verheiratet. Ihre Frau muß dann bezeugen können, daß Sie zu Hause waren.
Meine Frau – ach, Herr Landgerichtsrat, das ist es ja eben: meine Frau verweigert mir ihr Zeugnis.
Ah! Das tut mir leid, für Sie tut es mir leid. Ich denke, wir haben einander nichts mehr zu sagen.
Als dieser Gipfel des Mißgeschicks erreicht worden war, fand Niemann, sich mit fast übermenschlicher Anstrengung zusammenraffend, die männliche Fassung wieder, die ihm in den letzten Minuten völlig abhanden gekommen war. Sich straff militärisch aufrichtend und vor Mauerbrecher hintretend sprach er die Worte: Herr Landgerichtsrat werden in dieser Sache Ihre Pflicht tun, wie ich die meinige getan habe. Daß dies viele Jahre hindurch getreulich geschehen ist, wird jeder meiner Vorgesetzten mir bezeugen müssen. Auch im vorliegenden Falle bin ich vom Wege der Pflicht und des Rechten um keinen Finger breit abgewichen. Dies Bewußtsein hat mich heute hierher geführt. Oder glauben Herr Landgerichtsrat nicht selbst, ich hätte Zeit genug gehabt, mich in Sicherheit zu bringen, wenn ich mir irgend welcher Schuld bewußt gewesen wäre?
Ein leichter Tauwind ging über das vereiste Gesicht des Herrn Untersuchungsrichters dahin. Der Logik in den Worten des Kommissärs vermochte sein Verstand sich so wenig zu entziehen, wie sein Herz von dem Ausdruck echter Wahrhaftigkeit in dessen Stimme ganz ungerührt bleiben konnte. Auch war er gerecht genug, dieser Stimmung wenigstens andeutungsweise Ausdruck zu geben, als er jetzt nach einigem Zögern entgegnete: Ich will nicht bestreiten, Herr Kommissär, daß Ihnen im allgemeinen bisher ein erfreulicher Pflichteifer nachzurühmen war. Ihre weitere Teilnahme an der Untersuchung im vorliegenden Falle muß aber selbstverständlich ausgeschlossen sein. Ich werde bei der königlichen Polizeidirektion beantragen, daß einer der anderen Beamten damit beauftragt wird.
Niemann war entlassen. Seines Amtes im langersehnten Kriminalfall enthoben, schritt er als ein total geknickter Mann die Treppe hinunter. Der Körper schlitterte nicht mehr wie sonst beim Gehen unter der Energie der Bewegung, der ehemals hoch erhobene Kopf war gebeugt und die Blicke suchten ängstlich den Boden.
Auf Umwegen ging er durch abgelegene Straßen nach Hause und wich schon von weitem den Schutzleuten aus, denen er begegnete. In tiefster Hoffnungslosigkeit betrat er zuletzt seine Wohnung, aber ein heißes Bedürfnis nach Verständnis und Trost veranlaßte ihn doch, seiner Gattin, die wieder mit klirrendem Strickzeuge dasaß, das gequälte Herz auszuschütten. Alles, was ihm zugestoßen war in den letzten bösen Stunden, vertraute Niemann der tugendhaften Genossin seines Lebens in fliegender, atemloser, abgebrochener Rede an, doch war das Resultat kein erfreuliches. Nachdem er sich alles vom Herzen heruntergesprochen hatte, musterte seine Gattin den unglücklichen Schatten ihres früheren Ehemannes ein paar Sekunden lang mit einem Gesichte, das dem des versteinerten Untersuchungsrichters im Augenblick ungeheuer ähnlich war, und sagte: Ich erlaube mir kein Urteil in dieser Kriminalangelegenheit. Wo du damals gewesen bist und was du getan hast, wirst du selbst am besten wissen. Aber wenn es nötig ist, nimm dein Kreuz auf dich, Heinrich.
Mit einem wild hinausgeschrienen »Kreuzmillionendonnerwetter!« verließ der entthronte Kommissär aufs neue den heimischen Herd.