Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Viertes Buch
Das Kind

Erstes Kapitel

Für Rosa begann jetzt ein wunderliches Pflanzenleben. Einem Gedanken zu folgen, sich einer Träumerei hinzugeben, wie sie es sonst wohl liebte, vermochte sie nicht mehr. Sie konnte nur still daliegen und in sich hineinhorchen. In ihrem Kasten hatte sie eine Flasche Rosenessenz entdeckt, die Ambrosius ihr einst verehrt hatte. Er liebte diesen Duft. Alles an ihm, sein Haar, sein Schnurrbart, seine Kleider dufteten nach Rosenessenz. Jetzt, als Rosa die Flasche fand, brachte dieser Duft ihr die alten Erinnerungen mit erschreckender Deutlichkeit wieder. Angewidert von den aufsteigenden Bildern, warf sie die Flasche beiseite und ging in den Garten hinab. Dort lag sie im Sonnenschein auf der Schaukelbank und starrte mit halbgeschlossenen Augen zum Himmel auf. Nach kurzer Zeit jedoch erfaßte sie ein quälendes Verlangen nach dem schwülen Duft der Rosenessenz; er war ihr zuwider, und dennoch!... Sie mußte wieder zu ihrer Kammer hinaufsteigen, die Türe schließen, als hätte sie etwas Unerlaubtes vor, und sich an dem süßen Duft berauschen, bis der Ekel ihr die Kehle zuschnürte und sie die Flasche übersatt fortwarf.

Dieses rein leibliche Leben, in das Rosa versank, bedrückte sie zuweilen; die Zeit wurde ihr lang. Sie mußte beständig auf die Mahlzeiten warten, ins Haus hinüberhorchen, ob Grethe nicht schon mit den Tellern klapperte, mußte nach der Uhr sehen, ob es nicht Schlafenszeit sei, und mißlang eine Speise, auf die sie sich gefreut hatte, oder störte jemand ihre Bequemlichkeit, dann konnte sie vor Zorn weinen, als sei ihr schweres Unrecht zugefügt worden. Außer ihrem körperlichen Zustande verlor alles für Rosa an Interesse. Die Natur zwang sie, nur ihrer Frauenpflicht zu leben, nur des zukünftigen Kindes wegen da zu sein. In manchen Augenblicken ahnte Rosa das Geheimnis, das einen so großen Wandel über Geist und Körper brachte. Sie staunte darüber, und ihr ward ein wenig bang. Es war zu fremd und unbehaglich, sich selbst nicht mehr ganz anzugehören.

In einer Nacht – Ende Juni – fühlte Rosa heftige Schmerzen und rief nach Hilfe. Frau Böhk ward geholt, und diese sagte munter, als sie Rosa sah: »An die Arbeit – an die Arbeit.«

Viele Stunden hindurch quälte sich Rosa. Bewußtlos vor Schmerz, hatte sie stets das Gefühl, als müßte sie eine schwere Last mit aller Anstrengung weiterschieben; dann plötzlich verließen sie die Kräfte, eine große Ruhe kam über sie, und regungslos lag sie da. Sie hörte, wie man um sie flüsterte, leise ab und zu ging. Wenn sie die schweren Augenlider halb emporhob, sah sie die Dämmerung des Krankenzimmers von grellen Lichtstreifen durchzogen. Im fieberhaften Halbschlummer suchte sie diese Erscheinung zu ergründen, mühte ihren armen, schmerzenden Kopf mit der Frage ab: Wo kommen die Lichtstreifen her? Endlich fand sie die Energie, die Augen vollends aufzuschlagen, Nun erkannte sie, daß das Fenster mit Tüchern verhangen war und das Tageslicht sich zwischen denselben hindurchstahl. Ja – auch die Gegenstände im Zimmer unterschied sie jetzt deutlich. Dort – in der Ecke – saß jemand, eine kleine schwarze Gestalt. Ah, das war die Leb. Sie schlummerte, den Kopf zurückgebogen; ein Sonnenstrahl traf ihre flachen, rotbraunen Haarbänder an den Schläfen und die rotgeränderten, faltigen Augenlider. Ja – das war die Leb, denn Frau Böhk war so beschäftigt, daß sie ihre Kranken oft verlassen mußte; dieser Satz klang Rosa noch von der Krebspartie her in den Ohren.

Neben Rosas Bett standen zwei Stühle dicht beieinander; ein Polster lag auf ihnen, Leinzeug und ein dichter weißer Schleier, der etwas bedeckte. Rosa blickte scharf hin. Was war das? Am Ende...! Freilich, irgendwo mußte ja doch ein Kind sein, das war klar. Gern hätte sie den Schleier fortgezogen; sie wagte es jedoch nicht. Sie wartete; wird es sich regen?

Sehr still war es im Krankenzimmer, nur Frau Leb stieß zuweilen einen leisen Kehllaut aus.

Den Kopf gehoben, die Augen sehr groß in dem bleichen Gesicht, beobachtete Rosa das weiße Paket nebenan. Jetzt hatte sie einen Ton vernommen. Sie beugte sich vor. Eine zarte Röte überflog ihr Gesicht, und wie erschrocken öffnete sie die Lippen. Da war er wieder, dieser Ton! Ganz fein, ein wenig knarrend; wie der Laut, den manche Puppen von sich geben, wenn man sie drückt. Was sollte Rosa beginnen? Die Leb schlief. Etwas mußte aber doch geschehen! Wenn man wimmert, so bedarf man der Hilfe, nicht wahr? Rosa streckte die Hand aus und blickte scheu zur Leb hinüber. Die Hand, während sie den Schleier faßte, zitterte. doch zog sie ihn entschlossen herab.

Auf dem Polster lag ein winziges rotes, faltiges Gesicht, aber unzweifelhaft ein Gesicht: Da war eine Nase, ein Mund, eine Stirn, über die sorgenvolle Furchen hinliefen, Augenlider, so durchsichtig und geädert wie bei jungen Vögeln, die Augenlider zuckten, hoben sich – und ließen zwei blanke, runde Punkte sehen. Der Mund, der wie ein winziges Tröpfchen roter Farbe unter der Nase saß, verzog sich, öffnete sich und stieß wieder den knarrenden Puppenlaut aus. Rosa erschrak: Warum weinte es? Was sollte sie tun? Ach Gott, erwachte doch die Leb! »Frau Leb, Frau Leb!« Vergebens! Rosa sank in ihre Kissen zurück und weinte auch; sie wußte sich nicht anders zu helfen.

Das Wimmern des Kindes mußte doch bis zur Frau Leb gedrungen sein, denn diese erwachte plötzlich, eilte zum Kinde, sprach leise mit ihm, rückte es zurecht und gab ihm etwas zu trinken. Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie, daß Rosa wach dalag. Sie lächelte ihr zu: »Guten Tag, Fräulein! Aber Sie weinen ja?«

»Oh, es ist nichts!« erwiderte Rosa befangen, »das – das Kleine weinte, und ich wußte nicht, was ich tun sollte.«

»Hat man so etwas gesehen?« lachte die Leb in sich hinein, »über so etwas zu weinen! Lassen Sie das Kind nur schreien, das ist ihm gesund, das ist seine Arbeit. Solch ein Wurm will auch zeigen, daß er lebt. Also – betrachtet haben Sie's schon? Das ist gut! Ein ganz fehlerloser Bub, nicht? Ein wenig klein und leicht, aber solche kommen oft besser fort als die dicken und schweren, da kann man schon gratulieren. Bei einer ersten Niederkunft geht's nicht immer so glatt ab. Wollen Sie das Kind nehmen?«

»Nein – ich danke«, versetzte Rosa zögernd, »schlafen möchte ich.«

»Freilich!« meinte die Leb, »ein Kind in die Welt setzen ist keine Kleinigkeit. Wenn die Männer über schwere Arbeit klagen, sag ich immer: Ihr solltet ein Kind zur Welt bringen, da würdet ihr wissen, was Arbeit heißt; das ist schwerer als Holz spalten und pflügen. Nun, schlafen Sie, mein Engelchen!«

Rosa schloß die Augen und sagte leise: »Bitte, Frau Leb, schieben Sie die Stühle näher an mein Bett«, und als die Frau Leb die Stühle mit dem Kinde näher an das Bett gerückt hatte, lächelte Rosa und meinte: »So ist es gut. danke, Frau Leb.«

Die Schwäche in allen Gliedern brachte einen wohligen Frieden über sie und einen süßen, traumlosen Schlummer. Die Leb setzte sich mit ihrem Strickstrumpf an das Fenster, und tiefe Ruhe herrschte wieder im Krankenzimmer.


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