Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Viertes Kapitel

Lurch blieb noch eine Weile dort unten am Wege liegen – ein dunkles, regungsloses Paket. Endlich belebte der scharfe Wind seine Lebensgeister; er fror und richtete sich auf. Das Gehen wollte nicht sogleich gelingen, das rechte Bein schmerzte. Liebevoll betastete Lurch seine Glieder, um zu untersuchen, wie groß der angerichtete Schaden sei. Er mußte nicht bedeutend sein, denn Lurch wandte sein Gesicht ernst dem Monde zu und sprach laut vor sich hin: »Lurch ist heil«, dann machte er sich mühsam auf den Heimweg.

Nach dem heftigen Leidenschaftssturm, der ihn bewegt hatte, fühlte er sich beruhigt und ernüchtert. Er sprach wohl halblaut mit sich selbst, aber in seiner sanften, bescheidenen Weise, als verkehrte er mit einem Kunden im Geschäft. Dabei reinigte er peinlich und genau seinen Überrock. »Das ging nicht. Nein! Das ging gar nicht. Wie sollte es auch? Ich hätte es nicht glauben sollen. Nun ist's aus. Natürlich, was kann denn jetzt noch kommen? Natürlich.«

Lurch wohnte an dem Kirchenplatz in einem hohen, schmalen Hause. Vier Treppen hoch hatte er für sich und seine Mutter zwei Zimmer und eine Küche gemietet, und diese waren der Schauplatz seiner zarten, kindlichen Sorgfalt. Er liebte seine Mutter, er entsann sich kaum einer Zeit, da er nicht für die alte Frau zu sorgen gehabt hätte. Ihr eine ruhige Existenz sichern war stets die Hauptaufgabe seines Lebens gewesen. Erst als er zu glauben begann, seine Liebe zu Rosa sei nicht ganz hoffnungslos, erst da dachte er an die Möglichkeit, sich von seiner Mutter zu trennen. Wenn Rosa es verlangte, mußte es geschehen, natürlich, aber es würde doch hart für die alte Frau sein!

Mit schweren Schritten stieg Lurch die finsteren Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Das erste Zimmer war leer. Ein Lichtschein vom Nachbarfenster fiel in das zweite Zimmer auf das Bett der alten Frau, und Lurch sah, wie jeden Abend, wenn er heimkam, die große weiße Haube schon auf dem Kopfkissen liegen. Sonst pflegte er wohl noch eine Weile auf dem Bett der alten Frau zu sitzen und zu plaudern. Er liebte es, wenn seine Mutter ihre welken Hände auf sein Knie legte und ihn mit matter, schläfriger Stimme über die kleinen Ereignisse des Tages ausfragte. »Wie hoch war die Tageslosung im Geschäft? Wen hast du auf der Straße gesehen?« Und die stets wiederkehrende Frage der letzten Zeit war gewesen: »Hast du Rosa Herz gesehen?« Wenn endlich der Schlaf die alte Frau übermannte, stand Conrad Lurch auf, steckte im Nebenzimmer die Lampe an, verzehrte flüchtig – auf einer Tischecke – sein Nachtmahl und vertiefte sich in einen Roman. Diese stillen Nachtstunden, in denen die regelmäßigen Atemzüge der alten Frau und der Ton der Kirchenuhr allein die engen Räume belebten, diese Stunden waren die ereignisreichsten in Lurchs armem Leben. Den Kopf in die Hände gestützt, saß er oft ganze Nächte über einem Roman auf. Recht süße Erzählungen, in denen die Leute sich heiß liebten, in denen sie weinten, große, edle Gefühle aussprachen, waren ihm die liebsten. Tränen mußten ihm während des Lesens in den Augen brennen und die Hände kalt und kraftlos vor Erregung werden. Erst wenn ihn die Augen schmerzten, legte er das Buch fort und begab sich zur Ruhe, mit den Gedanken noch in der schönen, ereignisreichen Welt des Romans weilend. Und – wenn er so sinnend im Bette wachlag, das Gelesene immer wieder durchlebend, dann mischte sich unter die Personen der Erzählung ein junger Mann, von dem das Buch nichts wußte. Dieser junge Mann hatte lange Gespräche mit der Heldin – bezauberte sie durch seinen Edelmut. Es war eine Art Lurch – kein Zweifel! Und dennoch von Lanins dünnem Kommis sehr verschieden.

Heute ging Lurch nicht zu seiner Mutter hinüber, sondern stellte sich im ersten Zimmer an das Fenster und starrte auf den finstern Kirchenplatz hinab.

»Conni – bist du's?« fragte die Mutter.

»Ja – Mutter!« erwiderte er.

»Hast du die Lampe angesteckt?«

»Noch nicht.«

»Im Ofenrohr steht die Suppe.«

»Ja, Mutter, ich weiß es.«

»Gehst du heute zu Steining? Heute ist Samstag.«

»Vielleicht. Ja – ich – ich denke wohl.«

»Unterhalte dich gut, mein Kind.«

»Ja – Mutter. Gute Nacht!«

Die alte Frau wunderte sich darüber, daß Conni nicht zu ihr ans Bett kam. »Er hat wohl Eile fortzukommen«, dachte sie sich und schwieg. Er aber blickte noch immer in die Nacht hinaus.

Der Tod? Lurch hatte bisher nur deshalb zuweilen an ihn gedacht, weil die Mutter auf ihn wartete. An seinen eigenen Tod hatte er nie gedacht. Nun – plötzlich – kam dieser Gedanke – wie etwas Natürliches, wie der notwendige Abschluß einer Existenz, mit der Rosa sich nicht verbinden wollte... Je glücklich gewesen zu sein, entsann sich Lurch nicht. Vielleicht samstags, wenn er betrunken war? Doch, mein Gott, auch dann!... Sonst immer nur gedrücktes, freudloses Hinkriechen über das alltägliche Tagwerk – – bis die Liebe kam und sich in diesem leeren Dasein breitmachte, es gänzlich aufsog. Zur Qual aber wurde sie, als sie greifbare Gestalt annahm, als die Hoffnung aus ihr ein unwiderstehliches Begehren machte, das an Conrad Lurch nagte, ihn peinigte, wie Zahnweh. Jetzt, da Rosa für immer verloren war, mußte das Ende kommen. Nicht?

Leise ging er an den Schrank seiner Mutter und tastete, bis er das Schubfach fand, in dem die Andenken an den Vater lagen. Pfeifenköpfe, Federhalter, ein Geldbeutel, ein Rasiermesser – ja, das war's! Lurch steckte das Messer in die Tasche seines Überrockes. Nun hätte er gehen können, dennoch setzte er sich auf einen Stuhl. Vielleicht brauchte es nicht zu sein. Sein Blick fiel auf den Kopf seiner Mutter, der regungslos in den Kissen lag. Ja – die alte Frau, der wird es nahegehen. Wer wird morgen den Kaffee machen? Je nun, sie wird die Magd von gegenüber rufen. Aber zurechtstellen wollte er ihr alles. Er holte die Kaffeekanne, die Spirituslampe, das Geld für den Bäcker, daneben legte er den Schlüssel seines Schreibtisches. Dort konnte sie noch ein wenig Geld finden, das reichte wohl hin, bis die alte Frau sich an die Stadt um Versorgung wenden würde. Er trat an das Bett der Mutter und küßte behutsam die Spitze der Nachthaube. – Jetzt mußte er wirklich gehen, es war spät. Sachte stieg er die Treppe hinab.

Draußen wehte es ihm kalt entgegen. Er war müde, schläfrig, zerschlagen, darum eilte er, um endlich Ruhe zu haben. Da war die Konditorei! Hinter zugezogenen Vorhängen tobte der Gerstensaft-Strauß. Aber Silt, Apfelbaum – sie alle erschienen Lurch wie ferne, verblichene Gestalten, die er vor langer Zeit gekannt hatte, Bürger der farblosen Welt, in der auch er lebte vor dem Kuß im Trödlerhause. Das, was er jetzt vorhatte, war, seiner Meinung nach, ganz anders vornehm als die Witze des Gerstensaft-Präsidenten.

Vor Rosas Fenster blieb Lurch stehen. Es war dunkel, aber die schwarzen Glastafeln hauchten auf ihn wieder das schwüle, hilflose Verlangen nieder. Wütend nagte er an seiner Unterlippe und drückte die Knöchel seiner Hände aneinander. Als er endlich weiterging, schluchzte er – die Hände in den Rocktaschen, das Gesicht jammervoll verzogen. Er eilte immer mehr, er lief fast den Fluß entlang, durch entlegene, enge Gassen, bis er an ein niedriges, unreinliches Haus gelangte. Aus den mit Kalk getrübten Fensterscheiben schien ihm ein mattes, milchiges Licht entgegen, und über der Türe zeigte ein Transparent in roten Buchstaben das Wort »Bad«.

Im Flur qualmte eine Petroleumlampe, auf einer Bank saß eine alte Frau und schlief, den Kopf auf die Brust gesenkt. Sie war nur mit einem Hemde und einem kurzen Rock bekleidet, die dürren Arme, die Beine und Füße waren nackt. Lurch mußte mehrere Male sein »Wissen Sie! – Hören Sie« wiederholen, eh die Frau erwachte. Endlich fuhr sie auf – und ohne Lurch anzusehen, ergriff sie die Lampe und rannte – tap tap – mit ihren nackten Füßen über die Fliesen; da Lurch aber verlegen stehenblieb, wandte sie sich um und versetzte knarrend: »Gehen Sie ins Wartezimmer, erste Türe links.«

Im Wartezimmer saßen zwei Männer in Hemdsärmeln vor vielen Bierflaschen. Schläfrig und faul stützten sie sich auf den Tisch, zu schlaff, um nach den gefüllt vor ihnen stehenden Gläsern zu greifen.

Lurch setzte sich in eine finstere Ecke, knöpfte seinen Überrock auf, nahm den Hut ab, legte die Hände flach auf die Kniescheiben und wartete geduldig. Er war wieder ruhig geworden, und während er dasaß, beseelte ihn nur ein festes Wollen – ohne Gedanken. Einer der Männer raffte sich auf, schlug klatschend mit der Hand auf den Tisch und lallte: »Und wenn die Julie morgen nicht Ausgang hat – dann reiße ich ihr den Kopf ab – ja.«

Bedeutungslos und nichtssagend klang Lurch das Wort »morgen« in die Ohren, wie irgendeine Redensart, die unser Nachbar im Coupé seinen Bekannten zuruft. »Grüßen Sie auch den Karl!« – Was ist uns Karl? Was war Lurch morgen? Ebenso wenig wie die Julie.

Die Badefrau kam und führte Lurch auf seine Nummer, ein enges Kabinett, in dem sich eine Wanne aus Weißblech, ein Tisch, eine Kerze in einem Messingleuchter, ein Stuhl und ein Spiegel befanden. »Danke«, sagte Lurch und schloß die Türe.

Ohne zu säumen, entkleidete er sich. Jedes Kleidungsstück, das er ablegte, klopfte er mit der Hand aus, faltete es zusammen und legte es auf die Fensterbank. Als er damit zu Ende war, schärfte er das Rasiermesser an den Ziegelsteinen des Bodens und stieg dann behutsam in das Wasser. Die Wärme tat ihm wohl; er streckte seine Glieder und rieb sie sanft mit der Hand. Eine behagliche Trägheit kam über ihn; schläfrig sah er die Flamme der Kerze an, die immer krausere Strahlen bekam. Seine Gedanken schweiften unklar und verworren in die Ferne, kamen jedoch stets auf denselben Punkt zurück; »nun kommt der Tod. Gleich muß er da sein – er kommt – kommt –, das ist er – ah –«. Das Wasser plätscherte. Lurch sah auf. Neben ihm lag das Messer. Er besann sich. Wie? Das war das Sterben also noch nicht gewesen? Den ganzen Weg hatte er noch zu machen. In der ungestümen Wut, mit der Schlaftrunkene alles fortzustoßen pflegen, was ihren Schlaf stört, ergriff Lurch das Messer und begann, gegen seinen dürren, bleichen Leib zu wüten.

Im Flur draußen hatte sich die Badefrau wieder auf die Bank gesetzt und schlief. Im Wartezimmer schliefen die zwei Männer vor ihren Bierflaschen, und durch die offene Haustüre schaute die kalte Reinheit der Mondnacht in den qualmigen Raum.


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