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Am Montage fand Fräulein Schank ihre Schülerinnen nicht allzu fleißig bei der Arbeit. Die pflichttreuesten – selbst Marianne Schulz – hatten Augenblicke gänzlicher : Geistesabwesenheit. Fräulein Sally war stolz und sinnend, als laste eine große Verantwortung auf ihr. Fräulein Schank zeigte sich heute nachsichtig gegen den Mangel an Aufmerksamkeit. Sie benützte nur die Gelegenheit, um eine Rede zu halten, in der sie die These aufstellte: »Nur nach getaner Arbeit schmeckt das Vergnügen.« Diese Behauptung sollte auch das Thema für die nächste schriftliche Arbeit sein. Die nächste Arbeit? Großer Gott, wie fern lag die! Die nächste Arbeit? – Also in einer Zeit, da der Ball längst vorüber sein wird. Nach dem Ball! Das war eine Zeitrechnung, die keiner begriff. Marianne Schulz riß ihre Augen auf, als Fräulein Schank die Aufgabe für den folgenden Tag stellte. Das Wort »Die Gesellschaft«, das Fräulein Sally so großartig auszusprechen verstand, erfüllte Marianne mit andächtiger Freude. Sie, die kaum an den großen Augenblick zu denken wagte, in dem sie wirklich das weiße Musselinkleid und den grünen Gürtel würde anlegen dürfen, sie sollte an einen Tag glauben, da alles vorüber sein würde? Das konnte sie nicht, Fräulein Schank dünkte ihr eine Kassandra, die unheimliche, traurige Schicksalssprüche in die Welt hinausruft.
Nun – und dann war er da, dieser große, beseligende Abend.
Der Kronleuchter des Laninschen Saales strahlte. Der Estrich war wohlgebohnt. Die Stiegen prangten im Schmuck der Girlanden, die den Eintretenden mit dem angenehmen Festduft welkender Kränze umwehten. Fräulein Sally, in einem blauen Tarlatankleide, stand regungslos unter dem Kronleuchter und harrte ihrer Gäste. Sie legte einen Finger an die Lippen und wandte den Kopf zurück, mit der zarten Anmut jener Damen in den Modeblättern, unter denen »Rückseite der Balltoilette« zu lesen ist.
Rosa war die erste, die in den Saal trat. Ja, sie trug das weiße Einsegnungskleid; aber einige rote Haubenbänder aus dem Nachlaß des Fräulein Ina gaben ihm ein neues, buntes Ansehen. Und dann – dieses kindliche Kleid, in dem Rosa fromm und andächtig vor dem Altar gestanden, es war soweit verweltlicht, daß es ihr Hals und Schultern frei ließ. Die Haare bildeten über dem Scheitel einen Strauß von Löckchen, und mitten in ihnen saß eine rote Kamelie, auf der sich eine blaue Libelle wiegte. Daß das Rot der Kamelie ein wenig vergilbt war, daß der Libelle ein Flügel fehlte – wer sah das? – außer Fräulein Sally, die mit einem Blick alle Mängel des Anzugs ihrer Freundin herausgefunden hatte. Mängel waren genug da; dennoch wollte es Fräulein Sally scheinen, als sei der Triumph des blauen Tarlatan über den weißen Musselin nicht vollständig. In Rosas Anzug lag etwas Gewolltes, Kühnes, etwas, das man an Schankschen Schülerinnen nicht gewohnt war. Statt des Inbegriffs einer Balltoilette, statt des weißen Kleides, der rosenfarbenen Schärpe und dem Rosenkranz auf dem glattgescheitelten Haar hatte dieses Kleid, das so weit von den Schultern herabfiel, hatten die roten Bänder, die nickenden Locken, hatte alles in Fräulein Sallys Augen das Überraschende und Abenteuerliche eines Maskenanzuges. Es war unschicklich, ja! – und doch...
»Ah! Rosa! Schön, daß du die erste bist«, rief Fräulein Sally und lächelte, als würden auch ihre Lippen von einem zu engen Schnürleib bedrückt. »Ich meinte, ich könnte dir helfen«, erwiderte Rosa. Sie küßten sich, langsam die Köpfe zueinander neigend – vorsichtig – um die Kleider nicht zu zerknittern. Dann gingen sie, mit kleinen Schritten, nebeneinander auf und ab, wehten sich Kühlung mit den Taschentüchern zu und unterhielten sich höflich – kurze Sätze, bei denen die Blicke zerstreut im Gemach umherirrten. Fräulein Sally erklärte die Einrichtung: »Hier das Damenzimmer. Sehr gut – nicht wahr? – – Hier das Zofenzimmer –; du weißt, jemand tritt einem auf die Schleppe – ein Band – oder sowas... eine Zofe ist immer nötig.« Das Zofenzimmer war ziemlich düster, nur eine Kerze brannte in demselben. Zwei Zofen waren bereits da. Agnes Stockmaier und Fräulein Suller, die Wirtschafterin der Lanins. Sie saßen vor ihren Kaffeetassen, steckten die greisen Köpfe zusammen und plauderten leise. »Gut?« fragte Fräulein Sally.
»Ja, o ja!« erwiderte Rosa, obgleich es ihr schien, als habe dieses Gemach, mit seiner tief brennenden Kerze, mit den beiden altbekannten Gesichtern, etwas Alltägliches an sich, das zu dem großen Abend nicht recht stimmen wollte. Sie hatte sich ein Zofenzimmer doch anders gedacht.
Die Gäste kamen. Ein Flüstern, ein Rauschen der Mäntel und Tücher – dann zogen sie ein in langen Reihen, die Damen in weißen Kleidern mit bunten Bändern. Runde Kränze lagen auf den spiegelblanken Locken; die Hände, in weißen Handschuhen, drückten sich fest an den Gürtel. Eine Schar Konfirmanden, die mit den weißen Kleidern auch die feierlich ernsten Gesichter angelegt hatten. Unsicher trippelten sie über den glatten Fußboden und blinzelten zum Kronleuchter auf. Hinter ihnen die Mütter in dunklen Seidenroben. Freundliche Gesichter, die aus großen Spitzenhauben hervorlächelten. Endlich die Herren – sehr korrekt in schwarzen Fräcken und mit stark geöltem Haar. Schüler gingen Arm in Arm im Saal umher, stießen sich in die Seite und kicherten. Handlungsdiener stellten sich an die Wand und machten Verbeugungen. Herr Klappekahl erschien mit seiner Tochter Ernestine, einem großen blonden Mädchen, das nicht mehr die Schule besuchte, ein gelbes Schleppkleid, einen Veilchenkranz und einen Fächer trug. Herr Lanin, ein Stück Ordensband im Knopfloch, begrüßte seine Gäste wohlwollend und würdig, während seine Gattin – in grauer Seide – mächtig und liebenswürdig grüßend durch die Menge schritt. Anfangs gab es ein steifes, unbehagliches Umherstehen, bis Fräulein Sally die Damen zu den Sitzen nötigte, einige bei den Händen nahm und sie zu den Stühlen führte – mit einer Miene, auf der deutlich die Pflichterfüllung zu lesen war. Die Mütter setzten sich auf Sofas und begannen ihre Gespräche über Dienstboten; Gespräche, die den Töchtern eine Profanation des Abends dünkten. Herr Lanin klopfte dem Doktor auf den Rücken und forderte ihn zu einer Partie auf; »während die Jugend hüpft« – und sie taten beide der Jugend leid. Klappekahl blieb im Saal. Mit knarrenden Stiefeln ging er zwischen den Damen umher, lachte, scherzte – mit ritterlichen Bewegungen eines alten Salonhelden –, steckte sein Gesicht noch zu den errötenden Mädchengesichtern und weißen Kinderschultern und ergötzte sich als raffinierter Großstädter an all den aufblühenden Frauenreizen. Rosa stand mitten im Saal und sprach mit Herweg über die Hitze des heurigen Sommers: jedoch Ambrosius' Ausbleiben beunruhigte sie. Endlich kam er. Spät – natürlich! Er hatte einen Spaziergang gemacht, der Abend war so schön! Sein Anzug war untadelhaft. Wie eine weiße Rüstung wölbte sich die Wäsche aus der weitausgeschnittenen Weste hervor. Die Locken glänzten und dufteten zu beiden Seiten des Scheitels. Er fächelte sich Luft mit seinem Hute zu sprach mit den Müttern. Oh, er war bewunderungswürdig mit seiner heiteren, unbefangenen Ruhe in diesem Augenblick, der alle anderen mit andächtiger Steifheit erfüllte!
Erfrischungen waren gereicht worden. Die Damen wischten sich zart die Fingerspitzen an ihren Taschentüchern und saßen gerade da. Der Tanz sollte beginnen; es war jedoch nicht leicht, den Anfang zu machen, da meinte Ambrosius, unbefangen lächelnd, als handle es sich um einen geringfügigen, lustigen Umstand: »Nun, Cousine, tanzen wir nicht?« – – »Oh, gewiß, Cousin! Machen Sie den Anfang, bitte – bitte.« Man rief nach Musik. Fräulein Wutter, die Musiklehrerin der Schankschen Schule, setzte sich an das Klavier, und die Musik spielte einen Walzer. Ambrosius ergriff seine Cousine und drehte sie anmutig im Saal herum. Der Bann war gebrochen! Die Mütter strichen sich die Seidenkleider glatt und schauten lächelnd in das wirre Durcheinander flatternder Bänder und weißer Kleider. Die Kavaliere stießen und drängten sich, um zu den Damen zu gelangen und sie mit hastigen, schiefen Verbeugungen zum Tanz aufzufordern; und die Damen, mit niedergeschlagenen Augen, erhitzten Wangen, ließen sich andächtig durch den Saal schwenken. – – Rosa tanzte mit Ambrosius. Er drückte ihre Hand mit einer abgerundeten Bewegung auf sein Herz und blickte gefühlvoll auf sie nieder. »Oh, gnädiges Fräulein! Ich habe viel an den gestrigen Abend gedacht – an Sie – an den Mond – es war köstlich!« – »Ich auch«, erwiderte Rosa und schlug ihre Augen langsam zu ihm auf, gehoben von dem Gefühl, daß sie etwas Kühnes, Unerhörtes beginne. Als sie an der Türe vorübertanzten, sah Rosa ihren Vater dort stehen. Lächelnd wiegte er sein weißes Haupt nach dem Takte der Musik und blickte kritisch auf die vorübertanzenden Füße. Dies greise, lächelnde Männlein erschien Rosa ein wenig verächtlich und ihrer nicht ganz würdig. – Der Kronleuchter warf durch den aufgewirbelten Staub ein rötliches Licht auf die wogende Schar. Das Lächeln auf den Lippen der zuschauenden älteren Leute nahm eine müde Stetigkeit an, während die Tanzenden schweigend atemlos und eifrig dahinstürmten.
Fräulein Sally wurde sehr gefeiert, und bei jedem neuen Tänzer, der seinen Arm um ihre schlanke, feste Taille legte, betrieb sie das Tanzen ruhiger, geschäftsmäßiger. Sie machte einen äußerst routinierten Eindruck, und das wollte sie. Rosa war auch viel umworben, ihre Triumphe erregten sie jedoch, ihre Lippen wurden heiß und die Augen leuchtend, »wie Girandolen«, sagte Klappekahl mit einem großstädtischen Fremdwort. In der Tat! Sie fühlte sich heute schön und anziehend. Ihr war es, als stehe sie hoch über ihren Genossinnen, als käme sie aus einer fremden, vornehmen Welt in diese Gesellschaft beschränkter Schülerinnen und dürfte mit Verachtung auf die schüchternen Backfischmanieren und engen Vorurteile dieser kleinen Mädchen mit den hoch über die Schultern gehenden Kleidern herabsehen. Sie sprach während der Rundtänze. Sie wurde müde. und die Herren mußten lange neben ihr warten. Sie forderte den Apotheker zu einem Walzer auf, und als er ihr viel Liebenswürdiges zuflüsterte, gab sie neckische Antworten, die alle mit »mein Herr« begannen oder schlossen. Oh, viel hatte sie heute abend gelernt! War sie nicht eine ganz andere Person? Wie im Fieber, aber in einem beglückenden, erhebenden Fieber, flatterte sie durch den Saal. Die Überzeugung, der Mittelpunkt des Festes zu sein, verschönte sie.
Klappekahl beugte sich nah an Fräulein Schanks braune Bandeaux heran und flüsterte: »Sehen Sie doch die Rosa Herz. Welche verve! Die schaut nicht aus, als käme sie aus Ihrer Schule.«
»Ach was«, meinte das Fräulein und machte ein Gesicht, als habe Klappekahl wieder seine Aufgabe nicht gelernt. »Sie werden das Kind ganz zur Närrin machen; es ist ohnehin heute laut genug.«
»Bühnenblut!« kicherte Klappekahl, »aber famos – diese Büste!« Fräulein Schank tat. als höre sie ihn nicht, und saß ernst und gerade da.
Es wurde eine Pause gemacht, die Damen sollten sich vor dem Souper erholen. Die Mädchen legten ihre nackten Arme ineinander und gingen langsam im Saale auf und ab. Die Herren lehnten an der Wand und flüsterten miteinander. Nur Ambrosius hatte sich den Damen angeschlossen. Mit kleinen Schritten neben ihnen einhergehend, führte er die Unterhaltung. Er schilderte Fräulein Klappekahl den Eindruck, den der erste Theaterabend auf ihn gemacht hatte, wie ein Traum sei ihm alles erschienen, er habe vor Aufregung fast mitgesprochen, und später habe er die ganze Nacht über geweint, denn er sei ein nervöses, phantastisches Kind gewesen, sozusagen »phantastisch-träumerisch«
Rosa lehnte einsam in der Türe des Damenzimmers und schaute sinnend in den Saal hinein. Sie durfte heute nicht das tun, was ihre Genossinnen taten; sie hatte einen Nimbus zu wahren. Die Würde einer Ballkönigin war ihr noch zu neu, und sie fürchtete beständig, diese Würde zu verletzen. Jeder Augenblick, der sie an die gestrige, gewöhnliche Rosa Herz erinnerte, bedrückte sie. Die Kühnheit, mit der sie einige Schüler neben sich hatte warten lassen, mit der sie während des Tanzes gesprochen und gelacht, machte sie in ihren Augen – zu einer glänzenden, mutwilligen Gesellschaftsnixe, die alle Herzen betört und selbst ein geheimnisvolles Herz unter dem knappen Mieder trägt. Großer Gott! Wenige rote Bänder, einige Handlungsdiener, die sich um einen Walzer stoßen, einige neidische Freundinnenaugen machen aus einem glücksarmen Mädchen eine übermütige Ballkönigin! Gebt solch einem jungen Herzen, das in seinem kärglichen Leben stets von grenzenloser Seligkeit träumt, gebt ihm einen kleinen Augenblick ganz gewöhnlicher Lustigkeit, und es wird in diesem einen lustigen Augenblick eine ganze Seligkeit hineinzwängen. Rosa gab sich – dort am Türpfosten – einem tiefen wehmütigen Sinnen hin, das sie dennoch glücklich machte. Denn neben der schönen, gefeierten Rosa lebte noch Rosa, die Schanksche Schülerin im weißen Musselinkleide, und diese bewunderte das traurige Sinnen der gefeierten Rosa.
Ambrosius ward zerstreut und wiederholte sich in der Schilderung seines poetisch-träumerischen Kindergemütes. Er mußte beständig zu Rosa hinüberschielen, den ganzen Abend schon nagte die Bewunderung für das Mädchen an seinem weichen Herzen. Die Anerkennung, die ihr andere zollten, erhöhte sein Verlangen, und dennoch war es ihm, als versagte Rosa durch die Huldigungen, die sie entgegennahm, ihm einen Teil der Verehrung, die sie ihm schuldete. »Ich meine, es ist Zeit, ein wenig nach dem Souper zu sehen«, meinte er neckisch und verließ Fräulein Klappekahl, die diese Neugier des Herrn von Tellerat köstlich fand.
Ernst und erregt trat Ambrosius an Rosa heran.
»So nachdenklich?« fragte er.
Rosa blickte starr zum Kronleuchter auf.
»Soll ich in Ihren Augen lesen?« fuhr er fort.
»Vielleicht«, meinte Rosa.
»Oh, ich lese schon – einen wahren Roman.«
»Roman? Wer weiß?«
»Ja – ich weiß es!« Ambrosius sprach mit halber Stimme und etwas heiser: »Ich erzähle ihn dir – später – hm – Liebchen.«
Rosa zuckte leicht mit den Schultern, errötete und warf einen scheuen Blick auf Ambrosius, der ebenfalls dunkelrot geworden war und mit brennenden Augen auf die Lippen des Mädchens starrte.
Man ging zum Souper.
Frau Lanin öffnete die Türen des Speisesaals und machte Komplimente wie ein Herr. Dieser Einladung folgend, erhoben sich die älteren Damen, schüttelten freudig die Müdigkeit ab, die auf ihnen lastete, und knüpften neue Gespräche an, während sie langsam in den Speisesaal einzogen, denn keine wollte zu eilig erscheinen. Die junge Schar drängte nach. Auch hier erwärmte die Erwartung des Mahles die Heiterkeit. Die Tafel reichte von einem Ende des Gemaches bis zum anderen. Viele Kerzen in silbernen Armleuchtern gaben ihr ein glänzendes Ansehen, und die Fülle der aufgetragenen Speisen hatte etwas Großartiges. Am unteren Ende der Tafel stand Fräulein Sally – ruhig, fast gleichgültig. Sie war mit all den Herrlichkeiten viel zu vertraut, um das freudige Staunen der Gäste zu teilen.
»Sallychen, Sie haben viel zu tun gehabt; aber dafür ist es auch schön«, sagte Fräulein Schank und legte zärtlich ihre strenge Hand auf Fräulein Sallys heiße Wangen.
»Ich hoffe, es ist nicht ganz mißlungen«, erwiderte Fräulein Sally kühl.
»Sehen Sie nur, liebe Schank!« rief das alte Fräulein Katter, das sich von Fräulein Schank führen ließ, »sehen Sie nur, um des Himmels willen – ein ganzes Schweinchen! Wie lieb das ist!«
Ja, ein ganzes kleines Schweinchen lag auf der Schüssel, weich in Salatblätter gebettet. Sorglos seine braune Kindernacktheit zeigend, schien es zu schlummern.
»Welche Überraschung!« meinte Fräulein Schank.
»Ja«, versetzte Fräulein Sally kurz und schob mit hartem, rücksichtslosem Finger den Kopf des kleinen Tieres auf den Salatblättern zurecht.
»Nur tapfer heran«, ermunterte Herr Lanin die jungen Leute und stieß einige von ihnen jovial in den Rücken. »Wenden Sie sich nur an meine Tochter. Sie – Toddels – Sie, Herr von Kollhardt – wenden Sie sich nur an Sally.«
»Sogleich, lieber Papa«, entgegnete Fräulein Sally gereizt. »Allen zugleich kann ich nicht dienen! Fräulein Katter, wünschen Sie ein Stück Ferkel?«
»Fast ist es schade, das liebe Tier anzuschneiden«, entgegnete das alte Fräulein, lachte und sah dabei Fräulein Schank an, diese aber wollte nicht mitlachen.
»Setzen wir uns, meine Herren!« schrie Klappekahl und rückte seinen Stuhl ganz nahe an den Tisch heran. »Nur keine Bescheidenheit, das ist die schlechteste Politik; auf dem Ball muß ein jeder versuchen, den schönsten Bissen zu erwischen – sowohl beim Tanz sowie beim Souper. Das ist kalter Truthahn, nicht wahr, Fräulein Sally? Ah, superb! Ich bitte um ein Stück; von Ihrer Hand vorgelegt, schmeckt es um so besser. Ein gutes Stück ist in unserem Alter das einzige, was wir von jungen Schönen beanspruchen dürfen. Wie, Doktor? Ah! Fräulein Mariannchen, Sie setzen sich neben mich! Superb! Fräulein Sally, ich bitte um ein Stück Truthahn für meine Nachbarin.«
»Marianne!« ertönte Fräulein Sallys Stimme im scharfen Geschäftston. »Wünschen Sie auch Aspik?«
Marianne schwieg und schaute Fräulein Sally andächtig aus ihren runden Augen an.
»Aspik?« wiederholte Fräulein Sally und sprach dieses Wort so glatt und geübt aus, daß es wie einsilbig klang; als Marianne aber immer noch nicht verstehen wollte, zuckte Fräulein Sally die Achseln und reichte ihr den Teller.
»Ah, das ist Aspik?« flüsterte Marianne und starrte den roten Gallert verklärt an. »Ist Aspik immer so?« wandte sie sich schüchtern an den Apotheker.
»Ja – o ja!« erwiderte dieser mit vollem Munde, »immer – von jeher –«
»Gewiß! Ich sage«, ertönte die gewichtige Stimme des Hausherrn, »hören Sie, Doktor, was ich sage. Ich sage also: Essen ist allerdings eine Arbeit, zu der man einen gewissen Ernst mitbringen muß. Essen rechne ich quasi unter die Pflichten.«
»Ich bitte um ein wenig Pastete. Ich kenne meine Pflicht. Ich vergrabe nicht mein Pfund«, rief Klappekahl dazwischen.
»Nein«, fuhr Herr Lanin fort, »ins Lächerliche kann man alles ziehen. Aber – abgesehen von allen Witzen – ich sage: der Mensch muß essen. Durch das Essen führen wir uns Lebensstoff zu. Das zweite ist: Bewegung. Da verarbeiten wir den empfangenen Stoff. Das dritte – sage ich – ist: Wissenschaft!« Dabei schlug er so kräftig auf den Tisch, daß Marianne Schulz erschrocken zusammenfuhr. »Wissenschaft! Denn den verarbeiteten Lebensstoff müssen wir dazu verwenden, uns Wissenschaft zu erwerben und unseren Geist zu bilden«, dabei machte Herr Lanin ein Handbewegung nach oben, als müßte der gebildete Geist sehr hoch aus seinem Kopfe herauswachsen.
»Ach, das sind Ihre systematisch-hegelschen Ideen, bester Lanin«, wandte Klappekahl ein.
Herr Lanin machte eine würdevolle Miene. Ja, seine Ideen waren vielleicht hegelsch, er wollte das nicht in Abrede stellen. Hegel aber, meinte er, habe auch manches Gute. Das ärgerte den Apotheker. Hegel war ein Phantast, behauptete er, nichts weiter. Heutzutage brauche man Positives. Er – Klappekahl – hielt es mit Darwin.
»O Gott!« rief Fräulein Schank leise, und Fräulein Katter fragte teilnehmend:
»Ist Ihnen etwas in die falsche Kehle gekommen, liebe Schank?«
»Nein – aber Darwin. Hörten Sie denn nicht?«
»Pfui, pfui, der schlechte Affe!« versetzte darauf das alte Fräulein erschrocken.
»Ja, ich stamme vom Affen ab!« fuhr Klappekahl warm fort. »Ich bin stolz darauf, denn daß ich kein Affe bin, verdanke ich den Anstrengungen meiner Ahnen und – sozusagen – meinen eigenen Anstrengungen. Der Mensch ist ein Parvenü, aber er soll sich seiner Abkunft nicht schämen – er soll sich vielmehr der errungenen Stellung, des errungenen Vermögens freuen: des Intelligenzvermögens«, und der Redner streckte seine flache Hand über den Tisch, als läge das herrliche lange Wort darauf und sollte allen serviert werden.
»Moralisches Gefühl und Rechtsbewußtsein kann sich niemand erwerben, das wird uns von oben verliehen«, wandte Herr Lanin mit feierlicher Bestimmtheit ein, wie ein Priester bürgerlicher Moral – der er war.
Rosa hatte sich dicht unter einen Armleuchter gesetzt und aß. Ambrosius stand schweigend hinter ihr und bediente sie. Ein leichter Dampf, von den Speisen aufsteigend, trübte die Luft, und die Kerzen hatten mattgelbe Flammen, wie Lichter im Nebel. Es war heiß im Gemach. Mit roten Wangen und Augenlidern lehnten sich die Anwesenden in ihre Sessel zurück; vor ihnen das wirre Durcheinander großer Speisereste. Das Bild war häßlich, wie es ein zu Ende gehendes Festmahl zu sein pflegt. – Unter all den erhitzten satten Leuten schien Rosa, still über ihren Teller gebeugt, für Ambrosius, der sie aufmerksam und andächtig betrachtete, etwas Feierliches und Poesievolles an sich zu haben, etwas, das sie von ihrer Umgebung absonderte und sie mit wärmerem, zarterem Lichte verklärte. Legt in zwei ganz alltägliche Augen nur ein kleines Fünkchen junger Liebe und Leidenschaft, und diese Augen werden euch um vieles vornehmer erscheinen.
»Ich bin satt – und Sie«, sagte Rosa und wandte sich lächelnd nach Ambrosius um.
»Oh, ich«, erwiderte Ambrosius, »ich mag nicht!«
»Doch! Ich gebe Ihnen meinen Platz. Ich bin fertig.«
Wie sie das so einfach gesagt hatte, fand er nicht sogleich etwas Zierliches zu erwidern und setzte sich auf den Stuhl, den Rosa ihm überließ.
Im Saal nebenan waren die Fenster geöffnet worden, um frische Luft zuströmen zu lassen, und der Zugwind jagte den aufgewirbelten Staub um die Flammen des Kronleuchters. Rosa stellte sich an ein Fenster. Kühl schlug ihr die Nachtluft entgegen und erschreckte sie fast. – Ein heftiger Sommerregen fiel rauschend und duftend nieder. Der Marktplatz lag finster da, nur die feuchten Steine hatten einen matten, unsichern Glanz. Im gegenüberliegenden Hause, hoch oben in einem Erkerfenster, war Licht. Eine Lampe stand auf einem Tisch. Rosa vermochte ihre Blicke von diesem ruhigen, schläfrigen Lichte nicht abzuwenden, obgleich es ihr zuwider war. Glänzte es nicht dort oben so dumm und fade, als wüßte es nichts von der aufregenden Welt des Laninschen Salons. Plötzlich erschien auf der Wand ein Schatten, eine jener großen, wunderlichen Figuren, wie wir sie an stillen Winterabenden mit müdem Auge zu betrachten lieben. Hierauf trat eine Frau an den Tisch. Sie trug ein geblümtes Kamisol und band sich eine Nachthaube um ihr ruhiges weißes Gesicht. Sie gähnte; deutlich sah Rosa den weitgeöffneten Mund. Die Frau ergriff die Lampe, und beide verschwanden. Rosa wandte sich schnell ab – dort im Speisesaal saßen sie noch alle beisammen in der trüben Luft, unter den Kerzen, die jetzt dunkel brannten. Herr Lanin beugte sich über den Tisch und starrte vor sich hin, sein Gesicht war dunkelrot, und er atmete schwer. Klappekahl rauchte eine Zigarette. Er hatte den Arm über die Lehne seines Stuhles gelegt und erzählte Marianne Schulz etwas, blickte jedoch beständig in den Spiegel, der ihm gegenüber hing. Ambrosius saß noch auf dem Stuhl, den Rosa ihm abgetreten hatte, und unterhielt sich mit Toddels. Aufmerksam betrachtete Rosa das Nicken dieses glattgekämmten Zopfes, und die Art, wie Ambrosius ein Brot über seinem Teller brach, fand sie schön. O ja, sie liebte ihn! Sie wußte das ganz gewiß. So und nicht anders war es, wenn man liebte. Nun konnte alles groß und herrlich werden; und war es nicht schon groß und herrlich? Der gefüllte Eßsaal, das Licht, das in den Bowlegläsern blitzte, das Stimmengesurre – der starke Duft von Speisen, Wein, Zigarren –, war das nicht schon ein Stück der großen Welt? Ein schläfriges weißes Gesicht, das sich mit seiner Nachthaube gähnend zu Bette legte, mußte man verachten und bemitleiden. Rosa stellte sich vor den Spiegel und drückte die gefalteten Hände auf den Gürtel. Hübsch war es, wie das rosige blonde Mädchen dort im Spiegel so tragisch die Hände auf das Herz preßte. »Liebchen«, sagte Rosa vor sich hin, und bei diesem Wort ward ihr zumut, als müßte sie etwas Tolles beginnen, ihr Kleid tiefer von der Schulter ziehn – laut aufschreien – sie wußte es selbst nicht...
»Sehr bedauerlich, daß in der Schule kein Spiegel hängt, sie würde dich dann vielleicht eher fesseln.« Fräulein Schank machte diese Bemerkung und musterte ihre Schülerin mit säuerlichem Blick: »Liebe Rosa«, fuhr sie fort, »benimm dich ein wenig gesetzter. Sich doch Sally an; wie ist sie heute allerliebst! – Wer hat dein Kleid so toll ausgeschnitten? Es ist unerlaubt. Morgen bringst du's mir; ich werde es ändern. Bald ist es auch elf Uhr; man muß ans Schlafengehen denken.« Rosa warf einen bitterbösen Blick auf die alte Dame, sie hätte sie schlagen mögen und lief hastig fort – mit großer Entrüstung im Herzen.
Im Zofenzimmer saß Agnes am Tisch und schlief, den Kopf auf die Brust gesenkt. Rosa kauerte sich auf dem Sofa hin, zog die Knie an sich, umfaßte sie mit beiden Armen, stützte ihren Kopf darauf und weinte. Zuweilen schaute sie auf, und dann ruhten ihre Blicke sinnend auf dem stillen Bilde vor ihr. Agnes' altes, schlummerndes Gesicht unter den trüben Flammen der Kerze, die durch Rosas Tränen mit wunderlich krausen Strahlen umringt schien. – – –
Musik scholl herüber. Fräulein Sally trat ins Gemach. »Rosa!« rief sie, »bist du hier? Was treibst du?« Rosa erwiderte nichts und blickte starr vor sich hin, die Lebenslage, die sie eben noch so drückend empfunden hatte, dünkte ihr jetzt, da sie bemerkt ward, interessant.
»Warum so allein?« fuhr Fräulein Sally fort und setzte sich neben ihre Freundin. »Du hast geweint? Sag, was gibt es?«
»Nichts«, entgegnete Rosa geheimnisvoll.
»Doch, mein Herz!« Fräulein Sally wurde zärtlich und strich Rosa das Haar an den Schläfen glatt. »Sag es mir.«
»Nichts. Es überkam mich so.«
»Ja, das passiert mir auch häufig. Eben noch dachte ich an den armen Onkel. Weißt du, mitten in all der Lust schnürte es mir das Herz zusammen. Es regnete, und ich mußte denken, jetzt liegt er in seinem Grabe, bei dem Wetter; und erst im Herbst, wenn der Sturm, weißt du, um den Grabhügel heult – oder Schnee... Ach, er war so gut!« Fräulein Sally wischte sich mit dem Taschentuch die Augen und trocknete dann auch Rosas Tränen. »Komm! Man tanzt den Souper-Walzer. Unsere Abwesenheit könnte auffallen. Komm! Laß uns mutig sein.« Die Arme zärtlich ineinander verschlungen, kehrten die Freundinnen mit langsamen, müden Schritten in den Saal zurück. Dort drehten sich wieder die schwarzen Beine und weißen Röcke umeinander. Die tanzenden Füße übertönten mit ihrem scharrenden Geräusch die sechs sich stets wiederholenden Walzertakte des Fräulein Wutter. Die jungen Leute betrieben ihr lustiges Geschäft mit atemlosem Eifer, die rücksichtslose Hast, in der die Herren nach den erhitzten Dämchen griffen, zeigte, wie einem jeden die schnelle, tolle Bewegung das Wichtigste war, und im gemeinsamen Vergnügen vergaß einer des anderen Person. Dennoch zeigte sich nur selten ein Lächeln auf den jungen Gesichtern. Die Damen hatten rote Wangen und leuchtende, verwunderte Augen. Ihr Blut, von Wein und Bewegung erhitzt, schien den jungen Herzen etwas Ernsteres zu predigen, das sich in den Tanz mischte – etwas, das die wenigsten verstanden.
»Wir haben Sie gesucht, Fräulein Lanin!« rief Toddels. »Bei Gott, wie eine Stecknadel haben wir Sie gesucht! Ich bitte um Ihren Walzer, Sie sind das mir und sich selbst schuldig.« Fräulein Sally nickte und warf sich hingebend in die langen schwarzen Arme des jungen Toddels. Rosa tanzte mit einem vierschrötigen Sekundaner, einem sogenannten »forschen« Tänzer, der laut mit den Absätzen aufklappte und mit zurückgeworfenem Kopf, die Augen halb geschlossen, durch den Saal rannte. Als sie an der Türe des Eßsaales vorübertanzten, sah Rosa Lurch an der halb abgedeckten Tafel sitzen. Herweg stand vor ihm und trank ihm zu; beide lachten, wobei Lurch den Mund weit und schmerzvoll öffnete.
»Aha! Kollhardt hat den Lurch vor. Das wird Scherz geben«, bemerkte der Sekundaner Georges – Rosas Tänzer.
»Was tut er ihm?« fragte Rosa.
»Nichts, mein Fräulein, Sie können unbesorgt sein; er säuft ihn nur ein wenig ein«, erwiderte Georges sehr höflich.
Marianne Schulz saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und wartete: »Wieviel Uhr ist's, Herr Toddels – bitte«, flüsterte sie. »Dreiviertel elf«, erwiderte er hochmütig und bat Fräulein Klappekahl um ihren Tanz. »Gott sei Dank, erst dreiviertel elf!« rief Marianne aus. Sie faltete ihre roten Händchen, blickte mit den klaren runden Augen still vor sich hin und wartete auf das große Glück des Abends.
»Wie finden Sie die Rosa Herz heute abend?« fragte Frau Lanin den Apotheker.
»Süperb! Sie ist so – so –«, Klappekahl streckte seine fünf Finger empor, um etwas sehr feines anzudeuten, wofür er das rechte Wort nicht fand.
»Ja, o ja!« nahm Frau Lanin wieder sanft und freundlich das Wort. »Sehr hübsch und munter. Finden Sie nicht, daß sie ein wenig –«, Frau Lanin lächelte fromm, »ein wenig unpassend ist? Sie hat etwas, das nicht hierher gehört. Natürlich nichts Schlechtes! Aber doch etwas Plebejisches.«
»So?« meinte Klappekahl ernst. »O ja! Es ist so etwas – so...« Wieder hoben sich die fünf Finger, dieses Mal aber bewegten sie sich.
»Nichts Schlechtes!« fuhr Frau Lanin fort. »Nein! Ich liebe das gute Kind. Ach Gott, es hat keine Mutter zur Seite gehabt, und ohne Mutter, da ist es schwer! Obgleich – die Mutter der Rosa, hätte die gelebt – wer weiß! Es ist vielleicht besser so, wie der liebe Gott es gefügt hat.« Frau Lanin seufzte und schaute der vorübertanzenden Rosa zärtlich nach. »Die gute Schank nimmt sich ihrer an. Ich – soviel ich konnte – ließ dem armen Kinde auch Rat und Hilfe angedeihen. Sie kommt oft zu Sally. Zuweilen ißt sie bei uns. Zu Hause wird sie nicht viel Gutes bekommen, so gönne ich ihr von Herzen einen Löffel Suppe, ein Stück Braten an unserem Tisch. Gott, man tut, was man kann, aber bei diesem Vater! Das arme Kind! Es ist recht – recht traurig!« Träumerisch blickte Frau Lanin auf ihren grauseidenen Leib nieder.
»Ja! Demimonde«, versetzte der Apotheker mit Heftigkeit.
Die Reihe der älteren Leute ward immer stiller und regungsloser, stumm saßen die Mütter da – verdrossene Karyatiden des Anstands. Plötzlich erhob Fräulein Schank ihre scharfe Stimme: »Liebe Mutter! Es ist wirklich genug. Bedenken wir, morgen ist kein Feiertag.« – Eine allgemeine Entrüstung machte sich Luft. «Was untersteht sich diese Person in meinem Hause«, flüsterte Fräulein Sally mit funkelnden Augen. Ein großes Getümmel entstand um das Klavier und Fräulein Schank. Rosa stand ruhig am Fenster. Sie wußte es wohl, dieser merkwürdige Abend konnte nicht – so ohne weiteres – zu Ende sein, nur weil morgen Schultag war. Nein! Aber was konnte noch geschehen? Ambrosius trat eilig an sie heran und sagte leise: »Jetzt – dort durch jene Tür.« Rosa verstand ihn nicht, er aber zog die Stirne kraus und wiederholte heftig: »Dort durch jene Tür – durch den Flur.« Rosa senkte den Kopf und ging auf den Flur hinaus. Die Türe zur Straße hin stand offen, und der Mond warf einen breiten gelben Streif auf die feuchten Steine des Fußbodens. Ein kalter Luftzug strömte herein, und man hörte den weichen Ton einiger Tropfen, die vom Dachrande auf das Pflaster fielen. Zitternd stand Rosa da und bedeckte mit den Armen ihre heißen Schultern. Was sollte geschehen? Sie hörte Schritte neben sich. Ambrosius war ihr gefolgt und zog sie zur gegenüberliegenden Türe, die er aufstieß. Sie standen in einem finstern Raume. An dem Gewürz- und Fischgeruch erkannte Rosa den Laden. Ambrosius tappte durch das Gemach – schob etwas – räusperte sich; plötzlich fielen Mondstrahlen in die Nacht durch ein kleines Fenster, von dem Ambrosius eben den Laden entfernte, und dieses Licht, wie es so durch die engen, verstaubten Scheiben drang, erschien selbst grau und verkümmert. Nun machte sich Ambrosius mit der Lichtkiste zu schaffen, rückte sie aus ihrer Ecke heraus, befreite sie vom Staub, schob sie hin und her – geschäftig und ernst – mit der peinlichen Langsamkeit träger Leute, die mit großem Zeitaufwand alles für eine Arbeit vorbereiten, an die sie ungern gehen. »So – denke ich, wird es gut sein«, versetzte er endlich. Dann blickte er zu Rosa hinüber und sagte unsicher: »Kommen Sie.« Rosa fürchtete sich, am liebsten wäre sie davongelaufen, und doch hätten die Neugier und der Durst nach Erlebnissen dieses verwegene Mädchen bewogen, in noch wunderlicheren Augenblicken auszuharren. So setzte sie sich auch jetzt langsam auf die Lichtkiste und saß – mit dem scheu erwartungsvollen Blick eines Kindes, das gescholten werden soll – aufrecht da. Sie bedeckte noch immer ihre Schultern mit den Händen, und den Kopf gesenkt, blickte sie auf das gelbe, blasse Licht herab, das auf dem Fußboden zitterte. »Rosa – hm –«, begann Ambrosius leise, mühsam die Worte suchend, als habe er gewußt, was er sagen wollte, und müsse sich wieder darauf besinnen. »Sie – vielmehr du – weißt, daß ich dich – hm – liebe. Ich konnte dich heute nicht allein sprechen. Ich meinte, hier würden wir ungestört beisammen sein. Hier ist es zwar primitiv – aber – hm – warum sprichst du nicht – sage?« fragte er dann in plötzlicher Hilflosigkeit. »Rosa, ist Ihnen bang?« – Rosa nickte. – »Bang? Aber ich tu Ihnen nichts – gewiß nicht!« Er setzte sich auf die Kiste und ergriff Rosas Hände: »Ich dir etwas tun? Ich lieb dich doch –« Er zog sie ganz nah zu sich heran: »Hier ist es traulich – nicht, Liebchen?«
Rosa lächelte; Ambrosius' Befangenheit gab ihr Mut, und sie blickte zu ihm auf, erschrak aber vor diesem schmerzvoll erregten Gesichte mit den starren Augen, den fest zusammengepreßten Lippen. Sie wollte sich aus den Armen befreien, die sie fest umschlungen hielten, und rief ängstlich: »Oh, Tellerat!« – Er aber hielt sie fest: »Rosa, Rosa«, flüsterte er und drückte mit heißen Händen die nackten Arme des Mädchens. »So ist's gut!... So sind wir beieinander.« Er lachte – er wußte nicht mehr, was er sprach; seine Finger, die krampfhaft sich an Rosa festklammerten, taten ihr weh – sie wollte schreien, dann kam es aber wie große Mutlosigkeit und Müdigkeit über sie – bleich lehnte sie sich zurück und starrte vor sich hin. Menschen, die angestrengt lauschen, etwas erwarten, haben diesen stetigen, abwesenden Blick. Willenlos in die Arme des jungen Mannes geschmiegt, ließ sie alles über sich ergehn, während Ambrosius mit fieberhafter Hast an ihr zerrte. Er bog den blonden Kopf zurück und küßte das ernste Antlitz – er riß das weiße Kleid von den Schultern – warf die ganze schlanke Gestalt in seinen Armen hin und her mit der Brutalität eines jungen, der seine erste Liebe zu einer Dirne in die Schule geschickt hat. Dann plötzlich, als wäre er erschöpft, als machte die Leidenschaft ihn krank, ließ er die Hände sinken und saß, an das Mädchen gelehnt, ruhig da. Rosa hatte ihren Kopf auf Ambrosius' Schulter gestützt – ihr Gesicht war unbewegt – wie das einer Schlafenden, nur – daß die Augen weit offenstanden und an den Wimpern Tränen hingen. Nein, sie dachte an nichts. Sie fühlte nur das Fieber ihres Blutes, hörte nur das Pochen ihres Herzens. Mechanisch schweiften ihre Blicke im dämmerigen Raume umher. Fahl kroch das Mondlicht die Fässer und Ballen hinan. Mächtige Schatten wuchsen an den Wänden empor; auf einer Leiste erglomm in einer Flasche ein roter Funke und blinzelte. Von der Decke hing die Pariser Wurst nieder, ein rundes Ungeheuer, ein Riesenblutegel, der sich dort oben angezogen hatte. Ungeordnet, wie im Halbschlummer, begannen sich Rosas Gedanken um diese Gegenstände zu drehen, und unwillkürlich mühte sie sich ab, dieselben zu unterscheiden. Dort stand die Heringstonne – dahinter schimmerte es matt. – Oh, das waren die kleinen Fische! Dieser spitze Schatten kam von der Ecke des Ladentisches – – dort lag ein Tuch – dann ging es finster hinab, ein schwarzer Schacht – dort war noch etwas; etwas weißes – Rosa schaute es an; der Mehlsack war es nicht, der stand dort. Nein, sie vermochte es nicht zu erkennen, sosehr sie sich auch bemühte. Stünde die Tonne etwas mehr nach rechts – berechnete sie –, dann würde sie es unterscheiden können. Es hätte ein Gesicht sein können – die beiden Pünktchen die Augen –, das schwarze Loch der Mund. Ambrosius drückte Rosa stürmisch an sich und störte sie aus ihrem Hinbrüten auf; das weiße Ding – jetzt sah sie es deutlich – es war ein bleiches, verzerrtes Gesicht. Es stützte das Kinn auf den Rand der Tonne – hatte die Augen weit offen – es lachte. »Dort in der Ecke«, vermochte Rosa nur hervorzubringen, dann sank sie betäubt zusammen. Nun sah es auch Ambrosius. Fahl und lachend hing das Gesicht noch über der Tonne: »Lurch«, rief Ambrosius unsicher. »Herr von Tellerat«, antwortete eine leise, freundliche Stimme. Ambrosius beugte sich vor und starrte mit bitterböser Miene in die Ecke, aus der die Stimme kam. »Was tun Sie da? Wo kommen Sie her?«
»Ja, Herr von Tellerat«, erwiderte Lurch höflich. »Ich weiß das selbst kaum. Ich muß wohl müde gewesen sein. Jedenfalls verlangte mich – ganz plötzlich – nach meinem Bett. Ja – und nun – so glaube ich«, ein bleicher Finger tauchte aus dem Dunkel auf und legte sich an die bleiche Nase, »nun hab ich mein Zimmer wohl nicht finden können – das vermute ich –, so bin ich denn hier hereingeraten. Möglich ist es, daß ich geglaubt habe, dieses hier sei mein Bett, obgleich mir so etwas wohl schon am Samstag – Sie wissen – passiert ist – aber am Montag nie, von einem Montag ist mir kein solcher Fall erinnerlich – kein einziger. Ich kann es mir nicht recht erklären. Übrigens habe ich hier nicht übel geschlafen – bis auf das eine Bein, das stark gedrückt worden ist. Nun – Gott! Das ist auch natürlich, es wird auch gewiß nicht von Bedeutung sein.« Zwei dünne Beine schlängelten sich hinter der Tonne hervor, dann Lurchs ganze Gestalt – wunderlich zerknittert, verbogen, bestaubt. »Es ist wirklich seltsam«, meinte er mit seinem jungfräulich schüchternen Lächeln.
»Seltsam«, stieß Ambrosius hervor. »Sie haben sich unanständig betrunken und kommen jetzt, um mich zu stören, um mir aufzulauern.«
»O nein, Herr von Tellerat. Ich bitte sehr, nicht so unfreundlich mit Ihrem Kollegen zu sprechen.« Lurch protestierte mit mehr Sicherheit, als Ambrosius an ihm gewohnt war. »Auch sollten Sie nicht so laut sprechen, es könnte Sie jemand hören, und das wäre – Fräulein Rosa unangenehm, denn Sie haben Fräulein Rosa geküßt, mit Erlaubnis zu sagen; darum war ich so still, ich mochte Sie nicht stören. Wenn aber jemand käme...«
»Ah – hm«, ließ Ambrosius verlauten. »Ja so!« Er warf einen scheuen Blick auf seinen Kollegen, denn er fühlte, daß dieser unbequeme Mitwisser sich seiner Macht wohl bewußt war. Darum lachte Ambrosius und gab sich das Ansehen, als mache er sich aus der ganzen Geschichte nicht viel.
»Sie vergessen ja das arme Täubchen«, rief Lurch sentimental. »Da liegt es; ach, es ist ohnmächtig.«
Bewegungslos lag Rosa da, die Aufregung und der Schreck hatten ihrem bleichen Gesicht einen Ausdruck so tiefen Schmerzes aufgeprägt, daß die beiden jungen Männer bestürzt wurden.
»Was tun wir, Lurch?« fragte Ambrosius hilflos und ärgerlich.
»Oh, mit ein wenig Spiritus ist ausgeholfen – hier hab ich die Flasche.«
Unschlüssig nagte Ambrosius an seiner Unterlippe. »Lurch«, begann er dann, »man wird uns im Saale vermissen.«
»Ja, Herr von Tellerat, das vermute ich allerdings«, erwiderte Lurch sehr undeutlich, denn er hielt den Korken der Flasche zwischen den Zähnen, während er den Spiritus auf sein Taschentuch goß.
»Das könnte uns kompromittieren?« fragte Ambrosius weiter.
»Möglich, Herr von Tellerat, möglich wäre es immerhin«, war die Antwort.
Ambrosius faßte seinen Entschluß, legte Rosas Kopf hastig auf die Kiste und eilte zur Türe. »Nicht wahr, bester Lurch«, rief er zurück, »Sie sehen nach Rosa – nach – hm dem Mädchen? Ich kehre in den Saal zurück. Meine Abwesenheit wird auffallen – –«
Er verschwand.
Freundlich, mild und gutgelaunt blickte Lurch auf das daliegende Mädchen; wunderlich aber war es, wie diese Freundlichkeit, diese Milde und gute Laune ihm übel standen und sein Gesicht verzerrten. Mit krummen Knien und auf den Fußspitzen näherte er sich der Kiste und drückte behutsam sein Taschentuch gegen Rosas Gesicht; dabei stieß er zuweilen einen klagenden Laut aus oder sprach leise vor sich hin in der weichen, lallenden Weise, in der Ammen ihre Säuglinge anzureden pflegen. »So – so – es wird besser. Legen wir das auf die kleine Stirn – die kleine, kleine Stirn –; ist's so gut, was?« Rosa bewegte sich. »Oh«, meinte Lurch ernst, hielt in seiner Beschäftigung inne, lauschte einen Augenblick und drückte dann seinen gelben Mittelfinger fest an Rosas Schulter.
Rosa seufzte, richtete sich halb auf und schaute verwundert um sich; sie verstand ihre Lebenslage nicht. Vor ihr stand Lurch, krumm vor Rührung und Verlegenheit.
»Ja, Fräulein Rosa, ich bin's, nur ich – Conrad Lurch – fürchten Sie sich nicht. Ihnen war nicht ganz wohl; der Spiritus hat Ihnen gutgetan. Sie wollen Ihr Füßchen von der Kiste herabziehen? Es könnte Sie ermüden, ich will Ihnen helfen – ah, es ist schon geschehen. Jetzt ist Ihnen besser, Fräulein Rosa, nicht?«
Rosa dachte nach – ließ die Arme schlaff niederhängen und streckte die Füße von sich. Das zerknitterte Kleid war tief von den Schultern herabgeglitten – wirr hingen ihr die Locken ins Gesicht –, und das ärmliche Mondlicht ließ die ganze Gestalt seltsam weiß und bleich erscheinen.
»Warum bin ich hier – im Laden? Und warum sind Sie hier?« fragte sie langsam.
»Das kommt daher –«, erklärte Lurch. »Doch, Sie werden sich dessen schon entsinnen. Ich habe einiges gesehen, ich will nicht davon sprechen, es könnte Sie beleidigen. Herr von Tellerat ging in den Saal zurück.«
»Ah –«, jetzt wußte es Rosa, und ihr ward bange. »Fort will ich«, sagte sie rauh.
»Gewiß, Fräulein Rosa; erlauben Sie nur«, und behutsam faßte Lurch den Rand von Rosas Kleid. »Das ist nicht für alle Welt.«
Die kalten Finger, die sie berührten, ließen Rosa vor Widerwillen schaudern, und sie begann zu weinen.
»Hab ich Ihnen wehgetan?« klagte Lurch, und in seinen trüben Augen standen auch Tränen.
»Ich kann die Türe nicht finden«, schluchzte Rosa.
«Weinen Sie darüber, Fräulein Rosa? Die Türe kann ich Ihnen zeigen; hier ist sie.«
Rosa lief hinaus, eilig, als würde sie gejagt. Der dunkle Raum, den sie verließ, erregte in ihr jenes peinvolle Gefühl, das Kinder erfaßt, wenn sie an finsteren Ecken vorüber müssen.
Der Saal war fast leer, nur in einer Ecke saß Frau Lanin und schlief, in der entgegengesetzten Ecke saß Herr Herz und schlief ebenfalls, und die beiden Schlummernden sandten sich abgerissene, schnurrende Kehllaute zu, daß es wie eine Unterhaltung in einer barbarischen Sprache klang. Auf einem Sessel kauerte etwas Weißes – Marianne Schulz. Sie schluchzte dort leise, denn seit dem Souper hatte keiner mit ihr getanzt. Sie konnte sich nicht entschließen, den Saal zu verlassen und das festliche Musselinkleid abzulegen.
Rosa ging zu ihrem Vater hinüber, legte ihre Arme um seinen Hals und weckte ihn mit einem Kuß.
»Komm –, sagte sie.
»Gewiß, mein Kind; es ist schon spät, nicht?«
»Leiser, Papa, daß niemand uns hört.«
»Haha, wieder ein Spaß.«
Arm in Arm gingen sie hinaus. Eine Wolke zog über den Mond, und ein sanftes Dämmerlicht lag über der schlummernden Stadt, den stillen weißen Häusern, den leeren feuchten Straßen, wie das graue Zwielicht einer Krankenstube.