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Als Rosa in die kühle Nachtluft hinaustrat, fühlte sie sich recht glücklich. Sie blieb einen Augenblick stehen, atmete tief den feuchten Duft ein, der rings vom Laub der Kastanien und aus des Pfarrers Garten aufstieg – sah zum Himmel auf, an dem jetzt Stern an Stern stand – und schauerte behaglich in sich zusammen. Um weniger kenntlich zu sein, hatte sie ein großes Tuch um Kopf und Brust geschlungen. So schritt sie die Gasse hinab. Sie eilte nicht zu sehr. Neugierig mußte sie alles, an dem sie vorüberging, betrachten. Die altbekannten Gegenstände und Plätze hatten bei Nacht nicht das gewohnte Aussehen. Es schien Rosa, als waltete über ihnen etwas Ungewöhnliches und Anziehendes. Das plötzliche Rauschen, welches in den schwarzen Wipfeln erwachte, um wieder ebenso plötzlich abzubrechen; die Dachvorsprünge, die sich, wie schwarze Nasen, über die Straße beugten; die Blumen, die stärker dufteten und voll großer Tropfen hingen – alle hatten ein wunderlich geheimnisvolles Wesen, als müßten auch sie eigentlich in einer bürgerlichen Stube, unter der geblümten Baumwolldecke, wohlverwahrt liegen, und ihre Anwesenheit sei etwas Ungewöhnliches, Unerlaubtes und habe einen lustigen Grund, den niemand erfahren durfte. Unter den Bäumen, am Ende der Straße, war es jetzt ganz einsam. – Hinter den Bäumen stand die Kirche mit ihrem roten Ziegeldach und ihrem spitzen Turm. Ein Grab lag dicht daneben. Rosa wußte es; oft hatte sie versucht, die halbverlöschten Buchstaben auf dem Stein zu entziffern. Es war das einzige Grab an dem Ort. In alter Zeit hatten sie dort eine Wohltäterin des Städtchens gebettet. Jetzt näherte sich Rosa ihm und dachte, ob sie sich wohl fürchten würde? Ein Grab bei Nacht gehört ja doch zu den schauerlichen Dingen. Als sie aber davorstand, bemerkte sie, daß ihr nicht bange war. Der Stein schlief friedlich an gewohnter Stelle, und das Gras, das hoch um ihn aufgeschossen war, lag voll blanker Tropfen.
Der Ort der Zusammenkunft war dicht am Fluß. Ein schmaler, wenig betretener Pfad führte zu ihm hinab. Von der einen Seite ward er durch einen Gartenzaun aus alten Brettern, von der andern durch das äußerst steil abfallende Ufer eines Baches begrenzt. An einer Schleuse mußte man vorüber. Jetzt, beim niedrigen Wasserstande, ließ sich nur ein leises Rauschen vernehmen, und die schwarzen Pfeiler waren mit Schlamm wie mit einer blanken grünen Haut bedeckt. An manchen Stellen des Pfades wucherte hohes Nesselgestrüpp. Wenn Rosa hindurchschritt, ward sie mit Tau überschüttet, und dicke Käfer, in ihrem Schlummer gestört, flogen brummend auf. Unten am Wasser lag tiefer Sand, nur spärlich mit Heidekraut bewachsen. Große Steinblöcke standen dort, und auf einem derselben hatte sich Herweg niedergelassen. In einen weiten Mantel gehüllt, einen Filzhut mit breiter Krempe auf dem Kopfe, saß er da wie ein großer schwarzer Pilz, der über Nacht aufgeschossen. Als Rosa zu ihm hinabstieg, pochte ihr Herz stärker, und als sie vor ihm stand, wußte sie nicht sogleich etwas Passendes zu sagen. Herweg schwieg auch und blickte seine Geliebte staunend an. So schön hatte er sie nie zuvor gesehen, und das machte ihn betroffen. Rosa lachte gezwungen, und dennoch schienen ihre Lippen ernster als sonst. In den so lustigen Zügen lag heute ein fremder Ausdruck von Erregtheit und Scheu, der sie verschönte. »Ah! Kollhardt, Sie sind da!« sagte Rosa endlich leise und trippelte umher, als fröre sie.
»Ja, Rosa.« – »Lange schon?« – »Nicht allzulange. Aber Sie, Rosa, haben Sie sich nicht gefürchtet, so allein bei Nacht?«
»O doch!«
Beide sprachen halblaut und hastig.
Herweg erhob sich. Ihm war sehr gefühlvoll ums Herz, bis auf die kleine Befangenheit, die er sich nicht eingestehen wollte. »Rosa«, sagte er ein wenig heiser und faßte die dunkle kleine Gestalt fest an die Schultern. »Oh!« rief Rosa und hüllte sich fester in ihr Tuch. So standen sie aneinandergelehnt: »Kollhardt«, versetzte Rosa, auf den Fluß hinausdeutend, »das dort, es ist doch Nebel?«
Unzweifelhaft war es Nebel. Ein durchsichtiges weißes Band, lag er auf dem Wasser und stieg die Ufer hinan. Jenseits des Flusses breitete sich das Land flach und dunkelgelb aus, hie und da von einzelnen Bäumen und Büschen mit schwarzen Flecken versehen.
Dahinter – am Horizont – hing ein ganz mattes weißes Leuchten.
Herweg drückte inbrünstig Rosas Schulter. Eine große Aufregung stieg in ihm auf, und laut hörte er das träge Schülerherz in seiner Brust pochen. »Rosa!« flüsterte er, »kommen Sie – komm – wir setzen uns aneinander.« Er breitete seinen Mantel auf das Heidekraut und drückte das Mädchen auf ihn nieder. Rosa ließ es geschehen. Fest in ihr Tuch gehüllt, saß sie da und schaute stet auf das Land hinaus.
Herweg näherte sich ihr behutsam, wie einem scheuen Vogel, faßte sie, beugte sie zu sich heran – sie gehorchte willig, dann küßte er eine der kühlen Wangen. Er wollte auch die Hände aus dem Tuch hervorholen, sie sträubten sich jedoch, und er mußte stärker an dem schwarzen Stoffe zerren. All das geschah schweigend; nur das tiefere Atemholen der beiden Kinder war vernehmbar.
Rosa machte sich von Herweg los und saß wieder gerade da. »Wissen Sie, Kollhardt«, sagte sie, »bei Lanins ist heute der Neue angekommen.«
»Nun, da wird sich Sally freuen.«
»Glauben Sie, daß er sie heiraten wird?«
»Nein.«
»Ich glaube das auch nicht.«
Ein Windstoß fuhr über das Land, jenes flüchtige Wehen, das die Runde durch die Sommernacht macht, ein kurzes Rauschen erweckt, uns streift, uns hastig Düfte ferner Gärten zuwirft und weiterzieht. Ringsum erwachten die Feldgrillen und begannen eifrig zu wetzen und zu sprechen; ein fast betäubendes Schrillen zog den Fluß entlang und antwortete vom Garten hinter dem Zaun und vom anderen Ufer. Aus einem entlegenen Felde drang der Ruf des Wachtelkönigs herüber, ein stetes Knarren, als zöge jemand eine rostige Uhr auf und würde nimmer fertig.
»Hörst du?« fragte Rosa und wandte ihr Gesicht der Richtung zu, aus der der Ton kam.
»Ja«, erwiderte Herweg begeistert und schlang seine Arme fest um das Mädchen. Rosa ließ nur einen tiefen Seufzer hören und lehnte ihren Kopf auf Herwegs Arm; er aber küßte ihr laut und stürmisch Wangen und Lippen, dann hob er ihren Kopf empor, um das Gesicht deutlich zu sehen; regungslos sah es zu ihm empor, bleich und ernst, in jenem Ernst, mit dem die Sinnlichkeit ein Frauenantlitz zu verschönen pflegt. Die Augen grellblau und gedankenlos. »Rosa, was ist Ihnen?« fragte Herweg erschrocken. Da richtete sich Rosa hastig auf.
Der Nebel war vom Wasser bis zu ihnen herangeschlichen. Wie weiße Gazefetzen lag er auf dem Kraut und glitzerte. Fern in der Stadt schlug die Turmuhr zehn. Ihre heisere Stimme rief mißgelaunte Töne in die Nacht hinaus, als wäre sie aus tiefem Schlummer aufgefahren, um verdrießlich ihre Pflicht zu tun.
»Es ist zehn Uhr«, sagte Herweg.
»Ja – ich gehe heim«, erwiderte Rosa, und während Herweg sich in seinen Mantel hüllte, ging sie unruhig hin und her und griff mit den Händen in die Nebelflocken, die über dem Grase hingen,
»Sind Sie fertig, Kollhardt?« fragte sie.
»Ja, ich führe Sie nach Hause. Nicht?«
»Nein, Kollhardt, das darf nicht geschehen. Sie gehen hier hinauf. Ich finde mich schon zurecht. Leben Sie wohl.«
Sie reichten sich ein wenig steif und ungelenk die Hände. Herweg wollte dann Rosa küssen, sie aber entwand sich ihm schnell und eilte den Pfad hinan.