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Am folgenden Tage war Rosa krank. Ja, sie fühlte sich sehr krank. Abgehetzt und atemlos fuhr sie aus dem Schlaf auf. Wirre Träume, auf die sie sich nicht mehr besinnen konnte, hatten sie gejagt und verfolgt. In Fiebernächten wird das aufgeregte Blut eine Peitsche, die uns nimmer Ruhe gönnt; jede neue Welle ein neuer Schlag, der uns aus einem wüsten Traumort in den andern treibt, bis wir, zu Tode ermattet, erwachen. Die wilden Träume hatten Rosa so weit von ihrem friedlichen Zimmer fortgetragen, daß sie sich jetzt verwundert umschaute. Sonnenstrahlen stahlen sich lustig gelb durch die Spalten der Vorhänge und zitterten als mattblonde Flocken auf der Wand. Eine Fliege schwirrte, leise summend, den Lichtweg vom Vorhang zur Wand auf und ab. In der Türe stand Agnes Stockmaier und schaute Rosa mit ihren ruhigen, matten Augen an, und diese Augen taten Rosa wohl – übergossen sie mit warmem Behagen, sicherer Gemütlichkeit. Rosa lehnte sich in ihre Kissen zurück und ließ sich anschauen.
»Was gibt's, Kind?« begann Agnes, und die sanfte, altgewohnte Stimme schien die Stille des Gemaches kaum zu unterbrechen. »Dir ist nicht gut? Im Schlaf hast du dich hin- und hergeworfen und hast gestöhnt. Was gibt's?«
»Nein, Agnes, mir ist nicht gut!« erwiderte Rosa. »Ich bin so müde.«
»So schlaf, Kind.«
»Das mag ich nicht.«
»Gut! Bleib wenigstens liegen. Aus der Schule wird heute ohnehin nichts.« Agnes rückte Rosa die Kissen zurecht und strich die Bettdecke glatt. »Ich bringe das Frühstück. Das kommt vom Tanzen.«
»Ach ja!«
Agnes ging, und Rosa lag wieder ruhig da, die Hände über der Bettdecke gefaltet. Sie wollte sich selbst die Überzeugung aufdrängen, sie sei krank und durchaus nicht imstande, Geschehenes klar zu überdenken, einen Entschluß zu fassen, eine Verantwortung zu übernehmen.
Agnes brachte das Frühstück, richtete Rosa auf, strich ihr das Haar aus der Stirne, hielt ihr die Schale mit Milch; unwillkürlich geriet sie wieder in das Geschäft des Wartens hinein, das sie so lange an der kleinen Rosa geübt hatte; und Rosa fand sich auch schnell wieder in die Rolle, Agnes' Schützling zu sein, der noch nichts von der bösen Welt der Tellerats und der Lurchs weiß.
»Du bleibst liegen, bis der Papa kommt«, beschloß Agnes. »Liege nur still. Zu Mittag stehen wir auf.« Sie schob die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster, warf einen prüfenden Blick auf das Gemach, wie sie es früher so oft getan, wenn sie das Kind allein ließ und sich vorher davon überzeugte, ob nichts im Gemach dem Kinde schaden könnte; dann ging sie mit dem gewohnten »Hübsch still! Ich bin gleich wieder da« hinaus.
Das Sonnenlicht drang jetzt voll in das Zimmer und beschien grell all die alten Sachen, die abgeblichenen Vorhänge, den struppigen Teppich – Rosas dunkles Werktagskleid. Durch das Fenster klang das eintönige Surren der heißen Mittagsstunde herein, und allerhand klingendes Sommergesindel mit flimmernden Flügeln verirrte sich in das Gemach. Rosas Gedanken gingen weit in frühe Kindertage zurück; immer wieder wollte sie den ereignislosen Frieden jener Zeit denken, es kostete sie jedoch Anstrengung, denn zuweilen entwichen die Gedanken zu einem Gegenstande, den Rosa vermeiden wollte. Nein, in jene Zeit wollte sie sich zurückversetzen, da sie auf dem Estrich der Küche saß und spielte, während Agnes die Suppe kochte und Blätterschatten über den weißen Küchentisch strichen, immer hin und her... doch ehe sie sich dessen versah, stand ein blasses, aufgeregtes Gesicht vor ihr – heiße Hände drückten ihren Arm – – –, gewaltsam mußte sie die Gedanken auf die frühere Bahn zurückdrängen; es gehörte jedoch eine Kraft des Willens dazu, die sie ermüdete, und sie ließ endlich von diesem unerquicklichen Ringen mit ihrer Phantasie ab. Gut, sie wollte an den gestrigen Abend denken, wenn es denn sein mußte! Nun, und als sie an ihn dachte, als sie sich jeden Augenblick, jedes Gefühl wieder in das Gedächtnis zurückrief – da war es so schlimm nicht. Über Lurch konnte sie lachen, und Ambrosius – – – der Gedanke an ihn machte sie unruhig, verleidete ihr die Stille des sonnigen Gemaches. Alle Mattigkeit war fort, neue Lebensungeduld ergriff sie.
Herr Herz kam: »Wie geht es, mein Kind? Die Agnes meint, du seist krank.«
»Es ist vorüber«, erwiderte Rosa. »Es war nur von gestern. Du weißt?«
»Ja, wir haben brav getanzt. Ein wenig gerader hättest du dich halten können; sonst war es gut. Du warst die Beste.« Herr Herz, frisch und rosig, mit klaren Augen und sehr weißer Wäsche, hatte schon viel erlebt. »Lanin«, erzählte er, »ist heute nicht im Magistrat gewesen. Der Doktor ging zur Frau Palton, die soll krank sein. Auch den jungen Tellerat habe ich gesehn; er stand dort beim Trödler Wulf und handelte um einen Pfeifenkopf. Der Kopf war nicht schlecht, aber der Wulf, der Schelm, betrügt all die jungen Leute.« Herr Herz wollte sich entfernen, öffnete aber noch einmal die Türe und rief: »Ich vergaß, dir zu erzählen, daß ich auch Klappekahl getroffen habe. Er klagt über Kopfweh – du verstehst, die gestrige Bowle.«
Auch das Mittagsmahl war sehr heiter. Rosa aß und sprach zwar wenig, dafür war sie aber stets zu einem lauten, herzlichen Lachen bereit, das ihren Vater glücklich machte. Um dieses ausgelassene Mädchenlachen zu erregen, wagte er alles, er hatte sogar einen Witz über seine selige Schwester Ina gemacht. Heute kritisierte er die gestrige Gesellschaft. Zuweilen steckte er seine Serviette fester hinter den Kragen, erhob sich und ahmte das Tanzen dieser oder jener Person nach. »Gott, die arme Ernestine Klappekahl; sie hat das Tanzen nie erlernt. Hast du sie beobachtet? Mit deiner lieben Mutter mußte ich vor vielen Jahren in einem Ballett einen Zikadenreigen tanzen. Wir hatten grüne Röcke an, lange, spitze, eckige Beine und hüpften umher. Grad so hat es gestern Ernestine Klappekahl gemacht. Ich mußte an den Zikadenreigen denken.« Und als Rosa lachte, wischte sich Herr Herz zufrieden die Lippen und meinte: »Ja – Kind, früher war ich ein arger Witzbold. Oh, sehr sarkastisch konnte ich sein. Das vergeht mit den Jahren. Aber ich hatte eine sehr scharfe Zunge.«
Am Nachmittag jedoch litt es Rosa nicht länger daheim. Eine innere Ungeduld trieb sie hinaus. Erst auf der Straße besann sie sich. Wohin eilte sie denn? Wo harrte – es – ihrer? Wo konnte sie es finden? – Zum Trödler Wulf wollte sie hinab.
Gerade dem Laninschen Laden gegenüber besaß der Trödler Wulf eine kleine Holzhütte. Sie lehnte sich an ein größeres Gebäude und sah mit ihren morschen Bretterwänden, ihrem Dach aus gesprungenen, ungeordnet übereinandergeschobenen Dachpfannen wie eine alte Schaubude aus, die man vergessen hatte abzureißen. Die Türe, in den engen Laden führend, stand immer offen. An den Türpfosten hingen alte Kleider, welke Hosen, die noch treu irgendeine wunderliche Krümmung, irgendeine Stellung ihres früheren Besitzers festhielten. Abgetragene Röcke spannten dort ihre Arme aus und sonnten ihre Fettflecken und Risse. Drinnen, im Laden, lag allerhand Gerät aufgehäuft. Die Ecken standen voll rostiger Eisensachen, an den Wänden hingen alte Tapisseriearbeiten, auf denen die Motten den gestickten Damen die blauseidenen Augen aus dem Kopf und die Rosen aus der Hand gefressen hatten. Stöße verbrauchter Schulbücher türmten sich bis zur Decke auf, trübe, zerknitterte Gesellen mit staubfarbigen Umschlägen und großen Rissen. Auf dem Ladentisch standen Glaskasten voll unechten Schmuckes, daneben Seifen, bunte Taschentücher, Messer, Kämme, Pfeifenköpfe, alles warm beschienen, dicht mit unsteten Lichtflocken übersät. Hinter dem Ladentisch saß der Trödler selbst, ganz in sich zusammengesunken, und schlief. Ein hageres gelbes Gesicht; aller Art Vertiefungen, Schrammen, wie das verbrauchte Gerät ringsum – braune Flecken, wie Rost. Ein dünner, abgeblichener Bart fiel ihm auf die Brust herab, und zwei fest zusammengerollte Löckchen hingen zu beiden Seiten des nackten Schädels. So schlief der Trödler Wulf inmitten seiner modernden Ware – in der schweren Luft voll Staub, Fliegengesumme und dem Geruch von Kräuterseife und alten Hosen. Draußen an der Türe lehnte Ida, seine Tochter, und unterhielt sich damit, Kieselsteine mit dem Fuße über die Straße zu schnellen. Ernst und sorgenvoll folgten ihre schwarzen Augen jedem dahinfliegenden Stein. Rosa blieb vor dem Judenmädchen stehen. »Warum tust du das, Ida?« fragte sie.
»Ich übe mich«, erwiderte Ida, ohne aufzublicken. »Wenn der Peter kommt, spielen wir das um Geld. Sie verstehen, Fräulein Rosa: Wenn ich's gut kann, dann gewinne ich dem Peter das Geld ab. Dort den Laternenpfahl gilt es zu treffen. So! – Sehen Sie, Fräulein Rosa –«, sie preßte die Lippen zusammen, zielte und schnellte den Stein gegen den benachbarten Laternenpfahl. »So hätte ich gewonnen.« Sie kreuzte die Arme über der Brust und blickte Rosa scharf ins Gesicht: »Gestern waren Sie schön, Fräulein Rosa. Durchs Fenster hab ich Sie gesehen.«
Rosa lachte. »Du hättest wohl gern mitgetanzt.«
»Hätte ich schöne Kleider, dann ja«, meinte Ida; »aber er war auch schön!«
»Wer?« Rosa errötete.
»Der junge Herr dort von Lanins. Mit dem hätte ich gern getanzt. Er war der Allerschönste. Nicht?«
»Was verstehst du davon?« versetzte Rosa unsicher.
»Schon recht«, erwiderte Ida ruhig; »wenn ich auch nichts davon verstehe, so weiß ich doch, daß er schön ist. Wenn er mit Ihnen tanzte, Fräulein Rosa, dann machte er ganz große Augen, das habe ich auch gesehen. Soll ich ihn rufen?«
»Ihn rufen? Warum?«
»Von drüben kann er ja leicht herüberkommen. Ich meinte, Sie wollen ihn sehen.«
»Oh, ich nicht!« rief Rosa und blickte zerstreut zu den Dächern auf. »Tu, was du willst.«
»Wollen Sie hier warten, Fräulein Rosa?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ruhe ich mich hier noch aus. Aber – du weißt, Ida – mir ist es gleichgültig, ob jemand kommt oder nicht. Ich wollte nur mit dir sprechen.«
»Schon recht«, bemerkte Ida und schurrte mit ihren abgetragenen Schuhen über die Straße, die Laninsche Treppe hinan. Rosa trippelte unschlüssig hin und her. Sollte sie weitergehen? Sollte sie bleiben? Sie lehnte sich an die Türe des Trödlerladens und schaute den Schwalben nach – mit einem hübschen Gesicht, das an nichts Besonderes zu denken schien. Endlich kam Ida wieder – langsam und gähnend herangeschlichen. »Er wird gleich kommen«, berichtete sie und setzte sich auf die Türschwelle.
»Ida – du hast doch nicht...?« rief Rosa. »Nun, mir gilt es gleich, ob jemand kommt oder nicht. Ich habe niemanden rufen lassen. Ich nicht.«
»Gut! So kommt er zu mir.« Dabei zuckte Ida die Achseln, schloß halb die Augen und saß schläfrig und ruhig da, wie ein altes, bleiches Weib, das all die Jugendtorheiten kennt und verachtet. Die Glocke an Lanins Ladentür erklang, und Ambrosius eilte auf die Straße hinab, ohne Hut, buntgestickte Pantoffeln an den Füßen und ein stolzes Lächeln auf den Lippen.
»Ein wenig in Negligé«, schrie er schon von weitem. Dann stellte er sich vor Rosa hin, eine Hand in die Seite gestemmt. »Aber bei Gott! Ich habe wunde Füße von gestern. Wie geht es dir? Hm – ach so, wir sind nicht allein. Wie geht es Ihnen, mein gnädiges Fräulein?« Dabei lachte er geheimnisvoll.
»Gut, recht gut, Herr von Tellerat«, erwiderte Rosa und wiegte verlegen ihren Oberkörper.
»Kommen Sie«, fuhr Ambrosius fort. »Stellen wir uns hier in die Nische zwischen die Tür und das Haus. Hier sieht uns kein Mensch, höchstens dort vom Salon aus; aber um diese Zeit geht niemand ans Fenster, das weiß ich! Ha – ha! Hier ist es nett, sozusagen gemütlich. Hat Ihnen der gestrige Schreck nicht geschadet? Ich war um Sie in Todesangst. Aber ich mußte fort, um Sie nicht zu kompromittieren. Der Lurch soll mir diesen Streich bezahlen. Er hat mich furchtbar angegriffen. Mitten in unserem Beisammensein, mitten in – hm«, er warf den Kopf zurück und suchte nach einem poetischen Ausdruck. »Mitten – sozusagen in der arkadischen Schäferstunde gestört zu werden, das zog mir das Herz zusammen.«
»Sie hätten es nicht tun sollen«, sagte Rosa leise.
»Warum nicht?« Ambrosius' Gesicht ward rot und böse. »Dazu mußte es kommen, liebste Rosa, du mußtest einmal erfahren, wie sehr ich dich liebe. Glaubst du, es hat mich nicht gekränkt, den ganzen Abend mit ansehen zu müssen, wie jeder Schulbub den Arm um ein Mädchen legen darf, das – hm, ja – das mir gehört? Dir war's vielleicht recht, ich aber litt darunter. Ich wollte dich für mich ganz allein haben.« Als er sah, daß Rosa über seine Heftigkeit erschrak, ward er ruhiger, gefühlvoller. Ach Gott! Rosa ahnte nicht, wie heiß er sie liebte, wie sie sein ganzes Glück in ihrer kleinen, leichtfertigen Hand hielt. Er kannte nicht flüchtige, oberflächliche Gefühle. Das war es, was ihm oft Unheil brachte, daß er es mit jeder Leidenschaft zu ernst nahm. Er war zu tief angelegt, zu treu; er dachte zu gut von den Menschen. All dieses trug er mit ruhiger Stimme vor, wiegte sich von einem Bein auf das andere, blickte über das Mädchen hinweg die alten Kleider an und verzog ein wenig das Gesicht, weil die Sonne ihm in die Augen schien.
Rosa, sich fest an die Wand des Hauses lehnend, lauschte andächtig den klingenden, abgegriffenen Liebesphrasen. Der weiche, gedämpfte Stimmenton des jungen Mannes wiegte sie in eine angenehme Schlaffheit. Sie achtete kaum mehr auf den Sinn der Worte, der Klang allein schien ihr schon etwas Schwüles, Bestrickendes an sich zu haben, etwas, das zu Kopf steigt und die Gedanken einschläfert.
Die Straße vor ihnen war leer, in den hellbeschienenen Häusern waren die Vorhänge herabgelassen, auf dem sonnigen Marktplatze trieben sich nur die Spatzen um, sanfte, abgerissene Vogellaute einander zuwerfend, und schaute man in die Ferne, dann glaubte man ein flimmerndes Zittern der Luft wahrzunehmen.
Ambrosius war jetzt bei der Schilderung seines wunderbar wechselvollen Herzens angelangt, wechselvoll in toller Lust und rätselhafter Melancholie; aber immer beständig in – hm, der Neigung zur Geliebten. Von jeher war es sein Wunsch gewesen, mit einem Weib, das mit ihm sympathisierte, nach einer unbewohnten Insel zu entfliehen, um nur der Liebe zu leben, und Rosa war dieses Weib.
Die Geschichte mit der unbewohnten Insel ergriff und begeisterte Rosa. Groß und zärtlich richtete sie ihre Augen auf Ambrosius, als er aber leidenschaftlich ausrief: »Du bist dieses Weib, das ich suche!« da lachte Rosa. Niemand hatte sie bis jetzt noch »Weib« genannt, das war ihr zu neu. Sie fühlte es wohl, wie unpassend es war, zu lachen, wie sehr Ambrosius das übelnehmen mußte, und dennoch tat sie es – noch dazu das törichte, herausplatzende Lachen der Schankschen Schülerinnen. Ida, an die niemand gedacht hatte, stimmte laut und rauh in dieses Lachen ein. Ambrosius ward dunkelrot, die Ader auf seiner Stirn schwoll an, und in maßloser Wut fuhr er auf das Judenmädchen los, stieß es mit dem Fuß. »Was? Du bist noch hier? Ich will dich lehren, hier horchen.« Ida erhob sich und schlich langsam und krumm fort, mit ihren blanken Augen schiefe, giftige Blicke auf Ambrosius werfend. »Kanaille!« rief dieser ihr nach.
»Oh, lassen Sie sie!« flehte Rosa. »Sie erzählt sonst alles weiter.«
»Sie möge!« rief Ambrosius heftig. »Ich mache mir nichts daraus. Ich fürchte mich vor niemandem. Mir ist alles gleich, und dir – dir ist auch alles gleich. Alles – alles.«
Er ergriff Rosas Hand und hielt sein zorniges, erhitztes Gesicht nahe an das Gesicht des Mädchens. »Ist dir nicht alles gleich – sage –!« Rosa schwieg – sie fürchtete sich, er aber faßte sie an die Schultern und küßte sie fest auf die Lippen, als wollte er ihr wehtun; dann seufzte er, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und versetzte düster: »Wenn ich einen Herzkrampf bekomme, so ist es deine Schuld. Ja, in meiner Jugend habe ich eine Herzbeutelentzündung gehabt. Nun – auch das ist gleich!« fügte er hinzu – und schritt langsam über die Straße, die Arme über der Brust gekreuzt, den Kopf sinnend niedergebeugt. Von der Laninschen Treppe aus warf er noch einen traurigen Blick zurück und trat dann stolz und hochaufgerichtet in den Laden.
Erschrocken und betrübt blieb Rosa auf ihrem Platz stehen. Sie hatte ihn beleidigt! Zornig hatte er sie verlassen, um – dort drinnen – vielleicht einen Herzkrampf zu bekommen. Sie empfand tiefes Mitleid. Oh, wenn er jetzt wiederkäme – alles wollte sie für ihn tun; alles könnte er sagen, und sie würde gewiß nicht mehr so kindisch und kleinstädtisch lachen. Sie wollte gleich mit ihm auf seine einsame Insel fliehen – wollte ihn verstehen und bewundern. Wie schön hatte er ausgesehen, als er sie so grimmig küßte!
An die schmutzige Trödlerbude gelehnt, stand das arme Mädchen – bleich vor Aufregung – die Augen voller Tränen auf den garstigen Mohren des Laninschen Ladens gerichtet, und sagte sich, wie sehr es Lanins großen, unglücklichen, herzkranken Ladendiener liebte. –
Diese Zusammenkünfte an der Trödlerbude wurden zur täglichen Gewohnheit. Jeder Tag hatte für Rosa jetzt nur eine goldene Stunde, die sie nicht müde ward, mit Herzklopfen herbeizusehnen, und das nannte sie »ihre große Liebe«.
Wenn die Stunde kam, wenn die Straßen stiller und das Heer der Fliegen und Mücken in der heißen Luft lauter wurde, dann duldete es Rosa nicht länger daheim. Oft – wenn Herr Herz mit dem Aufheben der Tafel zögerte, um noch eine Geschichte zu erzählen – ward Rosa von stürmischer Ungeduld geschüttelt. Sie zerknitterte das Tischtuch zwischen ihren Fingern, stieß mit dem Absatz gegen den Stuhlfuß; sie hatte nur die Trödlerbude im Sinn, das liebe kleine Haus, ganz warm von Sonnenschein – mit seinen alten Kleidern, seinem Geruch nach Kräuterseife und Staub. – Ach Gott, wäre sie nur schon dort! Kaum war die Geschichte auserzählt, als Rosa schon von ihrem Stuhl aufsprang; pfeilschnell ging es die Treppe hinab, und unten auf der Straße trank Rosa in einem langen Atemzug die schwüle Luft der Mittagsstunde, die Luft ihrer Liebesgeschichte. Wie verachtete sie all die Menschen hinter den niedergelassenen Vorhängen. Dort, in den engen Stuben wohnte die fade, eintönige Philisterwelt – die Schanks – die Klappekahls – die Rasers. – Hier, durch das Geflimmer der Mittagsstunde, schwirrten wunderliche, kichernde Gestalten, deren jede ein heiteres Geheimnis bewahrte – hier wohnten die Liebenden; hier drängte sich Ida in den Häusernischen an ihren Schusterbuben – hier war Ambrosius zu finden. Er erwartete Rosa hinter der Türe des Trödlerhauses. Am Tage nach dem ersten Zusammentreffen war er noch ernst und weich gestimmt. Rosa habe, sagte er, mit ihrem Lachen sein Herz gerade in dem Augenblick tief verletzt, da er es ihr ganz erschließen wollte: »Es war mir, als hätte jemand mir ein Glas Wasser über den Kopf gegossen – würde ein Dichter sagen.« Hiermit war die Versöhnung besiegelt und die Liebe begann, denn es war von ihr nicht mehr so viel die Rede. Lange, trauliche Plaudereien kamen an die Reihe. Die Geheimnisse der Schankschen Schule und des Laninschen Haushaltes wurden erörtert, und wenn Ambrosius sich ganz nah an Rosas Ohr heranbeugte, um etwas besonders Wichtiges zu erzählen, dann kicherte Rosa jenes unterdrückte Lachen, das man von Kindern an solchen Orten hört, wo das Lachen verboten ist. Am häufigsten drehte sich das Gespräch um Fräulein Sally, und dabei konnten die Liebenden am herzlichsten lachen, als wäre Fräulein Sallys Leben das beste Lustspiel. Ein römisches Mädchen, das in den Ehestand trat, weihte ihr Kinderspielzeug der Venus; heute opfert ein Mädchen der Liebe ihre Schulfreundin, das artige Spielzeug der Backfischjahre.
Zuweilen ward Ambrosius wieder weihevoll und poetisch und sprach von seinem leidenschaftlichen Herzen, von der Herzbeutelentzündung, von einem dämonischen Weibe, das er geliebt hatte. Rosa hörte ihm bewundernd zu, obgleich sie der Gedanke quälte: »Welch ein Unglück, wenn ich jetzt lachen müßte.« – Sobald es sich aber tun ließ, lenkte sie das Gespräch auf seine frühere Bahn zurück: »Was hat Sally noch gesagt? Was tut sie noch? Erzähle!« Und Ambrosius konnte nur selten den blauen Augen widerstehen, die ihn lustig erwartungsvoll anschauten, und dem spöttischen Munde, der bereit war, beim ersten Wort einer Sally-Anekdote zu lachen.
Wenn endlich die Sonnenstrahlen gar zu heiß herniederbrannten, wurden beide des Sprechens müde. Schweigend standen sie beieinander, Schulter an Schulter, Hand in Hand, und blinzelten sich schläfrig in die Augen. Aus dieser süßen Erschlaffung erwachten sie dann mit doppelt zärtlichen Herzen. Sie drängten sich in der Ecke der Trödlerbude aneinander und schworen sich ihre Liebe zu: »Rosa – Rosa! Ich liebe dich. Bei Gott! Du bist mir das Höchste.« – »Ja, Amby, ich bin dir sehr gut – sehr!« Und sie umarmten sich vor dem ganzen Marktplatz und all den dummen Fenstern mit den fest zugezogenen Vorhängen.