Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Herrn Klappekahls Apotheke war ein äußerst freundlicher Aufenthalt. Geräumig, weiße Spitzenvorhänge an den Fenstern, ein Mosaikfußboden, der auf blaugrauem Grunde weiße Sterne zeigte, allenthalben eine Verschwendung an Mahagoni, die Türe, die Schränke, die Fensterbänke, die Stühle – alles von Mahagoni und spiegelblank. Auf der grauen Marmorplatte des Ladentisches standen in musterhafter Ordnung Waagen, Mörser, Gewichte von jeder Größe. Die Schränke waren voll schneeweißer Büchsen und klarer Flaschen, und alles das von goldenem Morgensonnenschein überflutet, von einem scharfen Geruch von Medikamenten umweht, zu dem ein Rosenstrauß auf dem Fensterbrett seinen zarten Duft gesellte. Vor diesem Rosenstrauß stand Herr Klappekahl, frisch gekämmt, rosig, in seinem leinenen Sommeranzug, so rein und blank wie seine Büchsen oben in den Fächern. Er suchte sich gerade eine Rose aus, um sie in sein Knopfloch zu stecken. In dem Blick, den er auf den kleinen Platz vor dem Hause warf, lag eine Welt von Güte und Frieden. Jetzt war der Entschluß gefaßt, jetzt wußte er es, jetzt war ihm die gute Tat eingefallen, mit der er diesen schönen Sommermorgen beginnen wollte. Er ging zur Türe, öffnete sie und rief sanft: »Zapper!«

Zapper kam; ein schmaler, bleicher Junge mit hervortretenden blauen Augen und einem stark entwickelten Kehlkopf, auf dem sich ein Ansatz von Bart befand. Das blonde Haar hing ungeordnet um den Kopf und war voller Federn. Auf seinen Anzug hatte Zapper gar keine Sorgfalt verwandt. Der Rock war nicht gebürstet, die Hosenträger fehlten ganz. Beinkleid und Weste schieden sich und ließen einen weißen Streif sehen, der Zapper Ähnlichkeit mit jenen Puppen gab, die eine grausame Kinderhand mitten durchgebrochen hat und die nun hilflos ihr Inneres von weißer Watte sehen lassen. Zapper gefiel seinem Prinzipal auch nicht. »Zapper«, sagte Klappekahl und zog die Nase kraus. »Wie haben Sie vorige Nacht wieder gelebt?« Zapper schwieg und zog seine Beinkleider mit beiden Händen empor. »Junger Mann«, fuhr Herr Klappekahl fort, »sehen Sie sich vor. Ich sage Ihnen nur dieses. Sie kennen meinen Grundsatz: Ein jedes zu seiner Zeit. Der Mensch muß in alles Harmonie zu bringen wissen. Hier, in mein Haus, paßt die Unsolidität nicht hinein. Solange Sie bei mir sind, müssen Sie sich dem Ton des Hauses fügen. Dieser Ton, Sie wissen es ja, ist strenge Moralität. Dafür gestehe ich Ihnen das Recht zu, wenn Sie einmal selbständig sind und in eine größere Stadt kommen, sich das Leben von der anderen Seite anzusehen. Harmonie – das ist's, hat schon ein – ein großer Denker gesagt.«

Zapper empfand es wohl, wie wenig er in Harmonie stand mit der reinlichen Apotheke und mit seinem schneeweißen Herrn; reumütig schlug er die Augen nieder. »Frisieren Sie sich vor allem«, versetzte der Apotheker väterlich. »Dann gehen Sie ins Freie; das wird Sie ermuntern.«

»Ja – Herr Prinzipal.«

»Gehen Sie nur; merken Sie sich meine Worte. Der Mensch muß sich erst eine moralische Basis erwerben, ehe er darangeht, die Tiefen des Lebens kennenzulernen. Übrigens können Sie beim Trödler Wulf anspringen. Die alte Frau soll krank sein. Sie hat ihren Husten, sagte mir der Jude. Ich habe hier einen Rest Brustpastillen; den kann sie haben, wenn die Ida ihn holt. So, Sie können gehen. – Die Ida soll gleich kommen«, rief er noch dem hinausschlüpfenden Zapper nach.

Herr Klappekahl war wieder allein in seiner schönen Apotheke. Mit kleinen Schritten ging er auf und ab, fuhr zuweilen mit der Hand über die Marmorplatte des Ladentisches, ergriff diesen oder jenen Gegenstand und ließ ihn in der Sonne funkeln, strich mit dem Fuß den grünen Laufteppich glatt – bedächtig und zart, jede Bewegung eine Liebkosung.

Plötzlich ward die Türe aufgestoßen, und Fräulein Ernestine steckte einen Kopf mit sehr hoher Frisur ins Zimmer. »Vater –«

»Nun« – Herr Klappekahl schaute nicht auf, sondern rieb ein Gewicht an seinem Ärmel blank.

»Der junge Mensch ist um zwei Uhr morgens nach Hause gekommen; ich hab ihn gehört.«

»Ich weiß es, ich habe darüber mit ihm gesprochen.«

»Es ist ein Skandal! In seinem Zimmer habe ich soeben ein zerbrochenes Glas gefunden.«

»Setze es ihm auf die Rechnung.«

»Es ist schon das dritte.«

»Seine Sache.«

»Vater! Was hast du über die Rosa Neues erfahren?«

»Nichts.«

»Ach so! Ich dachte mir's.«

Bums – Fräulein Ernestine warf die Türe ins Schloß und verschwand. Der Apotheker rückte einen Stuhl in den Sonnenschein, setzte sich und gab sich dem stillen Vergnügen hin, die Sonnenstrahlen bald auf dem rechten, bald auf dem linken Stiefel spielen zu lassen. Endlich gab die Türglocke einen hellen Ton von sich, und Ida Wulf erschien.

»Du bist's, Ida? Komm näher, mein Kind«, sagte Herr Klappekahl und lächelte ermutigend.

»Der Herr Zapper«, berichtete Ida mit lauter Stimme, »schickt mich her. Der Herr Apotheker, sagt er, wollen etwas für die Mutter geben.«

»Ja, mein Kind! Hier nimm«, Herr Klappekahl hielt dem Mädchen eine kleine blaue Papiertüte hin, »gegen den Husten ist das.«

»Ich danke schön, Herr Apotheker«, versetzte Ida und wog die Tüte in der flachen Hand. »Ich werd's der Mutter sagen.«

»Tu das, mein Kind.« Herr Klappekahl setzte sich wieder bequem zurecht und fuhr fort, seine Stiefel zu sonnen. »Nichts Neues, Ida?« Das Mädchen stand breitbeinig da und versuchte die Namen auf den Büchsen zu entziffern.

»Bei uns? Nein, nichts Neues, Herr Apotheker.«

»So – so! Sonst alles gut? Kommt der junge Herr von Tellerat noch oft zu euch?«

»Der, ja, zum Vater.«

»Er schenkt dir wohl zuweilen etwas?«

Heiter blinzelte Klappekahl zum Judenmädchen hinüber. Ida aber blieb ernst. »Mir?« sagte sie. »Nein! Fußtritte gibt er mir.«

»Warum das?«

»Weiß ich's?«

Herr Klappekahl ward unruhig. »Fußtritte also – hm –« wiederholte er; dann rief er plötzlich: »Da fällt mir etwas ein! Was war denn gestern bei euch los? – Die Rosa Herz... nicht?« Ida nickte. »Was wollte sie denn bei euch?«

»Ja, sie war da«, bestätigte Ida.

»Gut, erzähle!«

Ida dachte nach. »Der Schusterbub Peter«, begann sie langsam, »hat sich die Hand zerschnitten. Ich wollte den Herrn Apotheker um ein Stück von dem guten Pflaster für den Peter bitten.«

»Gewiß, gewiß.« Herr Klappekahl lächelte, aber nicht mehr so heiter wie vorhin. Während er das Pflaster zurechtschnitt, berichtete Ida mit eintöniger Stimme und wiegte sich auf ihren schiefgetretenen Absätzen hin und her.

»Was sie getan hat? Der junge Herr hat vor der Tür auf sie gewartet – sie ist gekommen – dann hat er sie um die Mitte genommen, und sie haben miteinander gesprochen. Später sind sie zu uns ins Zimmer gekommen.« Herr Klappekahl hielt im Schneiden inne und hörte zu. »Die Vorhänge habe ich zugezogen. Die Mutter und ich blieben im Zimmer.« Herr Klappekahl schnitt weiter. »Gesprochen haben sie, aber ganz leise. Jetzt ist das Pflaster groß genug, Herr Apotheker.«

»Gut, gut, Ida! Hier hast du es. Sei recht brav. Behüte dich Gott!«

»Danke, Herr Apotheker.« Mit diesen Worten schob sich Ida zur Tür hinaus.

Nun ward Herr Klappekahl ungeduldig, und als Zapper ins Zimmer trat, rief er ihm ärgerlich entgegen: »Wo bleiben Sie? Sie wissen doch, daß ich in den Magistrat muß. Ich kann die Stadtangelegenheiten nicht versäumen, weil Sie ihren Katzenjammer spazierenführen wollen.« Geläufig fortscheltend suchte er seinen Spazierstock aus der Ecke hervor, nahm seinen Strohhut vom Nagel, stellte sich vor den Spiegel, er begriff wirklich nicht, wie ein junger Mensch so wenig Moralität haben konnte! Den Strohhut rückte er keck auf die linke Seite, schlug mit dem Stock auf den Ladentisch, er hoffte, Zapper würde in seiner Abwesenheit nicht einschlafen. Dann warf er noch einen Blick in den Spiegel und verließ das Gemach.

Bei Gott, dieser liederliche Zapper war schuld daran, daß Herr Klappekahl die Sitzung versäumte. Es war schon zwölf Uhr vorbei, und als der Apotheker auf den Marktplatz gelangte, standen die Herren vom Magistrate schon alle auf der Rathaustreppe, im Begriff heimzugehen. Vordem sie sich trennten, unterhielten sie sich noch einen Augenblick. Der kleine Kaufmann Paltow mit dem schlauen, glattrasierten Gesicht und der mächtigen Nase zündete sich gerade eine Zigarre an, wiegte sich auf seinen krummen Beinen hin und her und hörte eine Geschichte an, die der Sekretär, Herr von Feiergroschen, erzählte – ein sehr adretter junger Mann mit einem rotgoldenen Backenbart, einem goldenen Kneifer auf der Nase und Lackstiefeln an den Füßen. Da war ja auch Lanin! Er verabschiedete sich gerade von dem dicken Bäckermeister Vogt und dem Advokaten Grupe.

»Die Ehre, Lanin!« rief Klappekahl. »Die Ehre – die Ehre«, erwiderte Lanin und lüftete seinen Hut. Klappekahl fand es natürlich, daß er nicht stehenblieb, um zu plaudern. Wenn man solche Geschichten im Hause hat!

Auf der Rathaustreppe ward der Apotheker mit lauten Rufen empfangen. »Da kommt unser pünktlicher Stadtvater!« meinte Herr von Feiergroschen, und Paltow fand, daß Klappekahl heute zu lange Toilette gemacht habe.

»Es ist nicht meine Schuld«, entschuldigte sich Klappekahl. »Dieser unglückliche Zapper macht mir viel Sorge. Wenn man solch einen jungen Menschen im Geschäft hat, geht nichts vorwärts.« Dann nahm er den Sekretär beiseite. »Wie sah denn Lanin heute aus?«

»Ich habe nichts bemerkt. Warum?«

»Wie? Sie wissen's noch nicht?« Herr Klappekahl rückte dem Sekretär nahe auf den Leib, steckte sein Gesicht in den rotgoldenen Backenbart und erzählte die Geschichte von der Rosa. – Belustigt hörte der schöne Sekretär zu.

»Nicht möglich!« Er lachte, vorsichtig den Kopf zurückbiegend, damit die Gläser ihm nicht von der Nase fielen. Die anderen Herren kamen auch heran – sie wollten auch hören, und Klappekahl erzählte immer wieder die Angelegenheit. Er war gut unterrichtet, fügte neue Einzelheiten hinzu, und die alten Herren, die Hände in den Taschen, gaben ihrer Entrüstung Ausdruck, während ein Lächeln ihre blassen Lippen kitzelte. Nur der Sekretär nahm die Sache nicht so ernst. Er fand das alles ganz in der Ordnung. »Gott, ich habe nie etwas anderes erwartet. Der Rosa Herz sah man ja die Lebensneugierde an den Augen an. Sie hat die erste Gelegenheit benützt, sich zu belehren. Dieser – oder ein anderer, einer mußte es sein. Mir hat sie genug Blicke zugeworfen. Soll der junge Tellerat vielleicht den Spröden spielen? Lächerlich! Er ist ein sympathischer Junge, ich kenne ihn. Sie ist ein hübsches Mädchen. Ich finde nichts Merkwürdiges an der Geschichte!«

»Ja, aber Lanin«, warf Paltow ein. »Der hat doch auf den jungen Mann für seine Tochter gerechnet, sagt man.«

»Gut! Warum nicht?« Herr von Feiergroschen fand, daß die Affäre mit der Rosa Lanins Pläne nicht durchkreuzte. Man sollte doch nicht glauben, der junge Tellerat würde die Rosa heiraten. Gewiß nicht! Er konnte ja noch immer reuig zu Sally Lanin zurückkehren. Solche Jugendverhältnisse sind für beide Teile nur Vorstudien für das spätere Leben. Die Stadtväter schüttelten die Köpfe, sie fanden das frivol. War der alte Herz nicht ein anständiger Mann und Bürger der Stadt, trotz seiner Ballettvergangenheit? Wurde er nicht in den besten Häusern empfangen? Nein, man durfte die Geschichte nicht so beurteilen, als wäre Rosa Herz die erstbeste. Gehört man zur guten Gesellschaft, so muß man sich auch danach benehmen, nicht wahr? Über Ambrosius waren alle einig, daß er ein liebenswürdiger, netter junger Mann sei. Leichtsinnig – ja! Aber er war jung und reicher Leute Kind. Der alte Herz, Rosa, Lanin, das waren die Schuldigen. Breitbeinig standen die erhitzten alten Herren auf der Rathaustreppe, ließen die Breloques auf den spitzen Bäuchen klirren und machten bedächtige Gesichter. Vor ihnen lag – in der Mittagsglut – der Marktplatz. Unter den leinenen Schutzdächern schlummerten die Verkäuferinnen mitten unter den Haufen grünen Gemüses. Landleute hatten sich auf das Pflaster gesetzt; einen Korb mit Eiern neben sich, ein mattes Huhn unter dem Arm, steckten sie ihre Köpfe über einem Suppentopf zusammen, kauten langsam und bedächtig, müde zu den sonnbeglänzten Dächern aufschauend. Nur wenige Käufer waren zu sehen. Hier und da ging eine alte Dame mit einer Handtasche am Arm kostend von Korb zu Korb, oder ein Kind stellte sich vor der Obstbude auf die Fußspitzen, um sich die größte Birne auszusuchen. Leute, die an der Rathaustreppe vorüber mußten, grüßten ehrerbietig hinauf, und die Stadtväter dankten, zogen ruhig und mechanisch, als Männer, die das Grüßen gewohnt sind, die Hüte ab und zeigten ihre blanken Glatzen.

»Meiner Seel! Da ist sie!« rief der Sekretär plötzlich.

»Wo – wo?« Alle reckten die Hälse, schützten mit der flachen Hand die Augen vor der Sonne.

Auf der anderen Seite des Platzes erschien Rosa; den grauen Sommermantel lose um die Schulter geworfen, den Strohhut im Nacken, die Stirn voll wilder blonder Haarbüschel, ging sie träge und ein wenig mißmutig einher. Als sie an den Herren vorüberkam, grüßte zuerst der Sekretär, und die andern griffen unwillkürlich auch an die Hüte. Rosa dankte mit einem artigen Kopfnicken.

»Da kann man sagen, was man will«, bemerkte Klappekahl, »sie hat eben nicht solides Blut in den Adern. Das habe ich schon erkannt, als sie noch so – groß war. Sie ist aus anderem Teig gebacken wie unsereins – Bühnenblut.«

Das war's. Alle stimmten dem bei, bis auf den Sekretär, der nachdenklich seinen goldenen Bart zupfte. Man trennte sich: »Auf Wiedersehen! – Bonjour! – Habe die Ehre!« Ein jeder wollte heim; die Suppe wartete, und ein jeder war froh, Rosas Liebesgeschichte als hübsche Überraschung nach Hause bringen zu können. Ja, dieser Liebesgeschichte gehörte der Tag. Sie wurde nicht nur bei den Mittagstischen der guten Gesellschaft mit jedem neuen Gang immer wieder neu aufgetragen, sie war auch die Gratiszugabe für jede Flasche Soda, für jedes Pillenschächtelchen, das in der Apotheke verabreicht ward, für jedes Band, das Herr Paltow verkaufte. Natürlich, so etwas war seit Menschengedenken nicht passiert! Wenn man sich am hellen lichten Tage hinter die Türe einer Trödlerbude stellt und sich küßt, wenn man guter Sitte und althergebrachter Moral achtlos in das Gesicht schlägt, dann kann man nicht erwarten, daß die Leute ruhig zusehen und schweigen. Man küßt sich in hohen Bürgerkreisen bei der Verlobung und gleich nach der Verheiratung, das muß jedes guterzogene Bürgermädchen wissen. Wenn aber zwei Kinder aus guten Häusern es unternehmen, im Angesicht der Firma Lanin einen abenteuerlichen Roman abzuspielen, dann müssen sie sich auch darauf gefaßt machen, daß die Bürgerschaft, um die Würde des Standes zu wahren, ernstlich dagegen Protest einlegt. Dennoch war all dieses Rosa durchaus nicht klar. Daß Sally sie belauscht hatte, war lächerlich und widerwärtig, gewiß! Und dennoch war etwas daran, das Rosa nicht mißfiel. Sally, die immer so großtat, die alle Welt glauben machen wollte, Ambrosius sei in sie verliebt – nun hatte sie eine Niederlage erlitten, die ihr wohl zu gönnen war. Jetzt sollte Sally einmal Rosa beneiden, während Rosa bisher immer Sally beneidet hatte um Kleider, Bänder, Taschengeld, Bonbons. Wie prosaisch und arm mußte Sally sich selbst jetzt erscheinen. Ihr entgegentreten, davor scheute Rosa noch zurück und hatte sich bei Fräulein Schank krankmelden lassen.

Nachdem sie den Morgen über in ihrem Zimmer auf dem Sofa gelegen hatte, um nachzudenken, entschloß sie sich, um zwölf Uhr auszugehen. Die Zeit des großen Sonnenscheins war ja ihre Stunde. Das Laninsche Haus, Wulfs Laden vermeidend, ging sie über den Marktplatz und irrte in entlegenen kleinen Gassen umher, die heiß und leer zwischen niedrigen Holzhäusern und Gemüsegärten lagen. Oft blieb Rosa stehen, lehnte sich an einen Gartenzaun und schaute die Reihe der Salatbeete entlang. Eine Wolke weißer Schmetterlinge wogte über den krausen Blättern. In den Nesseln am Zaun regten sich zahllose Hummeln und sandten ihr eigensinniges Brummen zu Rosa empor. Seltsam! Dieses Gärtchen mit seinem gelben Sonnenschein verstimmte Rosa, raubte ihr das erwartungsvolle Festtagsgefühl, dem sie heute morgen noch nachgeträumt hatte. Ambrosius' Liebe war als etwas Neues und Hübsches in ihr Leben hineingekommen; etwas, das blank wie sein Hut, süß wie der Duft seiner Haarpomade war. Was aber mehr war, diese Liebe erschien Rosa wie der Anfang eines besseren, glücklicheren Lebens, und daher dieses angenehme Gefühl, wie wir es am Vorabend eines Festes haben.

Ob sie heute oder morgen einige Widerwärtigkeiten zu ertragen hatte, was lag daran, das große Ereignis würde auch die beseitigen. Nun aber, vor der Alltäglichkeit des kargen Gärtchens, vor dem gähnenden Frieden der grauen Häuser, im regelmäßigen Sumsen der Mittagsstunde, begann sie zu zweifeln. Wird Lanin der Schank nicht alles erzählen? Wird es nicht Demütigungen und Widerwärtigkeiten geben? Und der Vater? Was wird er sagen? Wird er nicht traurig und ergeben die grauen Haarbüschel über den Augen emporziehen, was Rosa immer ärgerte und betrübte? Morgen oder übermorgen mußte sie doch wieder in den abgestandenen Tintengeruch der Schulstube hinein, und nichts – nichts hatte sich geändert! Furcht vor Strafe und Schelte stieg in Rosa auf, jenes lose, ungeordnete und unsichere Gefühl kleiner Mädchen, die etwas Unrechtes zu verbergen haben. Wo war denn Ambrosius? Warum schützte und tröstete er sie nicht? Warum nahm er sie nicht und führte sie weit fort? Rosa begann zu weinen, von der Sonne angeglühte Tränen, die ihr auf der Wange brannten. Sie sehnte sich nach Ambrosius. Wäre er nur da mit seinen sonntäglichen Kleidern, seinem hübschen, leichtsinnigen Gesicht, seinen schönen Redensarten, in denen immer das Wort »Liebe« vorkam! »Ja! Liebe – Liebe – Liebe«, sprach Rosa eigensinnig vor sich hin und schlug mit der Faust auf die Bretter des Zaunes. Liebe wollte sie – sie liebte Ambrosius – Ambrosius liebte sie – sollte sie heiraten, reich und vornehm machen – Hochzeit und Reisen, und gleich jetzt mußte es geschehen, ehe die Schank und Sally und Lanin über sie herfielen. Eilig trat Rosa den Rückweg an. Wenn sie sich unbemerkt glaubte, lief sie – das Gesicht glühend, Schweißtropfen auf der Stirn und die Augenwinkel noch feucht von Tränen.

Zu Hause fand Rosa einen Brief vor.

»Liebchen! Ich leide furchtbar. Wo kann ich Dich sprechen? Der Peter holt die Antwort. Unserem Verhältnis droht Gefahr. Schreibe mir sogleich. Mit schwerem, aber Dir ewig treuem Herzen A. v. T. 28. August.« –

»Lieber Amby!« antwortete Rosa. »Komme heute um acht Uhr zum Fluß hinab. Hinter der Hütte des alten Raute erwarte ich Dich. Ich habe auch große Sehnsucht, Dich zu sehen. Lebe wohl. Einen Kuß von deiner  R. 28. August.«


 << zurück weiter >>