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Der Trödler Wulf hatte sein möglichstes getan, um den rücksichtslosen Sonnenschein dieses Sonntagmorgens aus seinem Wohnzimmer auszuschließen. Da die roten Vorhänge nicht genügten, hatte er das gelbe Tuch seiner Frau vor das Fenster gehängt, aber durch die kleinen, von den Motten hineingestochenen Löcher sandte die Sonne doch scharfgoldene Strahlen in das Zimmer, um die sich dann gleich ganze Staubsäulen drehten. Vor dieser unerwartet im September eingetretenen Hitze vermochte sich niemand zu schützen, so war auch das niedrige Gemach des Juden ganz durchglüht. Die Scherben, Lumpen, Papiere ringsum schienen in der Wärme zu neuem Leben zu erwachen, und dem Eintretenden schlug es wie ein heißer staubiger Atem entgegen, der sich auf die Lunge legte.
Ambrosius, Lurch und der Trödler saßen um den kleinen Tisch am Fenster und schwiegen. Ein jeder blickte starr und gereizt vor sich nieder. Lurch war sehr bleich. Den Kopf neigte er auf die rechte Schulter und knöpfte seine Weste nervös auf und dann wieder zu, während Ambrosius, in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Hände in den Hosentaschen, ruhig und gleichgültig scheinen wollte, aber zwischen den Augenbrauen, um die Mundwinkel, an den Schultern selbst verriet ein leichtes Zucken die Aufregung, in der er sich befand. Wulf war verlegen, rieb sich sanft mit den Handflächen die Kniescheiben und schaute lächelnd auf den weißen Papierstreifen, der vor ihm auf dem Tisch lag.
Endlich begann Lurch zu sprechen. Ohne aufzublicken, mit mißmutig verzogenem Munde, redete er wie ein zänkisch schmollendes Kind vor sich hin: »Warum soll ich das tun? Wozu brauch ich das? Hab ich denn etwas davon, wenn Sie mit Fräulein Rosa fortgehen? Warum soll ich Geld riskieren, damit andere Leut sich – sich –?« Er sprach den Schluß nicht aus, sondern schluckte ihn laut und mühsam hinunter.
»Gut, gut! Wir wissen's schon!« meinte Ambrosius und erhob sich, um im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Ich tu's eben nicht«, wiederholte Lurch, indem er verstockt mit dem Kopfe wackelte. Ambrosius blieb vor ihm stehen, zog die Augenbrauen empor und sagte mit einer Stimme, die rauh ward, weil sie ruhig sein wollte: »Hab ich denn etwas gesagt? So schweigen Sie doch! Es ist gewiß nicht unterhaltend, immer dasselbe anhören zu müssen. Ich habe Sie gebeten, noch zwanzig Minuten hier zu warten, nur das. Vielleicht ist es nicht gegen Ihre Grundsätze, hier zu warten?«
»Nein«, erwiderte Lurch, »das kann ich tun. Mir ist es gleich, kann hier noch ein wenig sitzen bleiben, aber unterschreiben – nein, das nicht!«
Diese zwanzig Minuten beängstigten ihn dennoch. Was konnten sie zu bedeuten haben? Da Ambrosius ihm aber den Rücken zukehrte, schwieg er und blickte wieder sorgenvoll auf seine alte, faltige Weste nieder.
Nun war das ärgerliche Klapp-klapp von Ambrosius' Schritten, der in seiner Aufregung besonders hart mit dem Absatz auftrat, der einzige Laut im Gemach. Ein schwüles Unbehagen lastete auf diesem fadenscheinigen Zimmer mit seiner schmutziggelben Dämmerung, auf den drei bleichen Menschen, die sich schiefe, unsichere Blicke zuwarfen. Und der weiße Papierstreif auf dem Tisch, dort neben der halbzerbrochenen Tintenflasche und dem Federhalter, den Idas spitze Zähne rundum benagt hatten – da lag er, ließ den Sonnenstrahl über sich hinzittern und wartete ruhig, mitten in all der Pein, die er seiner Umgebung bereitete.
Ambrosius schaute zuweilen zur Türe hin. Er hatte Ida zu Rosa hinübergeschickt mit dem Befehl: Rosa solle sofort kommen. Den Bitten des Mädchens würde Lurch nicht widerstehen, gewiß nicht! Dieses Mittel anzuwenden war fatal, aber da es keinen anderen Ausweg gab, so mußte man ja. Nicht wahr? Was war übrigens dabei? Nur zögerte Rosa. Zehn Minuten waren bereits verstrichen. Die peinliche Lage dauerte ohnehin schon zu lange.
Mit dem dummen Lurch und dem schmutzigen Juden in diesem übelriechenden Zimmer eingesperrt zu sein, ward endlich unerträglich. Am liebsten hätte er jetzt alles aufgegeben. Eine unbändige Wut kochte in ihm auf, eine Wut, die alles hätte zerschlagen und zerstoßen mögen. Da ward die Türe aufgerissen. Eine Flut von Licht, ein warmer Wind, der Levkojendüfte mitbrachte, drangen ins Zimmer, und auf der Schwelle stand Rosa. Ambrosius' sorgenvolle Miene heiterte sich auf. Rosa erschien ihm wie eine Erlösung, wie Luft und Licht, die in einen finstern, dumpfen Ort dringen. Noch nie glaubte er seine Geliebte so schön, so heiter und hell gesehen zu haben wie in diesem Augenblick, da sie auf der Schwelle des Trödlerladens stand, die Türklinke in der Hand, den Kopf vorgebeugt, die Augen weit auf und himmelhell, den Mund ein wenig schief zu einem neugierigen Lächeln verzogen. Dazu hatte Rosa heute etwas dareingesetzt, wie ein kleines Mädchen gekleidet zu sein. Die Zöpfe hingen über den Rücken nieder. Das frisch gewaschene blaue Sommerkleid ließ die Halbstiefel und ein Stück des weißen Strumpfes sehen. Im schwarzen Ledergurt stak ein Strauß weißer Levkojen, und all diese lebensvollen, lustigen Farben brachten in die mißlaunige Dämmerung des Judenzimmers etwas frohes, jugendlich reines.
»Da bist du ja!« sagte Ambrosius und ging Rosa entgegen.
»Was gibt es denn?« fragte diese.
»Wart, ich sag's dir draußen.« Mit diesen Worten legte Ambrosius sehr freundlich seinen Arm um Rosas Taille und führte sie in den Hof hinaus.
Mit offenem Munde, ein rostiges Rot auf den spitzen Backenknochen, starrte Lurch auf die Türe. Jetzt, da sie sich hinter Rosa schloß, sprang er auf, schaute wirr um sich. »Wo ist mein Hut?« fragte er.
»Die zwanzig Minuten sind noch nicht um«, entgegnete Wulf.
»Gleichviel!« Oh, jetzt begriff er alles, und er fürchtete sich. »Meinen Hut, Wulf!«
Der Jude lächelte sein geduldiges Lächeln. »Der Hut liegt dort auf dem Stuhl, Herr Lurch, aber von den zwanzig Minuten fehlen noch fünf. Versprochen ist versprochen.«
»Ach was!« rief Lurch und griff nach seinem Hut; als er ihn aber in der Hand hielt, drehte er ihn nachdenklich zwischen den Fingern hin und her. »Fünf Minuten, sagten Sie?« fragte er leise. Der Trödler nickte. »Die kann ich wohl noch abwarten«, beschloß Lurch endlich. »Ich muß vielleicht.« Langsam setzte er sich wieder. So ohne weiteres fortgehen, das konnte er nicht. Rosas Anblick hatte sein armes, verdrossenes Gemüt erschüttert, hatte es mit warmer, lichtvoller Aufregung erfüllt, die ihm noch in allen Gliedern nachzitterte. Und dann – sie wird ihn ja bitten, sie wird es versuchen, ihn zu überreden – sie – ihn! Lurchs Lippen brannten, und der Hals wurde ihm von innerer Rührung zugeschnürt. Sie – ihn bitten!
»Ein schönes Fräulein!« bemerkte Wulf »Ein wunderschönes Fräulein.«
»Ja!« stöhnte Lurch auf, fügte jedoch sogleich ein verdrießliches »Ziemlich« hinzu. Die fünf Minuten waren längst verstrichen, und Lurch saß noch immer da und wartete.
Endlich kehrten Ambrosius und Rosa zurück. Rosa war ernst und zog die Stirne kraus, als wäre ihr etwas Widriges begegnet. In der Tat, sie verstand die ganze Lebenslage nicht, und sie war ihr fatal. Ambrosius sagte zwar, es sei nichts Schlechtes, was sie tun sollte. Lurch könne dabei nicht zu Schaden kommen, und es sei nur Eigensinn von ihm, daß er diese kleine Formalität nicht erfüllen mochte, obgleich alles von dieser Formalität abhing. Gut! Rosa begriff nur nicht, warum Lurch ihr gehorchen sollte. Wenn er es nicht tun wollte, was konnte sie dafür? – Er liebte sie. – Was? – Lurch liebte sie? Darüber konnte sie nur lachen. Lurch und Liebe!
Doch Ambrosius hatte sich geärgert, brachte Rosa es nicht zuwege, meinte er, daß Lurch den Wechsel unterschrieb, dann war es mit der ganzen Reise nichts. Über all diesen Widerwärtigkeiten hatte er ohnehin die Lust dazu verloren. Da gehorchte Rosa – ohne Widerrede – sofort –
Lurch blieb auf seinem Stuhl sitzen und vergaß es in seiner Aufregung, Rosa zu grüßen. Erst als sie ihm »Guten Morgen, Herr Lurch« zurief, erhob er sich ein wenig, setzte sich aber gleich wieder und klammerte sich an die Armlehnen des Sessels. Eine ungemütliche Pause entstand. Da machte sich Rosa mit einem plötzlichen Entschluß von Ambrosius' Arm frei; da es sein mußte, wollte sie ihren Auftrag ernstnehmen. Sie trat an Lurch heran und reichte ihm die Hand. »Wie geht es Ihnen, Herr Lurch?«
»Danke, Fräulein Rosa, mir geht es gut.«
»So.« Rosa schlug die Augen nieder, stützte ihren Mittelfinger so fest auf die Tischplatte, daß er sich bog, und sagte schnell: »Sie wissen, worum ich Sie bitten wollte?«
»Nein«, erwiderte Lurch erschrocken. »Oder doch – ja. Aber...«
»Bitte, tun Sie es.«
Lurch schüttelte mit dem Kopf.
Doch bat Rosa: »Mir zuliebe. Wollen Sie?«
»Ich kann nicht, Fräulein Rosa.« Lurch hob ein von Tränen und Jammer verzerrtes Gesicht zu Rosa auf. »Ich möchte ja gern, aber ich kann nicht.«
»Wenn Sie nur wollten.« Ein Sonnenstrahl traf Rosas Augen, daß sie klar und blau wie Glas schienen; dabei zog sie die Augenbrauen empor, was ihr einen erstaunten, lustigen Ausdruck verlieh. Was war nur dem Menschen? Warum zitterte er? Warum weinte er? Was hatte sie ihm getan? Rosa legte ihre Hand leicht auf Lurchs Schulter und wiederholte: »Bitte, tun Sie's.« Lurch machte einen runden Rücken und preßte seine bleichen Lippen aufeinander. »Was?« sagte Rosa, hinter ihr knarrte eine Türe. Ambrosius hatte das Zimmer verlassen. Er konnte es nicht länger mit ansehen, er hätte Lurch schlagen müssen. Rosa aber ließ nicht nach. Die Leiden des armen Lurch erregten ihr Mitleid, und dennoch war etwas an ihnen, was Rosa reizte, sie immer wieder zu erneuen. »Wenn Sie mich ein wenig liebhaben«, sagte sie und drückte mit der Hand auf Lurchs Schulter, um zu sehen, wie dann ein nervöses Beben durch den ganzen dürren Körper lief.
»Ich kann es nicht!« brach Lurch endlich los. »Ich habe es Herrn von Tellerat schon gesagt. Ich habe nichts davon. Was hab ich davon? Sagen Sie selbst, Fräulein Rosa. Nichts hab ich davon.« In der Not seines Herzens knöpfte er sich wieder die Weste auf.
»Was Sie davon haben?« wiederholte Rosa zögernd und ein wenig befangen. »Sie haben allerdings nichts davon. Es wäre eben nur eine Freundlichkeit von Ihnen. Ich habe nichts, ich kann Ihnen nichts geben.« Sie hob beide Hände empor und zeigte ihre Handflächen. Lurch schwieg. Traurig starrte er auf die rosigen Handflächen. Er verstand es nur zu wohl; für ihn waren diese Hände immer leer. Plötzlich verlautete des Trödlers sanfte Stimme: »Für einen Kuß tut's Herr Lurch schon.« Rosa wandte sich schnell um und ward feuerrot. »Pfui!« sagte sie. Auch Lurch war aufgefahren. »Nein«, stotterte er, »das tut Fräulein Rosa nie.«
»Gewiß nie«, bestätigte Rosa, ergriff einen ihrer gelben Zöpfe und drückte ihn an ihren Mund, als wollte sie diesen schützen. Sie fürchtete sich. Lurch blickte sie mit feuchtgelben Augen so unmenschlich starr an, und auf seinem Gesicht brannten rote Flecken. Den küssen! Sie wollte fortlaufen, und doch zögerte sie wieder. Was wird Ambrosius sagen, wenn sie nichts ausrichtet? Die ganze Reise, die ganze schöne Zukunft ging also in die Brüche? – »Schnell, schreiben Sie«, rief sie plötzlich, noch immer dunkelrot im Gesicht, die Augen voller Tränen. Lurch verstand nicht sogleich. »Wie, Fräulein Rosa...?« – »Fräulein Rosa will«, ermunterte ihn der Trödler, »das Geschäft ist abgemacht.« Er konnte es immer noch nicht glauben, Rosa aber stampfte mit dem Fuß auf. »Ja doch – schnell« – sie wandte sich ab – oh, sie schämte sich.
Endlich hatte Lurch begriffen. Mit zitternden Fingern ergriff er die Feder und malte vorsichtig seinen Namen auf den Papierstreif, spritzte die Feder aus, legte sie auf den Tisch, wischte sich die Lippen und war bereit. »Ich habe geschrieben«, flüsterte er. Rosa fuhr zusammen, richtete sich aber gerade auf, stellte sich vor Lurch hin, bog den Kopf zurück und schloß die Augen; dabei ward sie bleich bis in die Lippen und sah aus, als schliefe sie und habe einen sehr bösen Traum. Ängstlich lächelnd stellte sich Lurch auf die Fußspitzen – reckte den Hals – blickte mit zuckenden Wimpern auf das weiße Mädchengesicht nieder – spitzte den Mund und drückte ihn behutsam auf Rosas fest zusammengekniffene Lippen. Kaum fühlte Rosa diesen heißen Mund auf dem ihren, als sie aufschrie und zurücktrat. –
Lurch stand traurig und beschämt da; er wußte nicht, wie er sich jetzt benehmen sollte – darum verbeugte er sich höflich; Rosa aber riß das Wechselblanquet vom Tisch, um sich draußen – im Hof – weinend und lachend Ambrosius in die Arme zu werfen.
Lurch stand noch eine Weile da und strich sich liebkosend über die Lippen, dann griff er nach seinem Hut und schlich durch den Laden auf die Straße hinaus.
»Was ist denn passiert?« fragte Ambrosius besorgt, aber Rosa wollte es ihm nicht sagen. Sie erklärte nur, die Demütigung sei zu groß gewesen.
»Laß es gut sein«, meinte er. »Du hast es mir zulieb getan. Jetzt können wir reisen. Was geht uns der dumme Lurch an? So weine doch nicht; wir brauchen ruhige Überlegung. Der Würfel ist gefallen, sagt schon ein alter Römer.«
»Ja, ich weiß es – Cäsar«, schluchzte Rosa, und doch lachte sie wieder.
»Siehst du es wohl«, versetzte Ambrosius heiter. Er begriff Rosas Aufregung nicht; nun er den Wechsel in der Tasche hatte, war seine Laune die allerbeste. »Komm Liebchen, beruhige dich. Wir dürfen keine Kindereien treiben«, und seine frische, unternehmende Art tat Rosa wohl. Das war wieder der lustige Stimmton, die sorglosen Augen, das hübsche süßliche Lächeln, die so verwirrend in ihr kindlich ruhiges Leben eingedrungen waren, um alle guten Lehren, Fräulein Schanks ganzen Erziehungsplan über den Haufen zu werfen und Rosas Köpfchen mit einem seltsamen Rausch zu erfüllen, in dem alles erreichbar und erlaubt schien. Seit sie Ambrosius liebte, hatte jenes rücksichtslose, alles wagende Gefühl sich ihrer bemächtigt, von dem einst die sechsjährige Rosa zu sagen pflegte: »Agnes, die Ungezogenheit steigt mir zu Kopfe.« Auch jetzt wieder fühlte sie in sich jenes unbändige Verlangen nach Verbotenem, und das Leben war nur noch ein schönes, heimliches Vergnügen, das man hastig und mit schlechtem Gewissen genießt – wie die Liebesstunde im Trödlerhause. Ja – diese Liebesstunde! Gestern hatte sie noch Rosa mit ratloser Traurigkeit bedrückt, heute erschien sie ihr wie etwas Süßes – etwas, über das man errötet, von dem man schweigt, das einem aber dennoch mit seltsamem Rückverlangen das Blut erhitzt.
Ambrosius gab Rosa die nötigen Verhaltungsmaßregeln für den Abend. Um neun Uhr sollte Ida an der Hintertreppe der Herzschen Wohnung Rosas kleinen Handkoffer in Empfang nehmen. Rosa selbst sollte – auf einem anderen Wege als Ida – sich durch den Stadtgarten zur Brücke begeben, und in der Nähe des Brückenkruges wollte Ambrosius mit dem Wagen sie erwarten. Der Plan war einfach genug. »Und dann, Amby – können wir endlich fort«, rief Rosa in der leidenschaftlich offenen Freude eines Kindes, dem man ein längst versprochenes Vergnügen endlich gewährt. So schieden sie, um sich erst am Abend beim Brückenkruge wiederzusehen.
Da der Vormittag noch lang war, beschloß Rosa, einen Gang durch die Stadt zu machen – zum letzten Mal – das gehört sich so. Die Tageszeit war günstig, denn eben erst hatten die Kirchenglocken den Gottesdienst eingeläutet. Nicht als ob Rosa sich vor einer Begegnung mit Sally oder Ernestine Klappekahl gefürchtet hätte! Nein! Will man aber Abschied von seiner Heimat nehmen, so bedarf man der Einsamkeit, nicht wahr?
Die Straßen und der Marktplatz waren leer, wie stets zur Kirchenzeit, nur in der Ferne sah Rosa das alte Fräulein Katter einhertrippeln; ihr Atlasmantel glänzte in der Sonne, der Dachs folgte ihr – breitbeinig und verstimmt – ab und zu die Nase in die Gosse steckend. Sie hatten sich heute beide mit dem Kirchgang verspätet.
Die große, gelb angestrichene Türe des Laninschen Ladens war gesperrt, selbst der Mohr auf dem Schilde davor schien zu schlummern. Oh, welch eine verächtlich blöde Trägheit brütete über diesem Hause. Rosa konnte es sich deutlich vorstellen, wie es dort heute zugehen würde: Die Zimmer voller Suppengeruch – Herr Lanin voll fader Geschichten, Frau Lanin mit ihrem langen, weichen Munde beständig gähnend – und Sally – – mein Gott, die Arme! Und während Rosa vor diesem Hause stand, stieg wieder die Freude – groß und unruhig in ihr auf. Sie brauchte dieses Leben nicht mehr zu teilen.
Sie ging weiter – überall dieselbe Stille. Die Häuser waren wohlverschlossen und wie ausgestorben, nur in den Küchen hörte man es klappern, oder hier und da stand eine Dienstmagd, die das Haus bewachen sollte, unter dem Hoftor, die Haare feucht an die Schläfen gekämmt, das Kamisol frisch gewaschen, und sprach mit einem Burschen. Die kleinen Ereignisse, die sich in der Stille der Kirchenzeit abspielen, das Kichern unter den Toren, das heimliche, vergnügte Treiben unbeaufsichtigter Dienstboten und Kinder hatten Rosa früher, wenn sie sich auf dem Gange in die Kirche verspätete, ein neugieriges Interesse eingeflößt. Heute kam plötzlich ein wunderliches Verstehen über sie, das sie quälte und ihr mißfiel. Diese dicken, hochbusigen Mägde, diese plumpen, unreinlichen Burschen, sie hatten zwischen Kessel und Pfanne, zwischen Kohlstrünken und Salatblättern ihre Liebesgeschichten. Rosa begriff nun, was sie wollten, was sie trieben, und es schien ihr, als würde ihr eigenes Schicksal dadurch entweiht. Dieses aufdringliche Klarsehen machte sie traurig; sie seufzte; sie hatte sich manches doch schöner gedacht!
In den entlegneren Stadtteilen – am Fluß – sah es weniger feiertäglich aus. Die armen Leute hatten noch nicht Zeit gefunden, ihre guten Kleider anzulegen. Frauen mit ungekämmtem, wirr auf das mißmutige Gesicht herabhängendem Haar standen in den engen Hofräumen und wuschen Erdäpfel oder Salat. Nackte Kinder sprangen zwischen den Schweinen und Hühnern umher. Hinter den morschen Bretterzäunen langten kümmerliche Apfelbäume mit ihrem eckigen Gezweige auf die Straße hinaus. Weiter hinab wurden die Häuser seltener. Kartoffelfelder und Weideland zogen sich am Flußufer hin; magere Pferde standen dort; die Hufe tief im roten Heidekraut, hielten sie im Grasen inne und nickten sinnend mit den Köpfen. Am Rande des steil abfallenden Ufers wollte Rosa ausruhen; sie legte sich nieder, den Leib im Grase, mit den Füßen in der Luft umherschlagend, den Kopf in die Hände gestützt, und biß an einem Halm. Unten lag der Sonnenschein, ein blankes Zittern auf dem träg rinnenden Wasser des Flusses.
Rosa blickte dem Rinnen des Wassers nach. Klare, festumrissene Gedanken wollten in ihrem Kopfe nicht mehr standhalten, nur ein wohliges Auf- und Abfluten von Bildern und Empfindungen regte sich in ihr. Sie kamen und brachen wieder ab, wie das Geigen der Feldgrillen ringsum im Grase – und es lag über ihnen ich weiß nicht welch unklare Traurigkeit, die einen seltsamen Frieden in sich barg. Die Ereignisse der letzten Tage, dieses beständige sich selbst Mut zusprechen, das Ringen mit unangenehmen Gedanken hatten Rosa müde gemacht, das fühlte sie plötzlich. Hier, am warm beschienenen Abhange, kam eine lähmende Erschlaffung über sie, die Kraft fehlte ihr, abzuwehren, festzuhalten, sie mußte die Hände in den Schoß legen und achselzuckend sagen: »Es gehe, wie es geht.«
Wie das nur alles so kommen konnte. Unmerklich war es herangekrochen – nun war es da. Natürlich mußte es so sein! Aber noch stand es fremd vor ihr wie etwas, an dem sie nicht teilhatte – sie, die friedliche Schanksche Schülerin, die jeden Morgen ihre große Mappe durch die Schulstraße geschleppt hatte. Rosa Herz, die nie die französischen Fabeln hersagen konnte und vor dem bevorstehenden Gouvernantenexamen zitterte, Rosa, die stundenlang zum Fenster hinausschaute und sich über das Gekicher auf dem Kirchenplatz ihre kindischen Gedanken machte, die sich um zehn Uhr niederlegte und vom Bett aus das schräge, mondbeglänzte Dach des Pfarrhauses anstarrte, bis ihr die Augen zufielen, diese ganz gewöhnliche Rosa liebte nun und ward geliebt; diese Rosa war jetzt die Person, vor der die Leute, die sie so gut kannte wie ihr Werktagskleid, ein Kreuz schlugen. Fräulein Katter, der Doktor, Ernestine, sie hielten sie für ein schlechtes Mädchen, mit dem man nicht sprechen darf. Sie war das verführte Mädchen; verführt – dieses Wort, das sie früher nicht aussprechen durfte, weil es unpassend war, nun gehörte es zu ihr, sie war jetzt eine unpassende Person. Was wohl Marianne darüber denken mochte? Und ob sie in der Schule nur ganz heimlich von Rosa sprechen durften, wie man sich sonst die dummen Geschichten erzählte, über die man errötete und kicherte? Rosa drückte die Augenlider zusammen und wiegte ihren Kopf schläfrig hin und her. Sie grämte sich über diese Dinge nicht, aber auch die Freude, in die sie sich hineingeredet hatte, war fort. Wer so daliegen könnte und abwarten. Es fließt ja doch vorüber, wie dort unten, immer zu, man braucht nur stillezuhalten. Dem müden Mädchen gefiel dieser Gedanke. Die lästige Arbeit, selbst am Leben mitzuwirken, schien unnötig, es fließt ja ohnehin vorüber! Im traumhaften Durcheinanderwogen der Vorstellungen folgte Rosa mit den Blicken dem Strom, als gehöre er zu ihr, als hinge für sie etwas von dem Rinnen dieses Wassers ab – fort – die Ufer entlang, an dem großen Stein hin, wo kleine Wellen flimmernd emporatmeten, an dem Kahn vorüber, in dem der stille Angler saß – weiter bis zu dem Erlengestrüpp, wo es sich schwarz unter die Zweige verkroch.
»Das ist der Tod«, sagte Rosa laut vor sich hin. Der Klang der eigenen Stimme machte sie aufschrecken, gleich wieder jedoch versank sie in Sinnen: »Tod!« – Dieses Wort atmete kühle Ruhe aus. Man streckt Hände und Füße von sich und ist tot. Sie bog den Kopf auf das Gras zurück, reckte die Glieder. »Ah, so muß es sein, ganz so!« Regungslos lag sie da, tief und regelmäßig atmend.
Der Ton der Kirchenglocken ließ sie auffahren. Sie erhob sich verwirrt; der Halbschlummer, in dem sie dagelegen, hatte sie weit aus der Gegenwart fortgeführt. Ohne deutliches Traumbild hatte sie doch das Gefühl gehabt, als lege sie mühelos ein beträchtliches Stück Leben zurück, sie ward eben mit fortgetragen. Jetzt, aus diesem Traumweben herausgerissen, schaute sie erstaunt um sich. Derselbe eintönige Singsang der Grillen, dasselbe sachte, zitternde Licht auf dem Abhange, derselbe verhängnisvolle Tag, den sie im Traum längst überstanden hatte, wartete auf sie. Mutlos ließ Rosa die Hände in das Gras sinken. Sie fühlte sich zu träge, ihre Geschichte von neuem aufzunehmen.
Früher, wenn sie ihre Schulaufgaben des Abends nicht beenden konnte, ließ sie sich von Agnes am nächsten Morgen ganz früh wecken, um das Versäumte nachzuholen. Wenn aber Agnes in der dunklen Winterfrühe an Rosas Bett trat und sie aufrüttelte, dann erschien ihr der Schlaf das höchste Gut. »Agnes«, flehte sie, »laß mich nur noch fünf Minuten schlafen.« Oh, diese kostbare Frist! Aber das Gewissen regte sich doch. Es träumte Rosa, sie verließ das Bett, kleidete sich an, begann den französischen Aufsatz zu schreiben. Wie leicht das ging! Jetzt war er fertig! »Rosa steh auf! Du bringst sonst den Aufsatz bis acht Uhr nicht fertig«, tönte Agnes' Stimme in den schönen Traum hinein, denn nur Traum war es gewesen; das mühselige Aufstehen, das Frieren vor der Waschschüssel standen noch bevor; der ganze Aufsatz war noch zu schreiben!
An diese trüben Morgenstunden mußte Rosa denken, und sie lächelte; die Schule und ihre Qual waren jedoch für immer vorüber. Sie sprang auf, der Abschied von der Heimat hatte sie weich gestimmt, das war hübsch und natürlich, nun war es aber auch genug. Die Freude an ihrer Liebe, ihrem bunten Schicksal wollte sie sich nicht verkümmern lassen. So wie es war, war es gut; so hatte sie es sich gewünscht. Sie war fest entschlossen, glücklich zu sein. Jeder Zweifel, der in ihr aufstieg, ward gewaltsam niedergedrückt. Sie wollte nicht enttäuscht und elend sein! – – –
Auf dem Marktplatze vor dem Laninschen Hause standen Fräulein Klappekahl und Fräulein Lanin in ihren schönen Sonntagskleidern und mit ihren neuen Herbsthüten. Sally faltete die Hände über dem schwarzen Gesangbuch und schüttelte im Eifer des Gesprächs die Locken. »Die heutige Predigt hat mir so recht das Herz aufgewühlt«, sagte sie, gewiß; wie oft hatte sie das nicht schon zu Rosa gesagt – dort an derselben Ecke!
Als Rosa an ihnen steif und hochmütig vorüberging, schlug Sally die Augen nieder, drückte das Gesangbuch fest an den Busen und sagte sehr laut: »Armes, verlornes Schaf!« Ernestine Klappekahl aber wandte ihren Blick von Rosa nicht ab. Rosa freute sich darüber. Hatte sie es doch selbst erfahren, mit welch heißem Interesse man aus dem Gefängnis bürgerlicher Zucht herausschaut auf alles, an dem etwas von den verbotenen, furchtbaren Dingen hängen mag, an die ein ordentliches Mädchen nicht denken darf. Ja – die lange dünne Ernestine beneidete das verlorene Schaf.
Zu Hause fand Rosa ihren Vater bleich und kummervoll im Lehnstuhl sitzen. Das verdroß sie; faßte er denn die Sache noch immer nicht richtig auf? Mißmutig warf sie sich in einen Sessel und schlug mit den Handflächen auf die Armlehnen. »Ich habe also heute mit der Schank gesprochen«, bemerkte Herr Herz schüchtern.
»So!« erwiderte Rosa gleichgültig, dann aber erhob sie sich plötzlich; sie durfte diese jammervolle Stimmung nicht andauern lassen. Sie kniete bei ihrem Vater nieder, stützte ihren Kopf auf sein Knie und begann zu sprechen: »Weißt du, Papa, heute reden wir nicht davon. Morgen ist Montag, das ist ohnehin ein widerwärtiger Tag. Da können wir über die dummen Geschichten sprechen. Heute möchte ich Ruhe haben.«
»Gewiß, mein Kind!« erwiderte Herr Herz schnell. »Ich habe dich nicht quälen wollen; meiner Kleinen wehtun – ich – das wär kurios!« Er lachte, wie über einen lustigen, widersinnigen Einfall. »Heute also lassen wir das alles; was haben wir denn für Eile? Heute bleiben wir gemütlich beieinander – hier – in unserer Festung.« Er streichelte die Hände seiner Tochter und schaute sie liebevoll an. Ach, daß das Leben solch ein zuwidres, hartes Ding ist und selbst so schönen Wesen wie seiner Rosa die leidigen Schmerzen nicht erspart! »Lassen wir's also gut sein. Heute das Vergnügen, morgen das Geschäft.«
Rosa ward es so weich um das Herz, daß sie am liebsten geweint hätte, das Wort »morgen« jedoch erschreckte sie. »Um Gottes willen, daß dieser schreckliche Montag der Auseinandersetzungen sie nur ja nicht hier findet!« schrie es in ihr auf, und schnellentschlossen sprach sie von der Klappekahlschen Gesellschaft: »Du gehst ja heute zu Klappekahl.«
»Ah so – ja. Klappekahl sprach heute wieder davon. Ich denke aber, ich bleibe zu Hause, wie?«
»Du müßtest doch vielleicht hin«, wandte Rosa ein.
»Warum – Kind? Ich bin nicht in der Stimmung. Bleiben wir beieinander, solange es geht.«
Rosa mußte sich abwenden, als sie leise darauf erwiderte: »Besser wäre es doch, du gingst hin. Wir müssen tun, als wäre nichts geschehen.«
Herr Herz verstand seine Tochter nicht recht, er sah aber, wie schwer es ihr ward, ihren Vorschlag vorzubringen, und hätte darum am liebsten gleich alles erraten. »Ja – ja; natürlich! Vielleicht muß ich doch hin. – Nur weiß ich nicht recht... Ich dachte es mir so hübsch, den heutigen Abend mit dir zu verbringen. Wir wären so lustig wie möglich, und ginge es mit der Lustigkeit nicht, so wäre ich doch wenigstens bei dir.« Rosas Augenbrauen zuckten ungeduldig. – »Aber, du meinst – – Nun gut, ich gehe hin.« Er seufzte und machte ein betrübtes Gesicht. Rosa versuchte ihn zu trösten: »Siehst du, wir dürfen nicht tun – als – als – schämten wir uns. Und dann – ich habe heute nacht nicht schlafen können und daher Kopfweh. Ich wollte mich früh niederlegen. Du wärst also doch allein. Morgen aber...« Sie mußte schnell ans Fenster gehen und hinausschauen. Nun ward Herr Herz besorgt. Was? Rosa war krank? Natürlich mußte sie sich früh niederlegen. Und – wo blieb das Essen? Hunger erhöht das Kopfweh. Er rief nach Agnes, nach der Suppe.
Nach dem Mittagessen brach wieder einer jener stillen Nachmittage an, wie Rosa deren so viele erlebt hatte; der letzte – sagte sich Rosa heute.
Herr Herz schlummerte in seinem Sessel. Goldene Lichter zitterten über die Wand und den Fußboden hin; der Wind schüttelte an den Vorhängen. Von der Straße tönten Stimmen und Schritte herauf. Im Stadtgarten spielte die Musik, und zuweilen drang ein lustiges Aufschmettern der Hörner bis in die Herzsche Wohnung. Gegenüber, scharf von dem Rücken des Raserschen Daches abgeschnitten, stand das Stück tiefblauen Himmels, das Rosa stets blauer als der übrige Himmel erschienen war; die Schwalben schossen darüber hin und sandten sich ihre schrillen, lustigfreien Rufe zu.
Rosa lag im Fenster und schaute zu, wie die Leute zum Stadtgarten strömten. Lauter bekannte Gesichter, Menschen, die Rosa von Kindheit auf gesehen hatte – und doch! – wie fremd waren sie ihr jetzt. Gleichgültig gingen sie einher, sprachen, lachten, als hätte es für sie nie eine Rosa gegeben; in ihrem Leben hatte sich nichts geändert. Zum ersten Male stieg in Rosa der Gedanke auf, wie doch der Mensch in furchtbarer Einsamkeit mit sich selbst eingeschlossen ist. Ganz allein! – Sie warf ihren Kopf zurück und schaute aufmerksam sinnend über das Dach des Pfarrhauses hin. Was doch der heutige Tag für ungewohnte, bunte Gedanken brachte! Aber es ward ihr jetzt klar; was wußte denn einer vom andern? Da schlief ihr alter Vater bleich und kummervoll in seinem Sessel und ahnte nichts von den kühnen, abenteuerlichen Unternehmungen, die, kaum einen Schritt von ihm entfernt, seine Tochter plante, nichts von dem Schmerz, der fertig neben ihm stand. Nein, überall gesperrte Türen.
Rosa blickte wieder auf die Straße nieder. Es unterhielt sie jetzt, den Leuten nachzuschauen und sich bedächtig zu sagen: »Wie die sich den Arm reichen! Wie kameradschaftlich sie tun! Was hilft's! Sie mögen sich noch so eng aneinanderschmiegen, es bleibt doch ein jeder allein – allein – allein«, dieses Wort hing sich an jede Person; es ward zum eigensinnigen Traum, der jede Gestalt verzerrt, und mitten im hellen, munteren Tageslicht beschlich es Rosa wie Grauen. Sie wollte aber nicht einsam sein; sie fürchtete sich. Wäre doch Ambrosius da; der liebte sie, vor dem brauchte sie sich nicht zu verbergen. Wenn man geliebt wird, ist man nicht allein, nicht wahr? Das ist eben die Liebe. – Sollte sie zum Trödler hinübergehen? Nein! Das durfte sie nicht. Dann wollte sie sich wenigstens auf das Wiedersehen mit Ambrosius vorbereiten; sie freute sich darauf und sehnte es herbei. Sie mochte nicht allein sein.
Sie ging in ihr Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch; der Brief an den Vater mußte geschrieben werden. Einige Augenblicke saß Rosa vor dem Briefbogen, den Federhalter an den Lippen, und dachte nach, dann tauchte sie die Feder in die Tinte und schrieb – ruhig, in einem Zuge – den Bogen voll. Durch die halb angelehnte Türe hörte sie die tiefen Atemzüge ihres schlummernden Vaters; dennoch zitterte ihre Hand nicht im geringsten beim Niederschreiben dieser Zeilen, in denen jedes Wort ein Stich in das gute alte Herz sein mußte, das jetzt – dort nebenan – so ahnungslos schlug.
»Liebster Papa!« hieß es in dem Brief, »wenn Du dieses liest, bin ich schon weit von Dir, ich hoffe, nur für kurze Zeit. Sie wollen mich hier nicht mehr; gut! Ich gehe. Ambrosius und ich lieben uns innig, und niemand soll uns scheiden. Wenn wir unlöslich verbunden sind, kommen wir wieder und holen Dich ab, damit Du unser Glück teilst. Wenn ich daran denke, wie selig wir zusammenleben werden, möchte ich aufjauchzen. Agnes muß auch mit. Daß ich heimlich fortgehe, verzeihst Du mir, lieber – lieber Papa, es ist zu meinem Glück nötig, denn daß ich glücklich werde, das verspreche ich Dir. Viele tausend Küsse. Auf baldiges frohes Wiedersehen. Deine treue Tochter Rosa. Sonntag, den 25. September.«
Rosa machte einen hübschen, sorgsamen Schnörkel unter ihren Namen, faltete das Blatt zusammen, schrieb »an Papa« darauf, steckte es in die Tasche.
Es war vier Uhr. Wie fern der Abend noch war. In fünf Minuten konnte sich noch soviel Störendes ereignen. Rosa packte ihre Habe in den Reisesack, verschloß ihn und versteckte ihn unter ihrem Bett. Das Reisekleid, Hut und Mantel legte sie zurecht. Alles war bereit. Nun zog sie sich das Kleid, das sie anhatte, aus und legte sich auf ihr Bett. So war es noch am leichtesten, den Abend zu erwarten. Rosa hätte jetzt vieles erleben, tun, unternehmen mögen und mußte stillehalten wie ein krankes Kind. Nebenan regte sich der Vater – seufzte tief auf – begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Oh, den wollte Rosa glücklich machen – den armen Papa! – Jetzt schloß er den Kasten auf, um den schwarzen Rock hervorzuholen – jetzt bürstete er seinen Hut. Rosas Herz ward immer weicher, sie preßte ihr Gesicht in die Kissen und mußte es sich immer wieder sagen, wie glücklich sie den armen Papa machen wollte.
Er kam an ihre Türe und steckte den Kopf in das Zimmer. »Schläfst du, Kind«, fragte er, »ich gehe fort.«
»Ja, ich schlafe.«
»Gut, Kind! Ich will dich nicht stören.« Er zog sich zurück.
»Adieu, Papa.«
»Adieu, adieu –« sagte Herr Herz schon im anderen Zimmer. Die Haustüre knarrte; er war fort.
Rosa stürzte an das Fenster, ihm nachzuschauen. Da ging er – fest in seinen schwarzen Rock eingeknöpft – eine schmale, kummervolle Gestalt.
Rosa mußte zu Agnes gehen, um ihr zu sagen, daß sie kein Nachtmahl wolle und sich sogleich zu Bett legen werde. Sie fühlte wohl ein Bangen, das ihr Herz bedrückte, und eine tiefe Erregung, der sie nicht Raum geben wollte, schnürte ihr die Kehle zusammen, aber Reue oder Zaudern war das nicht. Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit erfüllte sie jeden Punkt ihres törichten Planes.
Agnes saß am Küchentisch und las in ihrem Gesangbuche. In der Küche herrschte Sonntagsordnung. Durch das geöffnete Fenster sah man auf den leeren Hof hinaus und über die Nachbardächer hin, auf denen die roten Abendstrahlen sprühten. Agnes fuhr langsam mit dem Zeigefinger die Zeilen in ihrem Buche hinab und bewegte tonlos die Lippen. Als Rosa eintrat, blickte sie auf.
»Agnes, ich gehe schlafen. Ich mag kein Nachtmahl. Ich habe Kopfweh«, sagte Rosa hastig. Als sie das vorgebracht hatte, blieb sie doch noch am Küchentisch stehen, der tiefe Frieden hier erschütterte sie. –
»Was gibt's denn?« fragte Agnes. »Bist du krank?«
»Nein. Es ist nichts!«
»Doch, ich bringe dich zu Bett«, beschloß Agnes und legte ein trockenes Kastanienblatt als Lesezeichen in das Gesangbuch. Rosa aber wollte davon nichts wissen: »Ich bin schon so gut wie ausgekleidet. Nur schlafen will ich«, rief sie und lief davon. – Noch eine Stunde, und dann – – –
Was war sonst eine Stunde, wenn sie zwischen einer Geschichts- und einer französischen Stunde lag! Und heute wollte sie nimmer verstreichen.
Einen kurzen Augenblick war Rosas Zimmer jäh von dem roten Licht der untergehenden Sonne erleuchtet gewesen – dieses Aufflackern ward dann zu einem mattgelben, gespenstischen Schein, der das Herz verzagt macht, wie niedergebrannte Kerzen am Schluß eines Festabends.
Im Nebenzimmer sperrte Agnes den Schrank zu, rückte die Sessel an die Wand. Die Küchentüre ward zugeworfen, ein schürfender Tritt stieg die kleine Treppe hinan, die nach oben führte – dann ward es still; Agnes war zur Ruhe gegangen.
Während die Dämmerung auf die kleinen Räume der Herzschen Wohnung niedersank, lag das stille Mädchen hastig atmend da und starrte mit weit offenen Augen auf das Stück bleichen Himmel, das vor ihr vom Fensterkreuz in gleichmäßige Tafeln zerschnitten ward. Langsam verhängte die Dunkelheit einen Gegenstand nach dem andern im Gemach, nahm Rosa Stück für Stück ihre Vergangenheit, um sie atemlos und zitternd vor Aufregung vor eine unklare, dunkle Zukunft zu stellen.
Ein Lichtstrahl blitzte auf und warf einen schmalen Goldstreif auf den Bettvorhang. Unten auf der Straße ward die Laterne angesteckt. Ein zweiter Lichtstreif glitt über die Zimmerdecke hin. Das war drüben die Lampe des Pfarrers; und nun schlug es neun Uhr, Rosa sprang auf, legte ihr Kleid an, tastete nach ihren Sachen. Es kam ihr der Gedanke: Wenn du es versäumtest? Wenn Ambrosius schon fort wäre? Sie nahm sich nicht die Zeit, den Mantel zuzuknöpfen, die Handschuhe anzuziehen, sondern stürmte fort. Leise durchschritt sie das Wohnzimmer, das nur spärlich von der Lampe erhellt wurde, die gegenüber an des Pfarrers Fenster stand; und es war Rosa, als müsse sie hier besonders behutsam auftreten, um den trauten Raum nicht aus seinem Schlummer zu wecken, in dem er zu liegen schien. Dann durch die Küche. Hier war es finster. Einige Heimchen schrillten am Herde. Ihr durchdringender Ton erschreckte Rosa; klang er nicht so eigensinnig jammernd, als riefen Agnes' kleine Kameraden ihr etwas Traurig-Mahnendes zu? Vorsichtig schob sie den Riegel der Hintertüre zurück, schlich die Treppe hinab und stand auf der Straße.
Die Nacht war dunkel und voll heftigen Wehens. Schwarze, wildausgefranste Wolkenstücke wurden von Westen her über den Himmel getrieben, zwischen ihnen glomm hie und da ein grell leuchtender Stern auf. Rosa schaute sich nach Ida um. Die Straße war leer.
Sollte Rosa auf das Judenmädchen warten? Vielleicht war es spät und Ida schon fort. Eine große Angst ergriff Rosa. Sie schaute zu den Fenstern des Pfarrers auf. Dort saß die Familie um den gedeckten Tisch, und die Magd trug das Essen auf. Also schon beim Nachtmahl. Ja, es mußte spät sein. Gott, zu spät vielleicht und alles war aus, Rosa mußte bei den friedlichen Familien, den blauen Porzellantellern, den Schüsseln voll dampfender Erdäpfel bleiben. Sie begann zu laufen – die Straße hinab, um die Ecke in den Stadtgarten. Leute, an denen sie vorüberlief, blieben stehen und schauten ihr verwundert nach. Da war schon der Fluß, schwarz und laut rauschend – da die Brücke, dort das Lichtpünktchen mußte das Fenster des Brückenkruges sein. Auf der Brücke faßte sie der Wind so heftig, daß sie sich am Geländer halten mußte, sie fürchtete sich, und doch, hier wehte schon die freie, mächtige Luft, nach der sie sich sehnte, nur wünschte sie, Ambrosius wäre schon da.
Der Brückenkrug war das einzige Haus am jenseitigen Flußufer, eine ärmliche, schmutzige Kneipe. An den Pfosten vor der Türe hatte man ein Pferd gebunden, mit vorgestrecktem Kopfe, zurückgelegten Ohren stand es da und ließ den Wind in seiner Mähne wühlen. Die Haustüre stand offen, und man blickte von draußen in die Schankstube hinein. Am Tisch saß ein Mann mit breitkrempigem Hut und trank, neben ihm saß die Wirtin, die Ellenbogen beide auf den Tisch gestützt, die Augen halb geschlossen. Vor ihr brannte eine Unschlittkerze und flackerte, als wollte sie verlöschen. Auf der Türschwelle hockte eine schwarze Katze, rieb ihren Rücken an den Türpfosten und blinzelte verstimmt in die Nacht hinaus.
Rosa blieb stehen und schöpfte tief Atem. Dieses war ja doch der bezeichnete Ort? Wo war denn Ambrosius? Sie ging um das ganze Gebäude herum. Alles still. »Es hat ihn etwas abgehalten«, sagte sie sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen den dünnen Stamm eines Ahornbaumes, der vor dem Hause stand. Die Gründe, warum Ambrosius nicht da war, stellten sich reichlich ein. Unbequem war es gewiß, aber er mußte ja gleich kommen. Natürlich! Es war ganz unmöglich, daß er nicht – –; nein! Das war nicht möglich. Ganz ruhig wollte sie warten.
So stand sie da und blickte unverwandt auf das trübe Bild dort in der Wirtsstube; sie mochte an nichts denken. Aufmerksam betrachtete sie die rot und grauen Würfel auf dem Kamisol der Wirtin, lauschte gespannt dem trockenen Ton, den das Glas verursachte, wenn der Fremde es auf den Tisch zurückstellte, interessierte sich für die arg bedrängte Flamme der Kerze. »Wird sie verlöschen oder nicht? Jetzt ist sie nah daran. Nein, sie flackert wieder auf Brennt sie fort, so kommt Ambrosius.« Nun bekam dieses trübgelbe Licht für Rosa eine seltsame Wichtigkeit. Oh, sie war tapfer, die arme Flamme, aber Ambrosius kam dennoch nicht. »Er wird nicht kommen«, diesen Gedanken wagte Rosa nicht zu denken; das durfte sie nicht. Sie schloß die Augen und zählte. War sie bis Hundert gekommen, dann mußte er da sein, und je näher sie dem Hundert kam, um so langsamer zählte sie: »Fünfundsiebzig – sechsundsiebzig – siebenundsiebzig.« War das nicht Wagenrollen? Nein! Sie wollte die Augen nicht eher öffnen, als bis die Hundert voll waren. »Achtundsiebzig – neunundsiebzig – achtzig« – dann wollte sie die Augen aufschlagen – er würde vor ihr stehen. »Einundachtzig.« Während sie fortzählte, glaubte sie immer wieder Schritte, Stimmen zu vernehmen, mit jeder Zahl stieg die Hoffnung, und dennoch wagte sie es nicht, die verhängnisvollen Hundert zu nennen. »Siebenundneunzig – achtundneunzig – neunundneunzig« – sie hielt inne. – »Hundert.« Sie glaubte schon Ambrosius' Nähe zu fühlen, sah ihn vor sich stehen und lächeln. Sie schlug die Augen auf. Immer noch schlummerte die Wirtin über den Tisch gebeugt neben dem Fremden, immer noch kämpfte die Flamme mit dem Zugwinde, nur die Katze war bis zu Rosa herangeschlichen, machte einen krummen Rücken und miaute leise – sonst alles hoffnungslos unverändert und leer. Rosa preßte die Hände aneinander und betete: »Laß ihn – ach, laß ihn kommen! Lieber Gott, mir das noch!« Dann ward sie von bitterer Mutlosigkeit ergriffen, die Arme sanken schlaff herab, sie drückte sich fester gegen den Baum. Was auch geschehen mochte, sie wollte hier stehen.
»Fräulein Rosa!« erscholl es neben ihr. Sie schreckte zusammen, das war Idas Stimme. Ein warmes, ungestümes Freudengefühl erfüllte Rosa wieder. Es war töricht gewesen, so zu verzweifeln.
»Ida, bist du es? Das ist recht. Warum bliebst du so lange aus?«
»Der Herr von Tellerat schickt mich mit einem Brief«, berichtete Ida.
»Ein Brief; wozu? Ich soll wohl warten«, sagte Rosa hastig und ergriff den Zettel, den Ida unter ihrem Tuche hervorholte. Sie eilte an das Fenster der Kneipe, um bei diesem spärlichen Lichte den Brief zu lesen. Er enthielt nur wenige, mit Bleistift geschriebene Zeilen:
»Liebchen! Der verdammte Jude hat meinem Onkel alles verraten. Vorläufig ist es aus mit unseren Plänen. Morgen bringt mich der Onkel selbst zu meinen Eltern. Dein unglücklicher A–.«
Rosa hatte sogleich alles begriffen. Das war es also, was sie die ganze Zeit über gefürchtet hatte; nun war es da – das Unmögliche. – Drinnen in der Wirtsstube rüstete sich der fremde Mann zum Aufbruch und zog seinen Mantel fester um die Schultern, während die Wirtin ihm die Rechnung mit Kreide auf den Tisch schrieb. Rosa schaute dem zu; sie hatte ja nichts mehr zu tun. »Ob der Mann auf dem Pferde dort fortreiten wird? Wahrscheinlich! Dann kann die Wirtin schlafen gehen, das arme gequälte Licht auslöschen.«
»Fräulein Rosa!« Ida zupfte Rosa am Mantel. »Sie müssen nach Hause gehen, sonst wird das Haustor gesperrt.«
Nach Hause! Dieses Wort traf Rosa wie eine neue Offenbarung des Elends. Freilich mußte sie heimgehen, sich in ihr Bett legen – wie sonst! Sie lehnte sich an die Mauer des Hauses und schluchzte laut. Ida blickte neugierig das weinende Mädchen an; dann griff sie entschlossen nach Rosas Arm und führte sie fort. Rosa folgte ihr. Was lag daran, es war ja doch alles verloren. Vor der Herzschen Wohnung verabschiedete sich Ida. »Gute Nacht«, sagte sie und streichelte unbeholfen Rosas Arm. »Weinen Sie nicht, Fräulein Rosa. Ein anderes Mal wird es besser gehen. Hier ist Ihr Reisesack, hier die Stiege. Gute Nacht.«
In der Küche war es still geworden, die Heimchen schwiegen alle; im Wohnzimmer lag noch der Lichtstreif über der Decke; Rosas Brief lag unberührt auf dem Schreibtisch – und der nächtige Friede, die langgewohnte Luft der Räume bedruckten Rosa mit bleierner Traurigkeit. In hilflosem Jammer sank sie auf ihren Reisesack nieder, stützte den Kopf auf einen Stuhl – – es war ja doch alles vorüber!