Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Zweites Kapitel

Bei Agnes' Abreise weinte Rosa doch. Die Tränen und Segenswünsche der alten Frau bewegten ihr das Herz. Nun saß sie unten im Wohnzimmer und fühlte sich verlassen. Frau Böhk machte einen Geschäftsgang. Die Mädchen wuschen nebenan den Fußboden der Küche, ihr Lachen und das Klatschen der nassen Tücher tönten zu Rosa herüber. Draußen schmolz der helle Sonnenschein den Schnee und hing stark leuchtende Tropfen an die Dächer. Im Hof flimmerten die Wasserlachen. Stroh, Dünger, grau gewordener Schnee lagen dort. Einige Hühner schüttelten ihre nassen Federn und gingen langsam auf und ab. Durch die offene Stalltüre sah man die braunen Hinterfüße und ein Stück des blanken Rückens einer Kuh, während auf der anderen Seite ein Schwein vergeblich seinen Rüssel durch die Stäbe des Verschlages zu zwängen versuchte. Und zwischen dem Stall und dem Speicher konnte Rosa auf das Land hinaussehen. Ein fernes Birkenwäldchen war die einzige Unterbrechung der einförmigen Weise. Die zarten Stämme standen auf dem Schnee wie dünne Striche auf einem Bogen Papier.

Plötzlich ward die Türe aufgerissen, und Martha erschien. Sie trug nur ein Hemd und ein kurzes Röckchen. Füße und Beine waren nackt, die Ärmel des Hemdes bis über die Ellenbogen aufgestreift, das Gesicht rot und lachend. In der rechten Hand trug sie einen Wassereimer, während sie den linken Arm gerade von sich streckte, um das Gleichgewicht zu halten. Lustig stampften die nackten Füße durch die Pfützen. Im Vorübergehen stieß Martha wie ein übermütiger Bube mit dem Fuß gegen den Rüssel des Schweines und schob die Kuh, die ihr den Weg verstellte, kräftig mit den Armen zur Seite.

Rosa, die trübselig vor sich hingeträumt hatte, fühlte ihr Herz vor diesem lebenstrotzenden, halbnackten Mädchen warm werden. Gern wäre auch sie lachend und sorglos in den Tag hinausgelaufen. Sie begann Martha mit jener neidischen Liebe zu lieben, mit der sich oft ein krankes, unglückliches Kind an ein schönes, glückliches zu hängen pflegt.

Rosa ging in die Küche hinaus; sie wollte mit Martha und Grethe jung und lustig sein. Die Mädchen knieten in der Küche und rieben die Fliesen, Schweißtropfen auf der Stirn, die Haare wirr über den Rücken niederfallend. Sie blickten auf, als Rosa eintrat, senkten aber sogleich die Köpfe und kicherten.

»Ich wollte sehen, was Sie tun«, sagte Rosa befangen. »Es muß lustig sein, so zu waschen, nicht?« Die Mädchen lachten.

»Ich würde Ihnen gern helfen«, fuhr Rosa fort. Eine wilde Lust ergriff sie, sich auszukleiden, auf den Boden niederzuwerfen und mit den Mädchen zu arbeiten. »Das kann das Fräulein wohl nicht«, meinte Martha und zwang sich, ernst auszusehen. »Warum?« fragte Rosa zögernd; dann schwieg sie. Eifrig arbeiteten die Mädchen fort, warfen sich flüchtige Blicke zu und bissen sich auf die Lippen. – »Sie machen's wie wir, wenn Fräulein Schank da war«, dachte Rosa und ging seufzend in das Wohnzimmer zurück. Sie war es nicht gewohnt, als strenges Fräulein behandelt zu werden, vor dem man sich schämt und über das man hintennach lacht. Sie hätte lieber mitgescheuert und mitgelacht. Niedergeschlagen setzte sie sich an das Fenster und fühlte sich alt. Ja! Martha und Grethe waren die glücklichen Kinder, die sich in der Dämmerstunde ihre Liebsten ans Fenster bestellten und vom Leben alles Schöne erwarteten. Sie aber war das arme Fräulein, das Unglück gehabt hatte. Sie gehörte nicht mehr zur frohen Gilde der Jungen, die über die älteren Leute und deren Erfahrungen spotten. – Sie wollte in ihr Zimmer hinaufgehen und die Hemdchen und Jäckchen nähen, die Agnes ihr zugeschnitten hatte. Das war die einzig passende Beschäftigung für ein armes Fräulein, das Unglück gehabt hat. Als sie sich der Türe zuwandte, sah sie einen Herrn mitten im Zimmer stehen. Er rieb sich die Hände, die Ellenbogen fest an den Leib gedrückt, und lächelte. In seinem knochigen, braunen Gesicht saßen zwei blanke Augen. Der Bart um Lippen und Kinn sowie das stark gelockte, spärliche Haupthaar waren tiefschwarz, und die kleine schmächtige Gestalt im abgetragenen braunen Sommeranzug verkroch sich linkisch in sich selbst.

»Ich wollte Sie bitten, Fräulein«, begann er mit einer dünnen, hohen Stimme, »mich zu entschuldigen, weil ich Sie gestern nicht empfangen konnte. Ich machte gerade einen Geschäftsgang. Ich bin nämlich der Hausherr. Bitte, nehmen Sie doch Platz, Fräulein.« Seine Hand wollte mit einer edeln Bewegung auf einen Stuhl deuten, besann sich jedoch unterwegs und fuhr unbeholfen in die Hosentasche. »Oder wollten Sie fortgehen?«

»O nein!« erwiderte Rosa. »Ich habe ja nichts zu tun.« Sie setzte sich und machte ein Gesicht wie ein sehr junges Mädchen, das ernsthafte Konversation machen soll. Herr Böhk rückte einen Stuhl heran, lächelte, leckte sich die Lippen. »Das kann ich mir denken«, sagte er, »solch ein Fräulein braucht nichts zu arbeiten, das weiß ich auch. Ja – wie gesagt, es ist mir sehr unangenehm, daß ich gestern nicht hier war – sehr unangenehm.«

»Aber da Sie Geschäfte hatten«, wandte Rosa ein.

»Ach was! Ich hätte es sein lassen sollen. Es war unhöflich von mir. Gewiß! Ich weiß auch, was sich schickt. Hat die Al.... meine Frau Sie wenigstens gut aufgenommen?«

»Ja – sehr gut.«

»So – so.« Herr Böhk zwirbelte bedächtig seinen Bart. »Ja, auf die Wirtschaft versteht sie sich recht gut. Ich überlasse ihr auch ganz die Wirtschaft. Wir Männer haben keine Zeit dazu, wissen Sie, Fräulein.«

»Natürlich.«

»Ja! – Na – aber doch schwere Zeiten!«

»Wirklich?« fragte Rosa erstaunt.

»Ja«, meinte Herr Böhk, »wenig zu tun! Ich bitte Sie, Fräulein, in einem Nest wie Tiglau, was soll da ein Uhrmacher zu tun haben? Lächerlich! Ich habe das anders gekannt.«

»Sie waren früher in einer größeren Stadt?«

»Einer?« – Er lachte: »In vielen – in allen Städten fast. Gott, wo bin ich nicht alles gewesen! Dort überall herum.« Er wies mit dem Daumen über Stall und Speicher hinaus. »Studieren wollte ich auch – auf der Universität, wissen Sie.«

»So?«

»Ja, ja; das Kurieren wollte ich lernen.«

»Arzt wollten Sie werden?«

»Ja – für das Vieh – wissen Sie. Wie das nun heißt. Aber es wurde nichts daraus; und bei mir, sehen Sie, Fräulein, war auch die Liebe an allem schuld. Meiner Seel! Ich hatte da eine Flamme – nicht meine jetzige Frau, nein – das war ein schönes und feines Mädchen; Petronella hieß sie. Da sieht man schon; gleichviel, was für eine heißt nicht Petronella, nicht wahr? Sie zog fort und ich ihr nach, wie das schon so geht. Mit dem Viehdoktor wurde es aber nichts. Übrigens, meine jetzige Alte ist auch brav. Ein wenig vorschnell, aber tüchtig. Sie werden ja sehen. Wenn Sie einmal mit der Verpflegung nicht zufrieden sind, sagen Sie's nur mir, ich werde schon Ordnung schaffen.« Er beugte den Kopf herab, und während er nachdachte, wie er die Unterhaltung fortsetzen sollte, wiederholte er langsam: »Mit dem Viehdoktor war's nichts.« Dann blickte er schnell auf. Vielleicht verachtete ihn Rosa deshalb? Sie hatte so etwas wie ein Lächeln auf den Lippen und um die Augen. »Später hab ich noch vieles gelernt«, sagte er. »Die Uhrmacherei ist nicht leicht, wissen Sie, Fräulein. – Ich spiele auch die Geige. Hören Sie gern die Geige?«

»Ja – sehr!«

»Oh, dann spiele ich Ihnen etwas vor. Meine Alte ist fortgegangen. Nicht, als ob die Alte Musik nicht mag. Aber sie will, daß, wenn sie heimkommt, das Feuer im Ofen angemacht ist. Dazu kam ich herein; es hat jedoch keine Eile.« Seine spitzen Backenknochen wurden rot, und in der hastigen Beweglichkeit, mit der er einen Violinkasten unter dem Sofa hervorzog, lag eine knabenhafte Ausgelassenheit, die Rosa lachen machte. »Sie verstehen nicht die Geige zu streichen?« fragte er, während er das Instrument auspackte.

»Es ist auch nicht so leicht, wie es aussieht.« Er setzte sich auf seinem Stuhl zurecht, streckte das rechte Bein von sich, stemmte die Geige unter das Kinn und stimmte sie. »Sehen Sie, ich habe mit der Musik schon als Kind angefangen, da geht es schon. Was wünschen Sie? Etwas Süßes, das lieben die Fräuleins.« Er wurde ernst, drückte die Augenlider zusammen und spitzte den Mund; ab und zu nur warf er blanke, verhimmelte Blicke auf Rosa. Er spielte eine verschollene zärtliche Melodie; ein gleichmäßiges Auf- und Niedersteigen der Töne, ein regelmäßig wiederkehrender langgezogener Aufschrei als Refrain, bei dem Herr Böhk jedesmal leidenschaftlich die Schultern hob. Draußen in der Küche begannen die Mädchen zu singen, vereinigten ihre herben Stimmen mit dem abgestandenen näselnden Ton der alten Geige. Die Worte des Liedes verstand Rosa nicht, nur bei dem gefühlvollen Aufschluchzen der Schlußtakte klang es herüber wie: »Sie hat sich verliebt in ein' andern – ein' andern – ein' andern.« – – –

Rosa hörte zu und wiegte sachte ihren Kopf. Auf ihr Herz war so viel eingestürmt, daß es seltsam reizbar und empfindsam geworden war. Ein zärtliches Wort, ein klagender Ton beregten es schon fast schmerzhaft. Auch jetzt standen ihre Augen voller Tränen. Herr Böhk sah das und ließ die Geige sinken: »Sie dürfen nicht weinen, Fräulein!«

»Ich weine nicht«, antwortete Rosa, wandte ihr Gesicht ab und lächelte: »Bitte – spielen Sie weiter.«

»Doch – Sie haben geweint«, behauptete Herr Böhk und drohte mit dem Violinbogen. »Aber wissen Sie, Fräulein, mir geht es oft auch so. Bei diesem Liede kommen mir die Tränen, das macht eben die Musik. Dieses Lied sang früher eine Minna, die ich kannte; ach, eine seltene Minna. Jetzt spiel ich Ihnen etwas Lustigeres vor. Nicht wahr?« Er spielte nun eine hüpfende, kreischende Weise; Martha und Grethe fielen jubelnd ein, und Herr Böhk konnte sich nicht enthalten, mitzusingen:

»Was hilft mir das Grasen,
Wenn die Sichel nicht schneidt;
Was hilft mir mein Schätzchen,
Wenn's bei mir nicht bleibt.«

Frau Böhk war unbemerkt in das Zimmer getreten, stand, in ihr graues Umschlagtuch gehüllt, weiße Pakete unter den Armen, da und schöpfte tief Atem. »Was ist denn heute für ein Feiertag?« brach sie plötzlich los. In der Küche wurde es mäuschenstill. Herr Böhk errötete, stellte die Geige an die Wand und schob sich, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen, zum Ofen hin. Ohne ihren Mann anzusehen, warf die Hebamme ihre Pakete auf einen Stuhl und wandte Rosa ihr erhitztes, glänzendes Gesicht zu – den Mund ein wenig in die Breite ziehend, um freundlich auszusehen: »Was machen denn Sie, liebes Fräulein? Die da haben Ihnen einen Heidenlärm vorgemacht. Nein – nein, sagen Sie nichts, unten auf der Gasse hab ich's gehört. Gott, bin ich müde!«

Herr Böhk kauerte vor dem Ofen und füllte ihn mit Holzscheiten, den Kopf fast in das Ofenloch steckend. »So«, begann Frau Böhk wieder, nachdem sie eine Weile still zugesehen hatte, »also nicht einmal einheizen konntest du? Du mußtest Konzerte geben. Und wenn das fremde Fräulein sich verkühlt, wessen Schuld wird es dann sein? Wirst du die Vorwürfe zu hören bekommen? Was? Nicht eine Minute kann man fort sein, ohne daß die Kinder was angeben!«

»Wilhelmine«, versetzte Herr Böhk und steckte ein sehr stolzes, hochmütiges Gesicht in das Ofenloch. Frau Böhk ärgerte das. »Ach was, Wilhelmine! Wenn du nur tun würdest, was man von dir will. Ich sage ja nicht mehr, du sollst ordentlich arbeiten; aber einheizen wirst du doch noch können; das ist doch nicht so schwer wie eine Uhr machen?«

»Wenn du nur die Uhr gesehen hättest, die ich gemacht habe!« Herr Böhk war nun auch beleidigt; vor dem Ofen kniend, stemmte er die Arme in die Seite und schob die Unterlippe vor; seine Frau aber lachte: »Ja – ja, wenn ich die gesehen hätte, würde ich vielleicht an sie glauben. Ach, geh mir mit deiner ewigen Uhr! Das wird auch so eine gewesen sein, die von zwölf bis Mittag geht. Gott, was dieser Mann mich mit seiner Uhr quält!« redete Frau Böhk die Zimmerdecke an. »Seit wir verheiratet sind, spricht er von dieser Uhr. Wer hat sie gesehn? Wo ist sie? Wie ein Gespenst ist dieses Ding. Wollte ich von einem Kinde sprechen, das keiner gesehn hat, von dem nichts im Kirchenbuch steht, da würden die Leute mich kurios ansehen. Der aber immer mit seiner Uhr!«

»Wilhelmine!« sagte Herr Böhk sanft, »das Fräulein wünschte Musik.«

»Was der nur immer mit seiner Wilhelmine hat!«

»Du heißt ja doch so.«

»Ja, ich heiße so; ich sage auch nichts. Du tätest besser, nachzusehen, ob die Mädchen die Kuh beschickt haben, statt uns deine Faxen vorzumachen.«

»Wilhelmine«, entgegnete Herr Böhk, »du bist heute giftig, Wilhelmine. Du hast unrecht, so zu sein, Wilhelmine.«

»Laß mich mit deiner Wilhelmine zufrieden!« schrie die Hebamme und wandte sich ab; sie mochte das Lachen, das sie übermannte, nicht zeigen; ihr Mann bemerkte es jedoch, blinzelte verschmitzt mit den Augen und entfernte sich, indem er triumphierend die Absätze aneinanderschlug.

»Gott, was ich mit dem Jungen für ein Kreuz habe!« rief Frau Böhk mit zuckenden Mundwinkeln.

»Mit seinem Spiel hat er mir wirklich Freude gemacht«, entschuldigte Rosa.

»Ja – ja, so unnützes Zeug versteht er«, meinte die Hebamme mit der verhaltnen Zufriedenheit einer Mutter, die ihren ungezogenen Buben nicht offen loben mag und sich dennoch der Anerkennung freut, die ihm andere zollen, »das Spielen hat er heraus; das ist auch das einzige.« Der Zorn hatte sich gelegt, sie lachte wieder ihr fettes, herzliches Lachen: »Was der tolle Junge nur heute mit der Wilhelmine hatte? Er glaubt, das ärgert mich.«

»Heißen Sie nicht so, Frau Böhk?« fragte Rosa.

»Doch! Ich bin auf den Namen Wilhelmine getauft. Gleichviel! Sonst sagt er: Frau Böhk, oder, wenn er ungezogen ist: Alte. Die Wilhelmine war nur, um vor Ihnen Staat zu machen und mich zu ärgern. So ein unnützer Schlingel! Haben Sie aber meinen Hans gesehen? – Nein? – Dacht ich mir's doch! Der Vater ist zu frech; und der Sohn, wenn er weiß, daß ein Fremder im Hause ist, so sitzt er in seiner Kammer und ist nicht herauszubringen. Beim Mittagessen werden Sie ihn sehen. Ein hübsches, gutes Kind; nur sein Kopf ist etwas schwach.«

Zum Mittagmahl mußte Hans von Martha und Grethe gewaltsam in das Zimmer gestoßen werden. Dort blieb er ungeschickt stehen und schielte angstvoll zu Rosa hinüber. Er hatte die schmächtige, biegsame Gestalt seines Vaters, das glatt an den Kopf gekämmte Haar, aber die rosige Gesichtsfarbe und die grauen Augen stammten aus der Familie der Mutter, nur daß Hans' Züge nichts von dem tatkräftigen Lebensmut der Frau Böhk zeigten.

Die Hebamme lachte gerührt über ihren linkischen Sohn: »Bist du dumm! Setz dich; das Fräulein wird auch ohne dein Kompliment auskommen.«

Grethe trug die Suppe auf, und Frau Böhk schöpfte vor. »Ah, Zwiebelsuppe!« meinte Herr Böhk; »das habe ich schon heute morgen gewußt. Ich hab's gerochen.«

»Freilich!« erklärte Martha, »der Onkel hat den ganzen Morgen über die Nase über den Suppentopf gehalten.«

»Martha«, ermahnte Herr Böhk sanft, »das ist nicht wahr. Du solltest über deinen Pflegevater nicht solche Lügen verbreiten.«

Als ein jeder seine Suppe hatte, ward es still. Nur ein wohliges Schlürfen und das Aufklappen der Löffel waren vernehmbar. Eine begeisterte Eßlust beseelte die Tischgenossen. Die Mädchen, wenn sie den vollen Löffel hoben, öffneten die breiten roten Lippen ganz weit und zuckten mit den Wimpern. Hans stützte sein Kinn auf den Tellerrand und warf die Suppe mit dem Löffel schnell und gierig in den Mund. – Nun waren die Teller leer – so leer, daß kein Tröpfchen zurückgeblieben war. Martha holte die Fleischspeise: geräuchertes Schaffleisch mit weißen Bohnen – und sie lächelte feierlich, als sie die Schüssel voll dunkelroter Fleischstücke ins Zimmer trug und mit beiden Armen emporhob.

»Für das Fräulein muß gebratenes Rindfleisch da sein«, verkündete Frau Böhk. »Rauchfleisch ist nichts für uns«, fügte sie sanft hinzu und strich Rosa mit der Hand über das Haar. »Wir müssen vernünftig sein.« Grethe blickte erschrocken und mitleidig auf Rosa, als fürchtete sie, Rosa würde weinen.

Ebenso andächtig wie die Suppe ward auch das Fleisch verzehrt. Frau Böhk und die Mädchen zerteilten mit liebkosender Langsamkeit das Fleisch und schoben es vorsichtig in den Mund. Unter den Herren jedoch entstand Lärm. »Mutter! Er nimmt mein Stück; ich hatte es mir ausgesucht!« klagte Hans.

»Was heißt ausgesucht«, protestierte Herr Böhk ernstlich böse; »was einer hat, das hat er.«

»Nein! Gerade dieses Stück wollte ich haben. Mutter, sag ihm, daß er's mir gibt.«

Herr Böhk lachte verlegen. Er fürchtete, vor Rosa lächerlich zu erscheinen, und wollte doch sein Stück nicht fahrenlassen: »Nein, mein Sohn!« meinte er, »jetzt gerade nicht. Der Erziehung wegen – weißt du. Es ist ja unmoralisch.«

»Und nur weil ich es wollte, nimmt er's!« wiederholte Hans. Ärgerlich blickte Frau Böhk von ihrem Teller auf: »Könnt ihr Jungen denn nicht Ruhe halten? Böhk, du bist der ältere, gib doch nach.«

»Der ältere! Natürlich bin ich der ältere!« Herr Böhk war tief verletzt: »Ich möchte wissen, wo der da wär, wenn ich nicht der ältere wäre! Sonst muß der Sohn den Vater ehren, aber hier – nein – da muß der Vater dem Sohn gehorchen. Bitte, lieber Hans, nimm das Stück; sei so gut und sage mir, bitte, ob du später noch eins nehmen wirst, damit ich dir nicht dein Stück fortnehme. Oder soll ich vielleicht gar nicht essen und warten, bis du fertig bist? Sag mir das, mein süßer Hans.«

»Gib mir das Stück.«

»Nimm es! Es ist ein Skandal.«

Frau Böhk hatte sich längst wieder ihrer Portion zugewandt, sie wollte sich von diesen dummen Geschichten nicht stören lassen.

Die Mahlzeit war endlich beendet. Erhitzt lehnten sich die Tischgenossen in ihren Stühlen zurück. Die Mädchen zögerten noch mit dem Abräumen und blieben sitzen, die Arme auf den Tisch gestützt. Frau Böhk trank Bier und sprach dabei zwischen jedem Zuge aus dem Glase einen kurzen Satz: Agnes war alt geworden – nicht wahr? Sie – Frau Böhk – mußte sich doch gewiß mehr plagen, aber sie war kräftiger. Immer auf dem Posten sein, wie ein Soldat, das erhält. Herr Böhk knetete Enten aus Brot, und Hans schaute ihm gespannt zu. Eine behagliche Mattigkeit beschwerte sie alle, wie sie da saßen unter den Speiseresten und Geräten – im gelben Licht der Mittagssonne.

»Nun, Mädchen, werdet ihr nicht ans Abräumen gehen?« mahnte Frau Böhk. »Man wird wohl müssen«, erwiderte Grethe, streckte ihre beiden Arme empor und reckte sich.

Rosa war die erste, die den Tisch verließ. »Ja, ja«, sagte die Hebamme. »Gehen Sie nur, schlafen Sie ein wenig, liebes Kind.«

In ihrem Zimmer eilte Rosa zu dem kleinen Spiegel, der über dem Waschtisch an der Wand hing. Sie verstand es selbst nicht, welch seltsame Neugierde sie antrieb, anhaltend und aufmerksam ihr eigenes Gesicht zu betrachten. Dieses Gesicht mit den übergroßen blauen Augen erschien ihr heute so vergänglich und überfeinert. Ja! Das war es, wonach sie sich sehnte, etwas, bei dem sie sich von dem derben Lebensmut dort unten erholen konnte, der sie plötzlich mit einem Gefühl der Übersättigung und des Widerwillens bedrückt hatte. Das schmale, vornehme Gesichtchen aber, das ihr aus dem Spiegel melancholisch und geheimnisvoll entgegenlächelte, gab ihr wieder ihre Mädchenträume zurück, und als sie sich auf ihr Bett legte, ward sie von schönen, unklaren Gedanken in Schlaf gewiegt.

Der Abend war schon hereingebrochen, als Rosa erwachte. Mondschein lag auf dem Fußboden. Der Rosenstock auf dem Fensterbrett warf einen großen gezackten Schatten über den Vorhang.

Aus einem tiefen, traumlosen Schlummer erwachend, zögerte Rosa noch, wieder an das Leben anzuknüpfen, und gab sich ganz dem süßen Gefühl körperlicher Ruhe hin. Langsam nur kehrte ihr das Bewußtsein ihrer Lage zurück: Dort unten lag Tiglau; dieses war das kleine Gemach bei Böhks, ganz recht! Die Böhks hatte sie im Wohnzimmer um den Mittagstisch versammelt zurückgelassen. Bei alldem war nichts Trauriges. Die gute Böhk, die hübschen Mädchen, Herr Böhk mit seiner Violine. Und dennoch! Etwas Betrübendes mußte es doch geben, sie war ja doch unglücklich. Oh, da war es! Jetzt wußte sie es! Eine innere Unruhe trieb Rosa aufzuspringen. Sie ging ans Fenster und schob die Vorhänge zurück. Unten lag Tiglau, hell beschienen, und über die Dächer hin schaute Rosa auf das Land hinaus, das sich dort – ganz weit – in ein bleiches, sanftes Flimmern verlor. »Das ist schön«, sagte sich Rosa. Sie fühlte wohl die Friedenspoesie dieses stillen Landes und wollte sie genießen. Trotz Kummer und Harm war die schöne, ruhevolle Welt doch da. Rosa stützte den Arm auf das Fensterbrett und schaute hinab.

Oft schon hatte sie es versucht, in gesammeltem Anschauen die Welt zu genießen. Daheim, wenn der Mondschein auf dem Dach des Pfarrhauses lag und die Kastanienwipfel voller Sterne hingen, hatte sie einen Stuhl an das Fenster gerückt und sich zum Betrachten niedergesetzt. Aber, weiß es Gott, lange hatte sie es nie ausgehalten. Die Mondnacht flößte ihr Unruhe ein, Lust mitzutun. Sie mußte hinaus, mußte mit Sally und Marianne durch die Straßen schreiten, an die Fensterscheiben des Fräulein Katter pochen, in den Häusernischen kichern.

Rosa wollte es kaum glauben, aber so war es auch heute, sie vermochte nicht ruhig dazusitzen, es trieb sie wieder mitzutun. »Hinabgehen kann ich wenigstens«, sagte sie sich.

In dem engen Mauerraum, der die Wendeltreppe enthielt, befand sich ein rundes Fenster, durch das der Mond hereinschien. Auf den schmalen Treppenstufen lagen gelbe Lichtflecken, vom Schatten des groben Maßwerkes mit schwarzen Strichen verziert. Rosa blieb stehen. Hier war es hübsch, und gern hätte sie hier etwas erlebt. Kindheitserinnerungen stiegen in ihr auf. Zu Hause hatte die große Stiege im Mondlicht stets ein verändertes Wesen, ein abenteuerliches Aussehen angenommen, so daß es den Kindern in den Ecken voll bleichen Lichtes bang und süß ums Herz geworden war, als steckten sie mitten in einem Märchen. Rosa entsann sich dessen wohl.

Unten im Flur mußte die Außentüre offengeblieben sein, denn ein kalter Luftzug strich bis zu Rosa hinauf; auch Flüstern und leises Lachen klangen herüber. »Das sind die Mädchen und ihre Liebsten«, sagte sich Rosa und lehnte sich an die Treppenrampe. Für sie war das vorüber. Dieser Gedanke schmerzte so, daß sie hätte weinen mögen. Sie wollte ins Wohnzimmer hinabgehen; wenn sie die Mädchen dadurch störte, um so schlimmer für jene! Fest auftretend stieg sie die Treppe hinab.

An der Hoftüre lehnte Martha. Vor ihr stand ein Bursche und hielt ihre Hände. Als Rosa an ihnen vorüberging, sagte Martha ruhig: »Es ist nur der Peter, Fräulein, drüben von der Schmiede.« Peter ließ Marthas Hände los und zog die Mütze ab. »Guten Abend«, sagte Rosa, blieb stehen und sah das Liebespaar mit klaren, erregten Augen an.

Wie sorglos die da Hand in Hand auf der hellbeschienenen Schwelle standen und ihre Liebesstunde begingen, wie etwas, das ihnen zukam!

»Sie werden Licht brauchen, Fräulein«, meinte Martha. »Die Tante ist fortgegangen.«

»Nein, ich danke.«

Rosa ging weiter. Durch die Küchentüre sah sie Grethe im Fenster liegen. Zwei große Hände wurden von außen ins Zimmer gesteckt und faßten den runden, braunen Kopf des Mädchens.

Im Wohnzimmer stützte Rosa die Stirn an die Fensterscheiben und war tief bekümmert. Sie begriff es wohl, ihre Liebesstunden waren vorüber, waren alle ausgegeben.

Ach, jetzt wollte es ihr fast scheinen, sie habe sie nie gehabt. Neben den friedlich lächelnden Liebesleuten dort im Flur nahm sich ihre eigne Liebesgeschichte wie ein wirrer, alberner Fiebertraum aus. Sie hätte es gern anders gemacht!


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