Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel

Als der Ballettänzer am folgenden Morgen vor dem Spiegel stand und nachdenklich sein spärliches Haar bürstete, verspürte er nichts mehr von der guten Laune des vorigen Abends. Seufzend holte er den schwarzen Visitenrock aus dem Kasten, zog ihn langsam und zögernd an; dann beschäftigte er sich noch eine halbe Stunde damit, seinen Hut zu reinigen, und trat endlich, da es doch sein mußte, den sauern Weg an. Dazu kam heute eine niederschlagende, unbehagliche Witterung. Der Himmel war ganz mit gleichmäßig hellgrauen Wolken bedeckt, und in der Luft herrschte eine schwüle Ruhe. Tage, die keinen ordentlichen Sonnenschein hatten, verstimmten Herrn Herz immer; nun noch unter diesen Umständen!

Er schellte an der Laninschen Haustüre, und während er draußen wartete, zogen sich die greisen Haarbüschel über seinen Augen zusammen, und sein armes, sorgenvolles Gesicht ward ganz rot. Das kleine Dienstmädchen öffnete endlich. »Ist der Herr Bürgermeister zu Hause?« fragte Herr Herz.

»Jawohl, bitte nur näherzutreten.«

Das Dienstmädchen verschwand und ließ den Ballettänzer im Salon allein, in diesem Salon, der mit seinen Möbeln in weißkalikot Überzügen, mit seinem blankgebohnerten Estrich, seinen ernsten Fotografien, mit seiner ganzen soliden Steifheit dem alten Mann das Herz schwermachte. Eine Türe öffnete sich halb, und Frau Lanins Kopf, von der Nachthaube bedeckt, zeigte sich und verschwand wieder. An einer anderen Türe machte sich Fräulein Sally bemerkbar durch das Rauschen und Flattern weißer Unterröcke. Nach einigen Minuten kehrte das Dienstmädchen zurück und bat Herrn Herz, in die Stube des Herrn hinüberzugehen.

Da saß der Herr in seiner Stube vor dem großen Schreibtisch. Der kaneelbraune Schlafrock mit den kirschroten Sammetaufschlägen war – der Hitze wegen – offen und ließ die breite Brust des Chefs der Firma Lanin sehen. Das Gesicht war vom Schlaf noch bleich und geschwollen, die Stimme belegt. »Ich habe die Ehre, lieber Herz. Ich weiß es schon, was Sie so früh zu mir führt.« Indem Herr Lanin dieses im Ton feierlichen Beileids dem Ballettänzer entgegenrief, reichte er ihm eine dicke, lauwarme Hand.

»Ja, ja; das ist's«, erwiderte Herr Herz.

»Gut! Setzen Sie sich.«

Herr Herz setzte sich auf Conrad Lurchs Rohrstühlchen.

»Es ist schlimm«, begann Herr Lanin und schaute mit seinen kleinen, glanzlosen Augen zum Fenster hinaus. »Recht traurig! Was gedenken Sie zu tun? Sie wollten meinen Rat einholen; ich verstehe. Aber, da ist schwer raten. Wie Fräulein Schank mir sagt, hat sich eine Stelle für Ihre Tochter gefunden, als Bonne, glaube ich. Das wäre ja günstig.«

Bei Lanins Worten begriff Herr Herz erst Rosas Entrüstung, als er ihr den Vorschlag gestern gemacht hatte, denn das Wort »Stelle« klang im Munde des Bürgermeisters wie etwas sehr Gemeines – und nun noch »Bonne« – mit seinem knallenden B und dem widrig nachschnurrenden Doppel-N. Herr Herz stützte die Ellenbogen auf die Knie, faltete die Hände, schloß die Augen, wie er es zu tun liebte, wenn er ernst sein wollte, und rückte mit dem Vortrage heraus, den er sich mühsam heute morgen eingeprägt hatte.

Fräulein Schank hatte auch ihm – Herz – ihren Plan mitgeteilt. Bevor er aber in eine Trennung von seinem einzigen Kinde willigte, bevor er sich dazu entschloß, Rosa in weite Ferne und in eine unsichere Zukunft hinauszusenden, wollte er es versuchen, der Sache eine andere, glücklichere und natürlichere Wendung zu geben, und deshalb hatte er Lanin aufgesucht. Herr Herz hielt einen Augenblick inne, öffnete die Augen und sah Lanin scheu an. Dieser hörte ruhig zu. Er schien dabei scharf zu denken, denn er zog die Augenbrauen leicht zusammen und kniff die Augenlider ein; seine Lippen umspielte ein feines Lächeln, als hätte er den Sprecher bereits bei einem logischen Fehler ertappt. Herr Herz wollte sich nicht einschüchtern lassen. Er schloß wieder die Augen und sprach weiter, er kannte die Schuld und die Unvorsichtigkeit seiner Tochter wohl, trug er doch selbst einen Teil dieser Schuld, denn seine Erziehungsmethode mochte eine verfehlte, seine Wachsamkeit eine mangelhafte gewesen sein. Mein Gott, wo sollte er auch die rechte Methode, junge Mädchen zu erziehen, herhaben? Ja, wenn die Schwester Ina noch lebte, da wäre manches anders gekommen! Trotz alldem hatte der junge Mann doch auch eine Verantwortlichkeit auf sich geladen, hatte eine Schuld zu sühnen. Ein junger Mann von Geist und Welt hatte einer kaum siebzehnjährigen unerfahrenen Kleinstädterin gegenüber immer leichtes Spiel. Herr Lanin machte eine abwehrende Handbewegung; er war offenbar wieder einem logischen Schnitzer auf die Spur gekommen.

»Ich weiß es«, fuhr Herz fort, »daß zwischen den beiden Kindern wirkliche Neigung besteht. Ambrosius Tellerat hat die Absicht, Rosa zu heiraten, klar und deutlich ausgesprochen, und wie die Sachen liegen, kann und will ich ihm die Hand meiner Tochter nicht verweigern. Mit einer Heirat aber wird die jetzt so traurige Angelegenheit, meine ich, einen für alle segensreichen Abschluß finden.« Herr Herz war mit seiner Rede zu Ende und blickte jetzt zögernd auf.

Lanin saß noch immer ruhig da und lächelte. Er sah weder entrüstet noch erzürnt aus; er schaute vielmehr drein wie jemand, der an einem schwierigen Problem ein rein sachliches, geistiges Interesse nimmt. »Indem Sie von der Heirat – sprechen«, begann er langsam, wieder am Ballettänzer vorüber zum Fenster hinausgehend, »haben Sie allerdings das punctum saliens – wie der Lateiner sagt – der Sache getroffen. Nur scheint es mir, Sie fassen dieses punctum anders als ich und daher nicht ganz richtig – ganz konsequent auf.« Er hielt inne und blinzelte mit den Augenlidern. »Nein, nicht ganz konsequent«, wiederholte er nach reiflicher Überlegung. »Vom allgemeinen moralischen Standpunkt mag solch eine – Sühne – wie Sie sagen – zu verteidigen sein – vom allgemein moralischen – bitte! Die allgemeinen Moralgesetze erleiden aber durch unsere gesellschaftlichen Gesetze eine Modifikation – eine Veränderung. Das ist von jeher das Hauptaxiom meiner, wenn ich so sagen darf, persönlichen Philosophie gewesen. Nun, in der höheren bürgerlichen Gesellschaft, die doch die eigentliche Wahrerin der Moral ist, gilt eine Verbindung zwischen einem jungen Manne und einem Mädchen, das die von der höheren bürgerlichen Gesellschaft geforderte Reserve diesem jungen Manne gegenüber außer acht gelassen hat, für – unmoralisch. Ja, lieber Herz, das ist ein Gesetz, da kann man nichts machen! Die Sühne aber, welche die Gesellschaft dem jungen Manne und dem Mädchen auferlegt – ist – daß sie auf eine Verbindung miteinander verzichten.«

Herr Herz sah sehr verblüfft drein, der Bürgermeister aber lachte. »Ja – ja! Auf den ersten Blick erscheint das widersinnig – paradox, wie? Aber sehen Sie nur näher zu, es ist das einzig Richtige, das einzig Vernunftgemäße.«

»Ich weiß doch nicht...« protestierte Herr Herz leise.

»Doch – doch«, unterbrach ihn Herr Lanin. »Ist sich auch nicht ein jeder dieses Gesetzes klar bewußt, dazu besitzt nicht ein jeder die analytische Übung, so fühlt es doch ein jeder. Ihnen, lieber Herz, würde es nicht anders gehen, wären Sie im beständigen Konnex mit der höheren bürgerlichen Gesellschaft geblieben. Dieses Gesetz ist auch der Grund, warum mein Schwager nie dieser Verbindung seine Zustimmung geben würde, wenn ihm auch nicht anderweitige Pläne, die er mit Ambrosius hat, im Wege stehen würden. Nie – nie!« Herr Lanin machte mit der Hand einen vertikalen Schnitt durch die Luft. »Mein Neffe reist morgen ab, und damit ist für diese unangenehme Verwickelung die einzig vernunftgemäße, ich möchte sagen – ideal-ethische Lösung gefunden.« Herr Lanin machte einen Querschnitt durch die Luft, und damit schien die Sache wirklich vollkommen logisch und – hoffnungslos erledigt zu sein.

Herr Herz erhob sich. Lanins bunte Redensarten verwirrten ihn. »Also – Herr Direktor – wenn Sie meinen...« Er war in so jämmerlicher Verfassung, daß er Direktor statt Bürgermeister sagte und daß es ihm vorkam, als wäre er wieder der arme Komödiant, dem der Direktor sein mageres Honorar vorenthielt.

»Leben Sie wohl«, sagte Lanin herzlich. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter alles Gute. Der allmächtige Weltenordner wird alles zum besten wenden.«

Herr Herz trocknete sich die Tränen aus den Augen. Der väterliche Abschied des Bürgermeisters rührte ihn. »Oh, ich danke – Lanin – ich danke«, damit ging er hinaus.

Im Salon huschten wieder Fräulein Sallys weiße Röcke um die Türflügel – wieder zeigte sich Frau Lanins großes, bleiches Gesicht in der halbgeöffneten Schlafkammertüre.

Herr Herz pilgerte nun zu Klappekahl. Der scharfsinnige Apotheker, der Weltmann, wußte bestimmt Rat.

Die Apotheke war dermaßen überfüllt, daß Klappekahl und Zapper nicht wußten, wo ihnen der Kopf stand. »Ah Herz, das ist charmant. Ich stehe sogleich zur Verfügung«, rief der Apotheker. »Gehen Sie, bitte, ins Wohnzimmer hinüber. Sie finden dort die Ernestine. Konversieren Sie mit ihr ein wenig. Ich muß diese Leute abfertigen. Ich weiß nicht, was das ist, eine Riesenobstruktion hat sich auf die Stadt geworfen. Bitterwasser und Rizinus – sonst nichts! Jetzt – zur Zeit der Früchte! Unbegreiflich!« Klappekahl flog davon.

Herr Herz fand im Wohnzimmer allerdings Ernestine; sie erhob sich jedoch, als er eintrat, grüßte steif und verließ das Zimmer. Es dauerte eine geraume Weile, bis der Apotheker Zeit fand, sich seinem Freunde zu widmen, und als er kam, war er atemlos und erhitzt. »Es ist fabelhaft, wie es heute morgen hier zugeht. Alles schreit nach Abführungen. Es wäre interessant, dieser Erscheinung auf den Grund zu kommen.« – Als er die betrübte Miene seines Gastes bemerkte, ward er ruhiger. »Ja so! Ich habe gehört. Armer Freund!« Er drückte Herrn Herz gefühlvoll die Hand. »Aber was tun! Man muß sich in alles schicken.«

»Ich komme zu Ihnen, lieber Klappekahl«, meinte Herr Herz, »ich dachte mir, Sie werden vielleicht etwas wissen.«

»Ja – lieber Freund«, erwiderte der Apotheker und strich sinnend mit der Hand über sein Kinn. »Ein schwieriger Fall! Nun – aber – aber – – das Schlimmste ist doch noch nicht geschehen?«

»Wie, das Schlimmste?«

»Ich meine, nur kleine Unvorsichtigkeiten liegen vor? Ach Gott! In einer Großstadt hätte das nichts auf sich, da lacht man über dergleichen; aber in unserem Neste wird aus der Mücke ein Elefant. Ich – persönlich – habe über solche Dinge meine selbständige, freiere Anschauung; aber schließlich muß man sich dem Milieu, in dem man lebt, fügen. Sehen Sie, meine eigene Tochter weicht von meiner Auffassung ab. ›Deine Ansicht ist eng, Ernestine‹, sagte ich ihr gestern. Was wollen Sie, das Mädchen steht eben auf dem Standpunkt der Gesellschaft, in der es lebt. Und näher besehen – ist denn die ganze Affäre ein so großes Unglück? Ein hübsches, intelligentes Mädchen wie Rosette – haha – ich nenn sie immer Rosette – das kommt überall fort. Wie wäre es zum Beispiel mit dem Theater? Haben Sie daran schon gedacht?«

»Nein!« entgegnete Herr Herz erstaunt. Daran hatte er wirklich nicht gedacht – und jetzt machte dieser Gedanke auf ihn nur einen peinlichen Eindruck. Sein mühsames, ärmliches Komödiantenleben schwebte ihm vor, und es erschien ihm wie ein Hinabsteigen, wie ein Verlust an Würde, wenn aus der soliden Schankschen Schülerin eine Theaterprinzessin werden sollte.

»Das wäre doch so ungünstig nicht«, fuhr der Apotheker fort und lächelte schalkhaft. »Was würde Rosette dazu sagen?«

»Sie! Mein Gott! Sie sagt, sie will ihn heiraten.«

Klappekahl ließ ein leises Pfeifen hören und kratzte sich mit dem kleinen Finger den Scheitel. »Das ist etwas anderes. Aber – offen gesagt – wenn die Eltern des jungen Mannes ihr Veto einlegen, wenn er selbst nicht daran will, was können Sie tun? Zum Heiraten kann niemand gezwungen werden.«

»Er hat es ihr versprochen«, wandte Herr Herz kläglich ein.

»Baba! So etwas tut man im Jugendeifer. Wer von uns hat das nicht getan? Hand aufs Herz! Sie – und ich – als wir jung waren, in einer Weltstadt lebten, haben wir da geglaubt, daß wir durch solche kleine Galanterien irgendwelche Verbindlichkeit übernehmen? Nein – also! Seien wir gerecht. Wie wollen Sie nun den jungen Mann zwingen? Ein Duell? Ja, in einer großen Stadt, da wäre auch das möglich; ich selbst würde mich Ihnen ohne weiteres zum Sekundanten anbieten; ich weiß, wie solche Affären ausgetragen werden. Aber hier? Unmöglich!«

»Unmöglich!« wiederholte Herr Herz tonlos. »Sie meinen also auch, das Kind soll fort?«

»Es wird nicht anders gehen, mein armer Freund.« Klappekahl reichte dem Ballettänzer beide Hände. »Unsere Freundschaft bleibt ungetrübt. Wir beide haben ein Stück Welt gesehen und wissen, was wir von den kleinstädtischen Vorurteilen zu halten haben.« Zapper unterbrach das Gespräch. »Herr Prinzipal, es muß Gummi arabicum aus dem Magazin geholt werden.«

»Mein Gott! Jetzt tritt die Reaktion ein. Die Stadt ist wie behext. Ich muß fort. Sie entschuldigen. Kann ich Ihnen sonst helfen – Sie wissen – mit dem größten Vergnügen. Morgen gebe ich eine kleine Soirée, so etwas zerstreut. Ich rechne auf Sie. Nur ältere Leute, Sie verstehen – sonst wäre es mir ein Vergnügen gewesen, Rosette bei mir zu sehen. Grüßen Sie das liebe Kind von mir. Arrivederci! Ich komme – ich komme!« Damit lief er fort.

Herr Herz war ein wenig getröstet. Der Apotheker hatte wenigstens nicht den überlegenen, jede Hoffnung raubenden Ton angenommen.

Er beurteilte Rosa milder und hätte sie zu seiner Soirée eingeladen, wäre es nicht eine Soirée für ältere Leute. Ja – er hatte hübsch und herzlich gesprochen, der Apotheker! – Aber Rosa mußte dennoch fort – sie, die einzige Freude des alten Ballettänzers. Bei seinem Alter war es fast gewiß, daß er seine Tochter dann nie wiedersehen würde. Eine Trennung für immer! Und doch mußte es sein. Sie sagten es ja alle, die klugen, umsichtigen Leute. Er selbst war hilflos. Was wußte er von all diesen Rücksichten? Er verstand die ganze sittliche Entrüstung nicht. Und doch hegte er eine so tiefe Verachtung seiner Vergangenheit, daß er seine Ansichten und Anschauungen, die sich von jener Vergangenheit doch nicht ganz losmachen konnten, im vorhinein für falsch und gemein hielt. Sein eigenes Urteil kassierte er ohne zu zaudern vor dem Urteil der vernünftigen, tugendstolzen Bürger, die nie um das tägliche Brot hatten tanzen oder um einen lumpigen Vorschuß bei einem lumpigen Direktor hatten kriechen müssen. Rosa mußte fort, das war gewiß, und neben dem Schmerz über die bevorstehende Trennung empfand Herr Herz auch lebhafte Furcht vor seiner Tochter. Wie sollte er ihr seinen Entschluß mitteilen? Abgespannt, traurig, hungrig und müde kehrte er nach Hause zurück.

Rosa saß in der Fensternische des Wohnzimmers und nähte. Sie trug ihr blaues Sonntagskleid; die Haare hingen nicht wie sonst über den Rücken nieder, sondern waren aufgesteckt und mit einem blauen Bande geschmückt, das Herr Herz noch nicht kannte, und wie sie ruhig auf ihre Arbeit niedergebeugt dasaß, erschien sie ihrem Vater schöner und älter als sonst. Das war nicht mehr Rosa, das Kind. Über dieser blonden Gestalt lag eine ernste Jungfräulichkeit, die den Ballettänzer überraschte und einschüchterte; er wagte nicht so recht mit seinem Bericht herauszurücken und ging unstet im Zimmer auf und ab. Rosa nähte fort, als bemerkte sie die Aufregung ihres Vaters gar nicht. Endlich, als sie einen Faden über die Wachsrolle zog, blickte sie mit ruhigen, klaren Augen auf und fragte: »Nun?«

Herr Herz blieb stehen, zuckte die Achseln: »Es ist noch nichts ausgemacht. Das heißt, ich muß zusehen...«

»Wen hast du gesprochen?«

»Alle Welt, Lanin, Klappekahl. Mein Gott, wo bin ich nicht alles gewesen!«

»Was sagten sie?« – Herr Herz fand seine Tochter zu gesammelt, zu ruhig, das verwirrte ihn. »Gesagt haben sie genug. Aber – was! Schließlich ist es auch gleichgültig, was sie gesagt haben. Wir werden uns schon selbst helfen.«

»Reist Ambrosius ab?«

»Ja – morgen; Lanin sagt das wenigstens.«

»Und sie wollen alle, ich soll nach Rußland fort?«

»Ja – sie haben alle davon gesprochen.« Die schmalen, trockenen Lippen des alten Mannes bebten. »Und, liebes Kind, was kann ich tun? Wenn die schlechten Leute dich hier quälen, wenn sie dir das Leben unmöglich machen – – nimm Vernunft an – Rosa – Kind.« Jetzt weinte er. »Du mußt vielleicht doch fort.«

Still hörte Rosa zu, nur ein wenig bleicher wurde sie. Jetzt biß sie energisch das Ende eines Fadens ab, um ihn in die Nadel zu fädeln, und sagte leise: »Gut, ich werde gehen.« Dann nähte sie.

Verblüfft schaute Herr Herz sein Kind an. Was war denn passiert? Die blasse, ergebene Rosa ward ihm unheimlich; er verstand sie nicht mehr. Alles gab sie auf und wollte gehen?

Agnes Stockmaier kündigte mit Grabesstimme an, die Suppe warte. Rosa faltete ihre Arbeit zusammen, glättete sich mit den Handflächen das Haar und trat zu ihrem Vater: »Komm«, sagte sie und umschlang ihn; »sei nicht betrübt, es wird alles gut werden.« Dabei lächelte sie ein so verständiges, tröstliches Lächeln, daß es dem alten Ballettänzer warm ums Herz wurde und er bewundernd zu seiner Tochter sagte: »Weißt du, Kind, wie du heute ausschaust? Wie eine Madonna.«


 << zurück weiter >>