Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Fünfzehntes Kapitel

Die Morgensonne brannte unerbittlich auf das unregelmäßige Pflaster der Schulstraße nieder, auf die grauen Latten der Zäune, auf die kläglich bestäubten Baumzweige, die aus den Gärten auf die Straße niederzulangen wagten. So einsam, so drückend schwül wie heute war diese Straße Rosa noch nie erschienen. Müde die Schultasche hin und her schwenkend, ging Rosa auf das Schulgebäude zu. Es war ein schwerer Gang! Dieses rote Haus mit den grünen Fensterläden, den herabgelassenen Vorhängen, den tintebefleckten Papierfetzen, die sich auf den Treppenstufen herumtrieben, es erfüllte sie mit Widerwillen und Bangen. Wann war es? Wie lange war sie nicht dort gewesen? Sie rechnete nach. Unmöglich! Nur drei Tage? Es schien ihr eine Ewigkeit zu sein. In diesen drei Tagen war aus der ausgelassensten Schankschen Schülerin ein sehr ernstes Mädchen geworden, das die wunderlichsten Pläne und ein schweres Herz mit sich herumtrug.

An der Treppe zögerte Rosa. Eine kleine rote Hand schob den Vorhang zurück, zwei braune Augen schauten heraus, verschwanden wieder, und gleich darauf regten sich alle Vorhänge, und hinter allen spähten neugierige Mädchenaugen hervor. »Warum tun sie so ängstlich?« fragte sich Rosa, »sollte Fräulein Schank schon da sein?« – Sie trat in das Schulzimmer. Die Mädchen standen in Gruppen an den Fenstern oder saßen auf den Bänken und Tischen beieinander. Rosa sah es den Stellungen und Mienen sofort an, daß etwas Interessantes vorgefallen war. So pflegte es in der Schulstube auszusehen, wenn irgendein Ereignis die Mädchenköpfe erhitzte. Jetzt herrschte tiefe Stille, alle Augen richteten sich auf Rosa, und in diesen neugierigen, halbbefangenen Blicken lag etwas Feindseliges, das Rosa kalt bis in die Fingerspitzen drang. Sie machte ihr leichtsinniges Gesicht und rief leichthin und munter ein »guten Morgen« in das Gemach hinein. Leise und so nebenher bekam sie hier und da ein »Morgen«, »Grüß dich« zur Antwort. Die Mädchen griffen nach ihren Büchern, sprachen über gleichgültige Dinge, als wäre nichts passiert, aber der gezwungene, ruhige Ton, die verständnisvollen Blicke ließen es wohl erkennen, daß hier ein gewichtiges Geheimnis in der Luft schwebte, von dem jetzt nicht gesprochen werden konnte.

Rosa setzte sich auf ihren Platz und begann ihre Aufgabe zu überlernen, sie wendete dabei einen fanatischen Fleiß an. Indem sie sich die Regeln der französischen Syntax einprägte, hoffte sie ihre Umgebung und die ganze ärgerliche Lebenslage zu vergessen.

Fräulein Schank ließ lange auf sich warten. Die Schülerinnen gaben sich schon der leisen Hoffnung hin, eine Krankheit oder ein Familienunglück ihrer Lehrerin würde den französischen Unterricht heute ausfallen lassen. »Nein, es ist der Lehrerkonferenz wegen, und die kann noch lange dauern.«

War das nicht Sallys Stimme? Rosa blickte auf. Richtig! Sally saß auf Fräulein Schanks Stuhl vor dem Pulte, die Wange auf die Hand gestützt, und schaute gütig auf ihre Kameradinnen herab, die sie eifrig umringten. Als sie Rosas Blick begegnete, lächelte sie verächtlich und wandte den Kopf ostentativ ab. Eine der Schülerinnen flüsterte Sally kichernd etwas zu, sie schüttelte aber den Kopf und sagte streng: »Lassen wir das jetzt.«

Das Wort »Lehrerkonferenz« hatte Rosa erschreckt. Es klang wie ein Unglück, das ihr drohte, und sie glaubte auf Sallys Gesicht schon die Schadenfreude zu lesen. Mit einem lauten, zornigen »Klapp« schlug sie ihre Grammatik zu, erhob sich, stellte sich an das Fenster, und die Arme über der Brust gekreuzt, schaute sie Sally böse an. Allerhand Pläne gingen ihr durch den Kopf; sie wollte sich an diesen herzlosen Mädchen rächen, wollte ihnen imponieren; sie beschloß, eine große, pathetische Rede zu halten, Sally tödlich zu beleidigen – und dann schwieg sie doch.

»Unglaubliche Keckheit«, wandte sich Sally an ihre Nachbarin, »aber tut so, als wäre sie gar nicht da.«

Rosa hörte diese Worte ganz deutlich und erwiderte mit bebender Stimme:

»Ich glaube es schon, dir wäre es recht, wenn ich nicht auf der Welt wäre; wenn es überhaupt kein Mädchen gäbe, das nicht auf beiden Augen schielt.«

»Das ist zu arg!« rief Sally und schlug mit der Hand auf das Pult; weiter konnte sie nicht sprechen. Diese Beleidigung war so giftig und bitterböse, daß sie weit über die gewöhnlichen Zänkereien der Schulstube hinausging. »Die abscheuliche Person!« stöhnte Sally und begann zu weinen. Rosa aber wollte nun ihrer ganzen Entrüstung Luft machen. Die heiß in ihr aufsteigende Wut bereitete ihr eine Art Lust. »Laßt euch nur von Sally gegen mich aufhetzen«, fuhr sie fort, »ich mache mir nichts daraus; für mich existiert ihr schon lange nicht mehr. Geht, tanzt nach Sallys Pfeife! Ich brauche euch nicht. Meine Wege führen in ein anderes Reich.« Scheu blickten die Mädchen von der seltsam veränderten Rosa auf die weinende Sally. Sie fürchteten sich vor diesem rücksichtslosen Weiberhaß, der sich plötzlich in die friedliche Schulstube eingeschlichen hatte. Rosa wollte noch mehr sagen. Der Zorn machte sie schön und beredt, das fühlte sie, aber Fräulein Schank erschien. Die Schülerinnen setzten sich auf die Bänke. Sally sah leidend und ergeben aus; zuweilen preßte sie die Hand auf das Herz, als litte sie dort unendlich. Als Fräulein Schank jedoch ihren elenden Zustand nicht bemerkte, erhob sie sich und bat, die Schule verlassen zu dürfen. »Gehen Sie«, sagte Fräulein Schank trocken. Sally raffte ihre Bücher zusammen und verließ das Gemach. Auf dem Weg zur Türe stützte sie sich mit zitternden Händen auf den Schultisch, um nicht zusammenzusinken, und das Öffnen der Türe machte ihr Schwierigkeiten, denn sie mußte mit beiden Händen ihr Herz halten.

Der Unterricht nahm seinen regelrechten Verlauf. Fräulein Schank war ernst, aber ungewöhnlich milde. Von Rosa ward heute nichts verlangt. Den Kopf tief auf ihr Buch herabgebeugt, saß sie da und versank in ein unklares, wirres Träumen, und wenn irgend etwas sie aus ihrem Hinbrüten aufstörte, dann sah sie das altbekannte Schulzimmer seltsam an, und als der Unterricht zu Ende war, merkte Rosa es nicht und blieb sitzen; erst als ihr Name genannt ward, blickte sie auf. »Komm!« sagte Fräulein Schank feierlich, aber nicht böse. Rosa gehorchte. Draußen vor der Türe des Schulzimmers sagte Fräulein Schank milde: »Geh! Nimm deine Bücher. Dir ist heute nicht wohl. Geh nach Hause. Am Nachmittage komme ich zu euch. Behüte dich Gott!« Mit ihrer dürren Hand fuhr sie leicht über Rosas Haar. »Geh, mein Kind!« In dem allen lag etwas kummervoll Zärtliches, das Rosa die Tränen in die Augen trieb. Rosa kehrte in die Schulstube zurück, packte ruhig ihre Bücher zusammen, warf ihren Kameradinnen einen hochmütigen Blick zu und verließ die Schule; draußen aber ging es ihr, sie wußte es selbst nicht wie, durch den Kopf:

»Es ist wohl das letzte Mal, daß du drin gewesen bist?« Das rührte sie. Gefühlvoll legte sie die flache Hand auf die alte gelbe Türe, als wäre diese die Wange eines guten Freundes.

Auf der Straße fragte sich Rosa: Was nun? Nach Hause wollte sie nicht. In der engen Stube würde sie nicht Ruhe finden, das wußte sie, und dann sollte Agnes nicht wissen, daß Rosa wieder die Schule versäumte. Die alte Frau hatte sich in der letzten Zeit eine wunderlich vorwurfsvolle Art, Rosa anzuschauen, angewöhnt. Rosa entschied sich für den Stadtgarten; dort wollte sie ihre Lage überdenken. Sie zog die Augenbrauen zusammen, richtete sich stramm auf, wie jemand, der den Entschluß faßt, an eine schwere Arbeit zu gehen.

Was gab es denn? Ambrosius liebte sie, und sie liebte Ambrosius; dagegen ließ sich doch nichts einwenden. Ein Mädchen ist doch dazu da, damit es einen Mann bekommt, das weiß jedes Kind. Warum aber schickte Fräulein Schank Rosa fort? Ja – nun! Ein verlobtes Mädchen paßt nicht mehr in die Schule. Rosa konnte es ganz recht sein, daß es mit dem ewigen Lernen sein Ende nahm. Das große Gouvernantenexamen brauchte sie ja jetzt nicht mehr zu machen, da sie Ambrosius heiratete. Diese Heirat löste alle Schwierigkeiten leicht und schön und sollte Rosa für alle Demütigungen reichlich entschädigen. Sally und ihr Gefolge sollten Augen machen! Rosa sah es schon, wie der Hochzeitszug sich über den Marktplatz bewegte – sah sich selbst im weißen Atlaskleide vor dem Altar stehen. Ein sehr schönes Kleid! Ganz einfacher Schnitt, vorne ein wenig kurz, damit die weißen Atlasschuhe gesehen werden können. Als einzige Verzierung ein Tablier von Brüsseler Spitzen. Sehr wenig Schmuck; nur eine Diamantriviere – »Nichts weiter«, sagte Rosa vor sich hin. Neben ihr ihr Vater, froh und rosig, Fräulein Schank, die Schar der weißen Brautjungfern. Sally war nicht darunter; nein, sie war überhaupt gar nicht geladen, sondern saß in ihrem Werktagskleide auf einem fernen Kirchenstuhl und schaute neidisch zu.

Rosa hatte sich in die Laube gesetzt und die Augen geschlossen, um sich ungestörter ihren Visionen hingeben zu können, diese Visionen wurden zu Träumen, Rosa schlief ein.

Sie erwachte vom leisen Knirschen des Sandes, als sie sich aber erschrocken umschaute, sah sie niemanden. »Es waren aber doch Schritte«, sagte sie sich. »Jemand muß hier gewesen sein.« Richtig! Neben ihr auf der Bank lag ein zusammengefaltetes Papier, das die Aufschrift »An Fräulein R. H.« trug. Hastig griff Rosa danach und öffnete es. Der Bogen war mit schönen deutlichen Schriftzügen bedeckt, als Unterschrift war zu lesen: »Conrad Lurch«. Der Brief lautete:

»Geehrtes Fräulein R. Herz! Ich belästige Sie mit diesen Zeilen nur, damit Sie erfahren: 1. was hinter Ihrem Rücken – und zu Ihrem Nachteil – vielleicht – über Sie gesprochen wird. 2. daß Sie in mir den ergebensten Diener haben, der stets alles für Sie zu tun bereit sein wird. Was also Punkt 1 betrifft, so wissen Sie, Fräulein Rosa, daß man bei Lanins mit dem Schließen der Türen nicht eben pedantisch ist und daß man im Laden jedes Wort hört, das im großen Zimmer gesprochen wird, wenn die Türe nur angelehnt ist. Heute hatte der Prinzipal mit Herrn von Tellerat eine Unterredung, die Sie, Fräulein Rosa, betraf. Es wurde in einer Weise über Sie gesprochen, die meinem Herzen wehtat. All dieses Unpassende und Verletzende werde ich Ihnen nicht wiederholen. Wozu auch? Nur folgendes wird für Sie wichtig sein. Daß es mit allem, was ich gehört habe, auch ernstgemeint war, glaube ich nicht. Sie, Fräulein Rosa, werden ja selbst am besten wissen, was Sie davon zu denken haben. Nachdem also der Prinzipal sich über Sie in anstößiger Weise geäußert hatte, fragte er den Herrn T.: ›Willst du sie denn heiraten?‹ ›Ich weiß das noch nicht‹, sagte besagter Herr. ›Ich muß dich darauf aufmerksam machen‹, sagte der Prinzipal, ›daß ich deine Eltern von dem Geschehenen verständigt habe. Deine Eltern werden eine solche skandalöse Verbindung nie zugeben.‹ – ›Wieso – skandalös?‹ fragte Herr v. T. (mit vollem Recht, meiner Ansicht nach). ›Skandalös‹, sagte der Prinzipal, ›weil dieses Mädchen, an und für sich keine passende Partie für einen Tellerat, sich unverantwortlich kompromittiert hat. Die ganze Gesellschaft sagt sich von einem jungen Mädchen los, das durch seine frechen Unziemlichkeiten (ein sehr gemeiner Ausdruck!) jede Achtung verscherzt hat. Und solch eine Person (sic!) willst du heiraten?‹ – ›Ich sage nicht, daß ich sie heiraten werde‹, meinte Herr v. T. ›Du wirst sie also nicht heiraten‹, sagte der Prinzipal. – ›Nein‹, antwortete Herr v. T. ›Du gibst mir dein Wort darauf?‹ sagte der Prinzipal. ›Damit ihr das Mädchen nicht länger quält, gebe ich dir mein Wort‹, sagte Herr v. T. ›Gut!‹ sagte der Prinzipal. ›Du versprichst mir, das Mädchen nicht wiederzusehen.‹ ›Das habe ich nicht gesagt‹, meinte Herr v. T. (mit Recht). ›Nun‹, sagte der Prinzipal. ›Du kehrst ohnehin morgen oder übermorgen zu deinen Eltern zurück.‹ Damit hatte das Gespräch sein Ende erreicht, denn Fräulein Sally kam mit ihren Geschichten dazwischen. Sie, bei Ihrer Gescheitheit, werden gewiß wissen, was davon zu halten ist. Ich aber hielt es für meine Pflicht, obiges Ihnen mitzuteilen. Kann ich Ihnen von Nutzen sein, Fräulein Rosa, und hier komme ich auf Punkt 2 zu sprechen, so bitte ich nach Gefallen über mich zu verfügen, denn mit nie wankender Achtung und (wenn es erlaubt ist) mit Liebe bleibe ich Ihr treuester Diener.

Conrad Lurch, zweiter Kommis bei Lanin und –«

Langsam faltete Rosa das Blatt wieder zusammen. Wie? Ambrosius gab das Versprechen, sie nicht heiraten zu wollen? Ambrosius sollte fort? Das war unmöglich; sie verstand von alledem kein Wort. »Unsinn!« sagte sie laut vor sich hin, zerknitterte energisch den Brief und steckte ihn in die Tasche.

Unsinn war es vielleicht, aber als Rosa zu Hause beim Mittagsmahl saß und die bekannten Geschichten ihres Vaters anhörte, da wollte ihr dieser Unsinn doch nicht aus dem Kopf, denn wenn sie auch alles Unwahrscheinliche und Lächerliche von Lurchs Bericht in Rechnung zog, es blieb immer noch ein bitterer Rest quälender Sorge übrig.

Nach der Mahlzeit zog sich Rosa auf ihr Zimmer zurück, setzte sich auf einen Sessel, faltete die Hände im Schoß und wartete. Fräulein Schank sollte ja kommen, um dem Vater alles zu sagen, und was wurde dann aus dem schläfrigen Frieden der Herzschen Wohnung? Vielleicht wäre es besser, den Vater auf alles vorzubereiten? Rosa aber fand dazu nicht den Mut. Sie wollte lieber warten. Gar so schlimm konnte es ja nicht kommen.

Um vier Uhr gab die Türglocke einen kurzen, harten Laut von sich. Das war Fräulein Schanks energische Art zu schellen. Agnes schurrte heran, die Außentüre, die Agnes immer zu ölen vergaß, knarrte. »Guten Abend, Fräulein!« sagte Agnes.

»Grüß Sie Gott«, antwortete Fräulein Schanks feste, metallige Stimme. »Ist der Herr zu Hause?«

»Ja, er schläft drinnen im Wohnzimmer.«

Jetzt ward die Türe des Wohnzimmers geöffnet.

»Störe ich?« fragte Fräulein Schank.

Herr Herz schien eben aus dem Schlafe aufgefahren zu sein, denn seine Stimme war noch heiser. »Ach, liebe Schank, Sie stören nie. Ich schlafe jetzt immer so lange und bin froh, wenn jemand mich weckt. Diese Schlafsucht kommt, denke ich, mit dem zunehmenden Alter.«

Er wollte sich noch weiter über seinen Zustand auslassen, aber Fräulein Schank unterbrach ihn: »Ist Rosa zu Hause?«

»Ja; sie schläft, denke ich. Sie sah mir heute nicht ganz gesund aus.«

An der zaghaften Art, in der der Vater sprach, erkannte Rosa, daß Fräulein Schank ihr unheilverkündendes Gesicht aufgesetzt hatte. Übrigens wollte sie ihren Vater nicht Lügen strafen; sie warf sich auf ihr Bett und stellte sich schlafend.

Im Nebenzimmer wurden Sessel gerückt, dann begann Fräulein Schank zu sprechen, aber so leise, daß Rosa sie nicht verstehen konnte. Herr Herz schwieg, nur zuweilen ließ er ein leises Husten hören. »Geben wir uns keinen Illusionen hin«, das war der einzige Satz, der bis zu Rosa drang, und er genügte, um Rosa gegen Fräulein Schank aufzubringen. »Ah, die Alte hält die Heirat mit Ambrosius für eine Illusion! Natürlich, was weiß diese alte, auf dem Katheder vertrocknete Frau von Liebe? Sie soll da einen Lehrer Streber gehabt haben, mit dem sie verlobt war, er ließ sie aber sitzen und reiste ab. Und das ist auch schon so lange her – und kann denn bei einem Lehrer Streber überhaupt von Liebe die Rede sein? Lächerlich!«

»Sie sprechen also mit Rosa?« sagte Herr Herz jetzt leise.

»Ja, ich will wenigstens zu ihr hineinschauen«, entgegnete Fräulein Schank und öffnete die Türe zu Rosas Zimmer. Rosa schloß die Augen und regte sich nicht. »Sie schläft«, flüsterte Fräulein Schank; »sollen wir sie wecken?«

»Nein, lassen Sie sie schlafen«, flehte Herr Herz; »sie erfährt es ja ohnehin früh genug.«

»Gut, ich komme morgen wieder«, meinte Fräulein Schank. »Auf Wiedersehen, lieber Herz! Sie verzeihen, daß ich die Überbringerin so schlechter Nachrichten bin; ich hielt es aber für meine Pflicht.«

»Im Gegenteil, ich bin Ihnen dankbar, liebe Schank«, antwortete Herr Herz. »Verlassen Sie das Kind nicht; ich unbeholfener Alter, was kann ich tun?«

»Der liebe Gott wird schon alles zum Guten wenden«, tröstete Fräulein Schank. Dann kam Agnes wieder mit ihrem »Guten Abend, Fräulein!«, die Außentüre knarrte, und es ward still, ganz still.

Abendliche Schatten zogen in die Wohnung des Ballettänzers ein – es wurde finster. Rosa lag noch immer auf ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit hinein.

Im Wohnzimmer saß der alte Mann, faltete seine Hände über den spitzen Knien und weinte; und draußen, in der Küche, lehnte Agnes Stockmaier am Fenster und blickte traurig auf den leeren Hof hinab.

Spät abends erst entschloß sich Rosa, zu ihrem Vater hinüberzugehen. Im Wohnzimmer war es so finster, daß Rosa unsicher umhertappte.

»Kind, bist du's?« fragte Herr Herz leise und heiser.

»Ja, Papa.«

»Gehst du fort?«

»Nein.«

»Ah, ich glaubte, du suchst deinen Hut. Es ist auch besser so; ich habe ohnehin mit dir zu sprechen.«

»Soll Agnes die Lampe bringen?«

»Nein. Wozu? Komm setz dich her.« Rosa drückte sich in eine Sofaecke, preßte die Arme gegen die Brust und war bereit.

»Du sitzt schon, mein Kind; nicht wahr?« begann Herr Herz. »Was wollte ich dir doch sagen? Ja – so! Die Schank war hier.« Er hielt inne, da Rosa aber schwieg, fuhr er mühsam und ein wenig unzusammenhängend zu sprechen fort. »Sie hat mir da allerhand erzählt – – Dinge, die mir ganz, ganz fremd waren, und die mich – einigermaßen – alteriert haben. So sagt sie unter anderem, die ganze Stadt spricht von – von – wie sie sagt – von heimlichen Zusammenkünften zwischen dir und dem jungen Tellerat. – Du hast mir nichts davon gesagt, liebes Kind. An der ganzen Geschichte ist vielleicht nichts daran?«

»Doch«, sagte Rosa, und ihre Stimme nahm eine erzwungene Festigkeit und Ruhe an. »Ich komme mit Ambrosius Tellerat zusammen, weil ich mit ihm verlobt bin.« Tiefe Stille folgte dieser Erklärung; nur die alte Wanduhr ließ ihr asthmatisches Tiktak vernehmen.

»Davon habe ich nichts gewußt«, ergriff Herr Herz endlich kleinlaut wieder das Wort.

»Ich wollte es dir heute sagen«, antwortete Rosa, und nun – den Kopf auf die Sofalehne zurückgeworfen, die Füße von sich gestreckt – begann sie, dem ganzen Unwillen, allem Ärger, all der Angst, die sie den ganzen Tag über mit sich herumgetragen hatte, in der unlogischen, übersprudelnden Weise weiblicher Beredsamkeit Luft zu machen. Natürlich! Der Vater hatte es sich auch von der Schank einreden lassen, daß sie mit Ambrosius weiß Gott was für Sachen trieb, daß sie ein schlechtes, leichtsinniges Mädchen sei. Wenn alle auch übel von ihr dachten, so hatte sie doch wenigstens gehofft, von ihrem Vater verstanden zu werden. Hunderte von Mädchen verlobten sich jedes Jahr, nur sie – Rosa – durfte es nicht; bei ihr war es ein Verbrechen. Und warum? Weil Sally Ambrosius heiraten wollte. Aber welches Recht hatte Sally auf Ambrosius? Hatte sie ihn vielleicht gepachtet? Konnte sie ihn zwingen, ein widerliches schielendes Mädchen zu lieben? Nein! Ambrosius liebte Rosa – und Rosa liebte Ambrosius, das war doch einfach genug. Oder war es vielleicht etwas so Ungeheuerliches, daß jemand Rosa Herz heiraten wollte? Gleichviel! Geschehen würde es doch. Als Rosa auf den Höhepunkt ihrer Rede gelangt war, brach sie in Tränen aus, schluchzte laut und eigensinnig, wie ein ungezogenes Kind.

»Rosa – Kind, weine nicht!« versuchte Herr Herz sie zu beruhigen. »Ich sage ja nichts! Ich berichte dir nur, was die Schank mir erzählt hat. Aber du gerätst gleich in Feuer – und nun dieses Weinen! Was hab ich denn gesagt? Ich habe es nicht gewußt, daß ihr miteinander verlobt seid. Wenn das so ist, wie du sagst, werde ich mich darüber freuen.«

»Du glaubst doch nicht an die Heirat!« warf Rosa ein und weinte fort.

»O ja! Warum nicht! Wir werden ja sehen! Nur müssen diese Angelegenheiten besprochen und bedacht werden. Mit dem unverständigen Weinen richten wir nichts aus. Weine nicht, sei vernünftig! Wenn man heiraten will, muß man gescheit sein. Komm!«

Rosa richtete sich auf. »Was sagt denn eigentlich die alte Schank?« fragte sie.

»So gefällst du mir!« Herr Herz versuchte es, seiner Stimme einen munteren Klang zu geben. »Nun – sie erzählt, heute morgen ist Lanin bei ihr gewesen, um ihr mitzuteilen, man habe dich und den jungen Tellerat zusammen gesehen – beim Trödler, glaube ich – und dann noch beim alten Raute. Allerhand böse Dinge spricht man in der Stadt von euch. Kurz: Lanin verlangt, die Schank soll dich aus der Schule ausschließen, sonst nimmt er seine Tochter fort, und viele andere tun es auch.«

»Die Schank hat es ihm natürlich zugesagt«, schaltete Rosa bitter ein. »Oh, sie kann unbesorgt sein! Ich gehe ohnehin nicht mehr zu ihr.«

»Ereifre dich nicht, Kind! Wir wollten die Sache ja ruhig besprechen. Der Schank gehen diese Geschichten sehr nah; sie liebt dich wie ihr Kind. Aber was kann sie tun? Sie hat mit Lanin auch über die mögliche Heirat gesprochen. Nun er – hat sich ungünstig darüber ausgesprochen, hat nichts davon wissen wollen und hat – wie die Schank sagt – behauptet, der junge Mann habe ihm – Lanin – versprochen, dich nicht zu heiraten.«

»Das ist nicht wahr!«

Herr Herz hatte den letzten Teil seines Berichtes unsicher und leise vorgebracht, jetzt fuhr er hastig fort, um die böse Sache schnell abzumachen: »Hör mich nur bis zu Ende. Ich hoffe auch, es wird nicht so sein, wie die Schank es darstellt. Lanin hat ferner gesagt, sein Neffe reise morgen oder übermorgen ab, und damit – so meint Lanin nämlich – soll die Affäre ihren Abschluß finden. Warte, unterbrich mich nicht. Die Schank sagt nun, du seiest nicht ganz vorsichtig gewesen, und darin hat sie recht, du bist gewiß nicht vorsichtig gewesen«, wiederholte Herr Herz mit einem Anflug väterlicher Strenge. »Sie meint also, du sollst fort – für einige Zeit wenigstens. Hier in der Stadt werden die Leute dir Unannehmlichkeiten bereiten. Sie hat erfahren, daß ein junges Mädchen als Bonne für eine russische Kaufmannsfamilie gesucht wird. Da hat die Schank gleich an dich gedacht.« Dem armen alten Mann kostete es Mühe, seine Bewegung zu verbergen, und obgleich ihm die Tränen über die Wangen liefen, fügte er doch munter hinzu: »Was meinst du, Kind? Reisen. – Die Welt sehen?«

»Ich – eine Bonne!« fuhr Rosa auf. »So etwas kann sich auch nur diese Alte ausdenken.«

»Warum? Eine Bonne ist doch nichts Schlechtes. Oder nenne es Gouvernante, Gesellschafterin – wie du willst.«

»Ich danke schön.«

Herr Herz war in Verzweiflung. Der kurzen, mit tiefer Stimme gesprochenen Antwort hörte er es wohl an, wie sehr er seine Tochter verletzt hatte. Nun sollte er sie noch zu diesem Plan überreden, der ihm selbst fast das Herz brach. Was konnte er tun? Rosas Leichtsinn, all das Schlimme, was die Leute ihr nachsagen und antun würden, bereitete ihm arge Pein. Gerade weil er sich den größten Teil seines Lebens in einer Welt bewegt hatte, in der es mit der weiblichen Tugend so wenig genau genommen wurde, gerade deshalb erfüllten ihn die strengen Grundsätze der solid bürgerlichen Gesellschaft mit um so größerer Achtung, jener Gesellschaft, in die aufgenommen worden zu sein der Triumph seines Lebens war. Nun wollte diese bewunderte Gesellschaft seine Rosa verstoßen. Sein Kind sollte dieser Gesellschaft unwürdig sein. Hatte Rosa sich nicht ganz an die Regeln der Sittsamkeit gehalten, wie ein gutes Bürgermädchen es muß, fiel nicht der größte Teil der Schuld auf ihn zurück? Der alte Ballettänzer, dessen höchstes Ideal es war, ein tadelloser Spießbürger zu sein, glaubte zu sehen, wie in Rosa etwas von seiner ungeordneten Vergangenheit erwachte, und er sagte sich: »Wird dieses Kind kein braves, geachtetes Bürgermädchen wie Sally Lanin und Ernestine Klappekahl, so bist du daran schuld, denn du vermochtest ihr keinen braven, geachteten Bürger zum Vater zu geben.« Aber wie allen schwachen Gemütern mit reger Einbildungskraft gelang es Herrn Herz, bald über diese traurigen Gedanken hinwegzukommen. Warum sollte Ambrosius Rosa nicht heiraten? Ein vernünftiger Grund war dagegen nicht vorzubringen. Und kam die Heirat zustande, dann war ja alles in bester Ordnung. »Übrigens«, wandte er sich an seine Tochter, »dürfen wir die Köpfe nicht hängen lassen. Ich gehe morgen zu Lanin, spreche mit ihm – mit dem jungen Mann auch. Hoffentlich klärt sich alles günstig auf, und dann brauchen wir die Russen der Schank nicht mehr. Der Gedanke einer Trennung von dir wollte mir ohnehin nicht in den Kopf. Also munter – munter! Agnes – die Lampe!« Er lachte – er freute sich jetzt sogar, daß Rosa Aussicht hatte, eine gute Partie zu machen.

»Eins aber sage ich dir«, versetzte Rosa, »mit der Schank spreche ich morgen nicht.«

»Nein – nein«, erwiderte Herr Herz. »Aber du darfst ihr nicht böse sein.«

Als Agnes die Lampe brachte, zeigte es sich, daß sowohl Rosa wie auch ihr Vater verweinte Augen hatten, beide sahen aber ruhig, Herr Herz sogar fröhlich aus. Er trieb allerhand Possen, neckte Rosa, spottete über die Lanins; ja – die Sache hatte in seinen Augen plötzlich ein so günstiges Ansehen gewonnen, daß er Rosa den ganzen Abend über »die kleine Braut« nannte. Und als sie nach dem Nachtmahl miteinander Piquet spielten, waren sie ausgelassen wie Kinder, die ihren tollen Einfällen die Zügel schießen lassen, weil die erwachsenen Leute ausgegangen sind. Nur Agnes ging bleich und mürrisch ab und zu. Jedesmal wenn sie das Wohnzimmer betrat, ward Herr Herz stiller und blinzelte Rosa mit den Wimpern heimlich zu; und ging Agnes wieder hinaus, dann flüsterte er: »Warum die nur heute so brummig ist?«


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