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Der Weg ging durch Schnee und Eis. Über fremde Straßen ging er, und die Höfe, die links und rechts lagen, waren fremd. Fremd war auch der Beruf. Fremd und töricht! Wer bläst im Wintersturm Frühlingslieder; wer spielt Tanzweisen, wenn ringsum das Regenwasser läuft in schmutzigen Rillen; wer hat fröhliche Melodien, wenn der Leib und die Seele friert?
Der reisende Musikant tut es für elenden Sold. Er ist der singende Bettler, der Heuchler für Geld. Er ist unter allen Spaßmachern der letzte.
Mit stumpfen Sinnen zog Robert durchs Land. Diese Stumpfheit war seine Rettung. Deshalb ertrug er dieses Leben. Er verschloß sich der Erinnerung und der Zukunft. Das Gegenwärtige aber war grau und leer und ließ ihn gleichgültig.
Er war ein schlechter Kamerad. Die Scherze der Gefährten fand er albern, und so verstummten sie allmählich; ihre Freude über einen kleinen Gewinn fand er töricht, ihren Zorn über schlechte Behandlung teilte er nicht. Wenn sie von einem warmen Quartier, von einer freundlichen Ruhestunde sprachen, hörte er nicht zu.
So trug er Schweigsamkeit und Verdrossenheit in den kleinen Kreis, und die Kameraden seufzten heimlich über ihn. Ihn auszuschelten, auf ihn einzureden, hatten sie längst aufgegeben.
Sie verstanden ihn nicht. Er hatte ihnen nichts erzählt von seinen großen Erlebnissen. Manchmal fielen ihm die Großeltern ein. Dann war er unglücklich. Dann traten Vergangenheit und Zukunft an ihn heran, und er hatte für die Zukunft keine Lösung und für die Vergangenheit nichts als Zorn und Weh.
Einmal aber nach einer unruhigen Nacht schrieb er eine Postkarte an die alten Eltern. Er schrieb nur wenig. Es gehe ihm gut, er reise mit den Kameraden und suche eine Heimat.
Tagelang trug er schwer an dieser Lüge. Drei Wochen lang kämpfte er mit sich, ehe seine Seele die Kraft fand, einen Entschluß zu fassen.
Es war Ende November. Die Musikanten waren in die Nähe einer großen Fabrikstadt gekommen. In einem Straßenwirtshaus hatten sie Einkehr gehalten. Ganz allein saßen sie in der schlecht geheizten Stube.
Da stand Robert auf und sagte:
»Ich ziehe nicht mehr mit euch!«
Sie erstaunten nicht, sie hatten das alle Tage erwartet. Keiner gab eine Antwort.
Und Robert fuhr fort:
»Das ist kein Leben für Menschen!«
»Das hast du früher nicht gesagt«, warf Steiner bitter ein.
»Nein, aber oft gedacht. Wenn wir jetzt in die Stadt kommen, suche ich mir eine Arbeitsstelle.«
»Dann hättest du sollen in Teichau bleiben.«
Darauf antwortete er nicht.
»Als was willst du arbeiten?« fragte Schulze.
»Das ist ganz gleich. In irgendeinem Betrieb. Es ist alles besser als dieses Reisen.«
»Wenn du nicht gleich Arbeit findest, kannst du in der großen Stadt verhungern.«
»Nein! Ich habe Geld. Ich habe fast zweihundert Taler.« Sie starrten ihn erschrocken an, als sei er irre geworden. Da warf er eine Brieftasche auf den Tisch und zeigte die Kassenscheine.
Entsetzt rückten sie mit den Stühlen vom Tische ab.
»Ihr braucht euch nicht zu fürchten; ich habe es nicht gestohlen; ich habe es geerbt. Die alten Hellmichleute in Teichau sind meine Großeltern, von denen habe ich es.« Da hatte er es gerade heraus gesagt.
Und er sagte auch das andre; sagte alles stoßweise, abgerissen, als ob jedes Wort ihn schmerze, jedes Wort verloren wäre.
Sie saßen still und betroffen, scheu und verlegen.
»Und nu hab' ich's euch gesagt, und nun spricht mir keiner darüber ein Wort!«
Am nächsten Tage beredete er sie, mit ihm nach der Stadt zu ziehen. Er gab ihnen Geld, daß sie ein Unterkommen fanden, und mietete sich selbst eine kleine Stube. So machte er einem vierfachen Musikantenleben ein Ende. In dem tausendgestaltigen Leben der großen gewerblichen Stadt fanden die Leute ihr Unterkommen.
Pohl, der Italiener, borgte Robert um 150 Mark an und begann einen Handel mit Kurzwaren, die er in einem Korbe zum Verkauf trug. Er war bald in allen Gasthäusern die populärste Figur, zahlte Robert gewissenhaft sein Darlehn zurück und war nach fünf Jahren ein wohlhabender Mann. Er bekam seine Scherze und Redensarten besser bezahlt als seine Waren, und wenn er einen neuen Witz ersonnen hatte, verdiente er damit mehr Geld als ein Schriftsteller mit einer guten, kleinen Arbeit.
Schulze, der Bäcker, brachte es zu nichts. Die Wandersehnsucht seiner Beine führte ihn noch einige Male ins Weite. Er fand aber schließlich auch einen Beruf, der ihn ausfüllte; er wurde Austräger eines Damenhutgeschäftes.
Steiner fing klein an. Er wurde zuerst Haushälter in einem großen Kaufhause. Seine joviale Art, seine Treue und natürliche Würde blieben dem Kaufherrn nicht verborgen, und so machte ihn dieser zum Portier seines Privathauses, das dadurch ein wirksames Schmuckstück erhielt.
Robert ging wie ein Träumer durch die Stadt. Er fand keinen guten Platz. Ein paarmal wurde ihm eine Stelle von andern weggenommen, die weniger scheu waren als er.
So wurde er endlich Fabrikarbeiter.
Als er die Stelle hatte, schrieb er an seine Großeltern. Er war außerstande, ihnen sein Versprechen nicht zu halten. Aber es war noch so viel Klugheit und Gerechtigkeit in ihm, daß er das Sündhafte einsah, die alten Leute aus ihrem schönen Heim herauszulocken in diese schwarze, lärmende Stadt. Er wollte ihnen nur sagen, daß er heimisch geworden sei, daß er nicht mehr bettle und friere. Dann schrieb er, sie sollten an ihrem Orte wohnen bleiben und ihn besuchen, wenn sie wollten. Sie sollten ihn auf viele Monate besuchen.
Am 19. Dezember kam dieser Brief zurück. Ein Briefträger hatte mit Bleistift auf die Rückseite geschrieben: Adressaten verstorben.
Das war die Todesanzeige, die der Sohn der Hagar von dem Hingang seiner einzigen Angehörigen erhielt.
An diesem Tage verlor Robert seine Arbeitsstelle, denn er lief von der Arbeit fort.
Er schrieb einen Brief an Gottlieb Peuker und saß dann wartend Tag um Tag, bis er die Antwort erhielt:
»Lieber Robert!
Deine guten Großeltern sind sanft entschlafen. Sie sind beide an demselben Tage gestorben. Du weißt doch, daß sie jeden Mittwoch in die Stadt zum Markte gingen. Das haben sie auch noch gemacht, als Du fort warst. Sie waren nicht so sehr traurig. Sie sagten, wir haben doch einen Enkelsohn, und die Martha ist nicht schlecht geworden und ist gut gestorben.
Da waren sie guter Dinge. Aber da sind sie wieder einmal in die Stadt, und auf heimzu hat sie ein böses Wetter erwischt. Da haben sie sich beide den Tod geholt. Influenza und Lungenentzündung haben sie gehabt. Dr. Friedlieb, Christel und ich sind bei ihnen gewesen. Und sie haben nebeneinander gelegen, und jedes hat immer aufgepaßt, daß nicht etwa das andre zuerst stirbt. Der Vater ist zuerst gestorben. Da hat die Mutter noch sehr geweint, aber ehe der Tag um war, war sie auch tot. Lieber Robert, gräme Dich nicht, gönne ihnen die Ruhe! Was nun Deine Verwandten väterlicherseits betrifft –«
Von dieser Stelle an las Robert nicht mehr weiter.
Nach drei Tagen, die er dem Gedenken seiner Großeltern geweiht hatte, schrieb er den Anfang von Gottlieb Peukers Brief ab. Den Brief selbst warf er ins Feuer. Auch an Gottlieb Peuker schrieb er nicht mehr.
Zwei Jahre gingen dahin in öder Fron. Am frühen Morgen rief die gellende Fabrikpfeife zur Arbeit. Wie ein willenloser Sklave, wie ein Verurteilter folgte Robert dem aufpeitschenden Zeichen. Er arbeitete weder fleißig noch lässig. Bei seinen Arbeitsgenossen war er unbeliebt. Er sprach wenig, war immer scheu und in sich gekehrt, niemals lustig und hatte an rohen Freuden kein Gefallen. Ein kleines Erbteil war ihm noch zugestellt worden, nachdem das großväterliche Häuschen verkauft worden war. Das Geld brauchte er nach und nach auf. Denn er war oft krank und arbeitsunfähig.
Mit starkem Trotz verschmähte er jede Verbindung mit Teichau. Briefe, die von da kamen, nahm er nicht an. Dr. Friedlieb machte sich endlich auf die Reise, ihn aufzusuchen, aber er war so unklug, sich telegraphisch anzumelden, und fand das Nest leer. Die Wirtin, eine ganz einfache Frau, übergab dem Doktor einen verschlossenen Brief.
»Er hat die ganze Nacht geschrieben«, sagte sie.
Der Doktor setzte sich auf einen der Bretterstühle und las:
»Sehr geehrter Herr Doktor!
Es tut mir leid, daß Sie unnütz den weiten Weg gemacht haben. Ich bin nicht imstande, mit Ihnen zu sprechen, und ich werde deshalb an einen andern Ort ziehen. Ich weiß, daß Sie es gut mit mir gemeint haben und freundlich gewesen sind, ebenso Ihre Frau und ebenso der – Ihr Schwiegervater. Sie haben mir viele und große Almosen gegeben. Aber ein Recht haben Sie mir nicht gegeben. Sie haben sich alle meiner geschämt. Wenn meine Mutter nicht gestorben wäre, hätte sie mir wohl nicht viel geben können, weil sie ein armes Dienstmädchen war, aber sie hätte den Leuten gesagt, daß ich ihr Sohn bin. Sie hätte sich meiner nicht geschämt, obwohl ich für das Mädchen eine viel größere Schande war – als für Ihren Schwiegervater. Meine Großeltern haben sich meiner auch nicht geschämt; sie haben mich als ihren Enkelsohn mit vielen Freuden aufgenommen. Sie haben mir das Recht gegeben, daß ich zu ihnen gehörte, und da habe ich alles von ihnen angenommen als Erbteil. Aber in dem Hause Ihres Schwiegervaters haben sie mich versteckt und verdeckt und mir Almosen gegeben, und die Frau hat gesagt, ich bin ein Erbschleicher. Das halte ich nicht aus, da will ich viel lieber verderben. Es ist mir zwar schlecht gegangen, und ich habe auf den Straßen gebettelt, aber in dem Hause Ihres Schwiegervaters mag ich nicht betteln. Kommen Sie nicht mehr wieder, sehr geehrter Herr Doktor, ich werde auch nicht mehr nach Teichau kommen. Es soll endlich damit alle sein.
Robert Hellmich.«
Diesen Brief las Dr. Friedlieb dreimal. Dann stand er auf und sagte zu der Frau, die neugierig an der Tür stehen geblieben war:
»Sehen Sie, er hat recht! Wo der Mensch ein Recht hat, sind Almosen Betrug. Es gibt Leute, es gibt uneheliche Kinder, die Almosen nehmen, die fidel, die liederlich dabei sind, aber es gibt welche, die an den Almosen erwürgen. Und das sind die Besseren, die Glücklicheren, die Reicheren! Die andern sind noch viel elender! Und so ein Guter ist Robert Hellmich. Einer, der nach dem Recht fragt, nach dem Naturrecht! Ein Mensch ist er – ein Mann!«
Die Frau, die nichts von allem verstand, sagte ein paar alberne Worte. Das verdroß Dr. Friedlieb.
»Kommt denn der Robert Hellmich zu Ihnen zurück?«
»Ich weiß nich! Alles bezahlt hat a – die Miete für 'n ganzen Monat – aber ich denke doch – seine Sachen sind noch hier!«
»Geben Sie mir Schreibzeug!«
Dr. Friedlieb schrieb drei Stunden lang. Er schrieb viele Bogen voll. Aber als er alles endlich durchlas und mit Roberts kurzem Brief verglich, fand er seine Widerlegungssophistik töricht und verbrannte sein Schreibwerk.
Auf einen Zettel schrieb er:
»Lieber Schwager, Du hast recht! Komm zurück, wir werden Dich anerkennen.
Dr. Friedlieb.«
Den Zettel schloß er in ein Kuvert und rief die Frau noch einmal zu sich.
»Herr Hellmich ist mein Schwager«, sagte er. »Ich bin der Dr. Friedlieb aus Teichau. Herrn Hellmichs Schwester ist meine Frau. Wenn er zurückkommt, geben Sie ihm diesen Brief. Dahier sind zwanzig Mark für Ihre Mühe. Und dahier sind noch dreihundert Mark. Wenn etwa mein Schwager noch irgendwelche Verbindlichkeiten hat, die bezahlen Sie – verstanden? Das heißt, Sie tun so, als wenn Sie das für ihn einstweilen auslegten. Als wenn das Ihre Ersparnisse wären! Sie sagen ihm, er kann es Ihnen später wiedergeben. Verstehn Sie das? Er darf nicht wissen, daß das Geld von mir ist. Wenn Sie Ihre Sache gut machen, soll es Ihr Schade nicht sein.«
Die Frau versprach alles, und Dr. Friedlieb ging.
In der Folgezeit hat die Frau den Brief und sämtliches Geld für sich behalten, die Sachen aber, die Robert einforderte, hat sie ihm mit der Post zugeschickt.
In irgendeinem Hospital war es. Robert hatte dort Aufnahme gesucht. Um zu arbeiten, war er zu krank. Durch lange, planlose Wanderung mit tausend Entbehrungen und Schädigungen war es mit seiner Gesundheit rasch abwärts gegangen.
Nun war der Arzt dagewesen und hatte wieder an seiner Brust herumgehorcht. Eine Schwester hatte daneben gestanden.
»Mut, junger Freund, die rechte Lunge ist kerngesund!« Robert antwortete mit dem matten Lächeln, mit dem solche Kranke oft zu antworten pflegen.
Und wie der Doktor mit der Schwester aus dem Zimmer hinausging, hörte Robert mit den feinhörigen Ohren, die die Kranken haben, die nach dem Leben lauschen:
»Immerhin vielleicht noch ein Vierteljahr!«
Die Nacht kam, das Fieber kam.
Robert lag still trotz der fiebrigen Unruhe.
Noch ein Vierteljahr! Dann sterben! – Das war gut! So ganz still liegen ohne Leid und Kummer, ohne Qual und Herzeleid unterm grünen Rasen und hinaufträumen in die blühenden Blumen, die der Lenz auf jeden Hügel pflanzt. Zu Hause sein, an einem festen, stillen Ort!
Aber als die Mitternacht geschlagen hatte, fragte doch das junge Leben nach seinem Recht und entsetzte sich vor der feuchten, kalten Grube, die ohne Luft und Licht ist. Und dem jungen Manne erschien das elendeste Leben besser als der Tod, das elendeste Dasein angefüllt mit Schönheit und Wohlbehagen gegen diese starre, furchtbare Einsamkeit.
Die junge Seele rang in Not und Leid und wollte ihr Haus nicht verlassen.
Das ganze Leben zog in bunten Bildern an ihr vorüber, in Bildern, die viel schöne, leuchtende Farben und lichte Punkte hatten und deren grauer Hintergrund verklärt war vom roten Anhauch der Lebenslust.
Ein Vierteljahr! O Gott, dieses kurze bißchen Zeit des hohen Glückes, leben zu können, nur nicht schmachten, nur nicht verlieren, in diesen düsteren Räumen! Nur nicht vorzeitig tot sein! Hinaus ins Leben! Hinaus in die milde Frühlingsluft, die heilsamer sein würde als des Arztes Medizin. Noch einmal hinein in den schönen Wald!
Ach, wenn er noch einmal wandern könnte mit den Kameraden. Sie kamen ihm jetzt so lieb, so gut, so lustig vor. Und jede stille Wirtshausecke erschien ihm in der Erinnerung heimlich und gemütlich, so recht geschaffen, fröhlich zu sein.
Gegen Morgen fiel er in Schlummer, und als er erwachte, war zwar die Erregung verschwunden, aber Sehnsucht und Wille, das Krankenhaus zu verlassen, waren geblieben.
Gegen den Willen des Arztes verließ er am Nachmittags desselben Tages die Anstalt.
Bei den Kameraden war er ein paar Wochen. Sie bewiesen ihm ihre Treue, saßen ihre freie Zeit bei ihm und verstanden es mit dem klugen Sinn der Gutmütigkeit, ihn oft auf Stunden lang seinen Zustand vergessen zu lassen. Ja, er wurde manchmal fröhlich und aß und trank heiter mit ihnen. Er versagte sich nichts mehr, wonach ihm der Sinn gerichtet war und ging mit seinem Gelde nicht mehr sparsam um.
So schmolz seine Habe. Und so schmolz sein Leben.
Er suchte nach Freude wie einer, der den ganzen heißen Tag gedurstet hat und am kühlen Abend trinken will. Und einmal sagte er zu den Kameraden:
»Ich will die Lore noch einmal sehen! Sie war die einzige, die ich geliebt habe.«
Sie rieten ihm ab, der Weg war weit, sie versprachen sich überhaupt von einem solchen Vorhaben nichts Gutes. Da sprach er:
»Was habe ich zu verlieren? Ich sehne mich nach ihr und will sie noch einmal sehen. Ich werde ihr nichts vorklagen, ich möchte gern, daß ich sie noch einmal lachen hörte. Wißt ihr noch, wie schön sie lachen konnte?«
Und er fuhr nach Lores kleiner Stadt. Unterwegs mußte er einmal Station machen, und er kam an seinem Reiseziel erschöpft an. Drei Tage erholte er sich in einem Gasthaus, kaufte sich noch einen neuen Anzug. Dann schlich er um ihr Haus und bekam heraus, daß sie an sonnigen Nachmittagen mit ihrem Kinde nach der Promenade gehe.
Dort traf er sie. Sie saß auf der Aussichtsbank einer kleinen Anhöhe. Ihr munterer Knabe spielte vor ihr im Sande. Sie erschrak heftig, und er konnte nicht sprechen in seiner großen Erregung, als zu ihr trat.
So saßen sie eine Minute lang nebeneinander auf der Bank und hielten sich wortlos an den Händen.
Ihre erste Frage war, ob er krank sei.
Er lächelte.
»Ich war krank! Ich war in einem Krankenhause. Aber du siehst, daß ich wieder heraus bin.«
Die ganze Zeit der Unterredung gab er sich Mühe, nicht einmal zu husten. Und die große Erregung, in der er sich befand, färbte sein Gesicht rot und ließ ihn nicht so krank erscheinen als er war.
»Es ist schön hier,« sagte er, »die Sonne scheint warm und man hat eine schöne Aussicht.«
»Wie kommst du hierher?« fragte sie.
»Ich wollte dich noch einmal sehen. Ich werde wahrscheinlich bald weit fortreisen. Da wollt' ich dich noch einmal sehen, Lore!«
»Warum kommst du nicht in die Wohnung?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, nein! Es ist schon gut hier! Es genügt schon!«
Sie begann von seinem Schicksal zu reden. Sie hatte volle Aufklärung durch Christel erhalten.
»Sie grämen sich alle sehr um dich«, sagte sie. »Und ich will dich auch nicht erschrecken, aber du weißt vielleicht noch nicht, daß dein Vater – daß mein Onkel Hartmann tot ist.«
Er hob den Kopf und sah ins Weite.
»So – so! – Er ist tot! – – So – so!« sagte er versonnen.
Sie fröstelte dieser Gleichmütigkeit gegenüber.
»Ja, Lore, siehst du, wir müssen alle sterben. Manchmal denkt man, man muß leben. Aber das ist dumm! Wenn ich doch geschlagen werden muß, ist's egal, ob heute oder morgen oder übermorgen. Denn es dauert doch wohl bloß ein paar Tage, dann kommt's.«
»Robert, du bist so verbittert. Und es ist dir ja viel Unrecht geschehen. Am allermeisten hab' ich dir Unrecht getan.«
»Du? – Nein, Lore, das mußt du nicht sagen – das stimmt nicht! Du hast mir nicht Unrecht getan. Nein, nein, siehst du, das mit dir, das hat mit meiner eigentlichen Geschichte nichts zu tun. Das war halt so, wie's in jungen Jahren kommt. Aber wenn du auch gar nicht dagewesen wärst, da wär's mir am Ende ebenso gegangen. Ich hab' viel darüber nachgedacht. So ähnlich wie mir geht's allen solchen Abkömmlingen. Das is mal so Mode in diesem Leben.«
Ein Schauer rann über ihren Leib, und sie sah auf das spielende Kind, das lachend im Grase saß.
Dann begann sie wieder leise auf ihn einzureden. Er solle nicht unversöhnlich sein. Sie verteidigte die Christel und Gottlieb Peuker und pries Dr. Friedlieb.
»Ich weiß, Lore, es sind gute Leute! Ich hab' mir's jetzt oft überlegt, daß sie nicht gut anders konnten, daß sie mir nicht die Wahrheit sagen konnten. Die Wahrheit ist zu schwer für uns. Wir lügen oft, weil wir's gut meinen.«
Sie sahen eine Weile vor sich hin. Da kam ihm ein Hustenreiz und er dachte ans Gehen. Sie sollte ihn nicht husten hören. Er kämpfte schwer gegen sich, dann sagte er: »Aber eins sollst du mir wahr und wahrhaftig sagen, Lore. Du kannst es mir sagen, denn du siehst mich nicht mehr wieder und ich plaudere nichts aus. Du sollst mir sagen, ob du glücklich bist.«
Da stand sie auf von der Bank und trat vor ihn.
»Ich will dir's sagen, Robert! Ich will dir's ganz ehrlich und wahr sagen. Was die Menschen glücklich nennen, das bin ich nicht. Ich bin glücklich, daß ich das Kind habe. Mein Mann ist nicht besser und nicht schlechter, als die meisten Männer sind. Als ich ihn geheiratet hab', hab' ich ihn nicht geliebt, trotz – trotz –. Ich war leichtsinnig und er war keck. Das gefiel mir. Geliebt hab' ich dich.«
Da starrte er mit den Augen, hob die Hände, wollte vor ihr auf die Knie fallen.
»Nicht so, Robert! Das ist vorbei. Ich soll dir die Wahrheit sagen, und du mußt die Wahrheit vertragen.«
Er setzte sich langsam und gehorsam wieder auf die Bank. Aber das Leuchten blieb in seinen Augen.
»Du hast mich geliebt. – Und doch hast du mich nicht gewollt. O, ich weiß, ich weiß! Ich war so scheu, so albern, so furchtsam, so – so verprügelt, so ganz unmännlich und feig, wie eben so ein Überzähliger ist, und davor scheut sich das Weib.«
Sie sprach beruhigende Worte zu ihm voll klarer Weiblichkeit.
Und er wurde ruhiger und sah mit leuchtenden Augen weit hinaus in die dämmernde Ferne.
»Glaubst du, Lore, daß sich die Menschen in einer andern Welt wiedersehen? Glaubst du das?«
»Ja, ich glaube es.«
»Ich glaube es auch. Und sie werden sich dann nicht mehr stoßen und schlagen.«
Sie sah, wie weich sein Herz und seine Seele war, und sprach noch einmal versöhnende Worte zu ihm. Sie wagte es sogar, von Frau Hartmann zu reden. Vieles müsse er ihrer Art, ihrer harten Erziehung zugute halten. Ihr habe wohl selbst niemals im Leben jemand warme Liebe erzeigt, und so sei sie hart geworden.
»Es ist schön, wenn einen jemand lieb hat«, sagte er. Da nahm sie ihm das Versprechen ab, noch einmal nach Teichau zu reisen, wenn auch auf kurze Zeit, und sich auszusöhnen.
Er versprach alles mit lächelndem Munde.
Selbst beim Abschied, der ganz kurz war und bei dem er ihr einfach die Hände drückte und ihrem Knaben einmal über die Locken streichelte, lächelte er.
»Auf Wiedersehen, Robert!« sagte sie mit Tränen im Auge. »Ja, ja, auf Wiedersehen, Lore!« sagte er ganz ruhig. Dann stieg er langsam den Hügel hinab.
Noch am selben Abend suchte Robert ein Krankenhaus auf. Es war in einer Stadt, die nur vier Stationen von Lores Wohnort entfernt lag. Dort lag er fünf Wochen lang an den Folgen eines Blutsturzes. Lore hat er keine Nachricht gegeben. Aber die ganze Zeit hat er still und ohne Gram gelegen, auch ohne Angst.
Nach fünf Wochen hat er gegen den heftigen Widerspruch der Ärzte die Anstalt verlassen und ist gen Teichau gefahren. Er kam in später Abendstunde auf der Bahnstation an und machte sich trotz höchster Erschöpfung auf den Weg.
Bis zum »Wächter« kam er in des Dorfes Nähe.