Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Neuntes Kapitel

Es war Sonntag. Droben der Wächter stand im Sonnenschein. Er hatte nicht zu wachen. Friedlich lag rings die Welt in Sabbatsruhe.

Vier Musikanten stiegen zu ihm herauf, jeder mit seinem Instrument. Als sie auf der Höhe waren, blieb Steiner stehen und kommandierte Halt.

»Kinder,« sagte er, »mir is zumute wie einem abgesetzten Feldmarschall, der plötzlich wieder eingesetzt worden is. Oder wie einem bankerott gewordenen Kaufmann, der das große Los gewinnt. Oder wie einem alten Sofa, das 'n neuen Überzug gekriegt hat!«

Er strich mit der Hand zärtlich über seine Tuba.

»Wer hätte das gedacht! Vor a paar Tagen, da war mir hier beim Rübenaufladen noch so miserabel zumute, und jetzt bin ich raus aus der ganzen Schinderei und geh Musik machen. Und wißt ihr, was der Doktor gesagt hat, wie a mich amal hat so schuften gesehn? ›Steiner‹, hat a gesagt, ›Sie sind gewissermaßen 'n Pegasus im Joche.‹'« »Ja, aber seit du so schuftest, wirst du fett«, sagte der Bäcker neidisch.

»E vero, è vero«, schrie der Italiener. »A dutt sich ganz dicke arbeiden.«

Steiner schüttelte melancholisch den Kopf.

»Das versteht ihr nich! Wenn ich dicker werde, gewissermaßen 'n Bauch krieg', so is das nischt wie versetzte Kunst. Die setzt sich fest wie 'ne Geschwulst. Und mit'm Herzen hab' ich's, das könnt ihr mir glauben. Setz'n wir uns ein bissel, es is noch zeitig.«

Sie setzten sich unter den Baum.

»Kinder,« begann Steiner aufs neue in lehrhaftem Tone, »in meiner Schlafkammer hängt ein Bild vom Großen Kurfürsten. Das hat mir der Doktor geschenkt.«

Die anderen drei sagten, der Doktor hätte ihnen ebenfalls ein solches Bild geschenkt.

»Es is sein Nationalheld«, sagte Steiner wichtig. »Und da hat a ja recht. Denn der Große Kurfürst ist ja 'n sehr tüchtiger Kaiser gewest. A hat Ordnung gemacht in seinem Lande, hat selbst zugegriffen, und vorher war da alles verliedert und verlumpt. Da soll man sich nu 'n Beispiel dran nehmen.«

»Ich finde solche Beispiele anzüglich«, sagte der Bäcker. »Denn wir waren gar nicht verliedert und verlumpt. Und ich wünschte, ich hätt' den Großen Kurfürst gar nich erst kennen gelernt, denn ich bin durch ihn bloß in Schulden gekommen.«

»Jo anche,« meinte Pohl, »bei mein' Padrone sitz ich schon mit vierzig Mark fünfundsiebzig in der Glemme. Wie ich 'm hab' 'ne Packfeife gehau'n, hat a mir das Geld gegindigt. Aber damit hat a kee Klick gehabt. Und da dun wir uns halt wieder verdragen. Es is a ulkscher Gerl, mei Padrone.«

»Na, kommt Zeit, kommt Rat«, sagte Steiner. »Mit Zeit meine ich 's Frühjahr. Jetzt sind wir ja nu vorläufig wieder amal Gott sei Dank auf einen Tag Musikanten.« Er nahm seine Tuba und begann ganz allein zu blasen. Es war eine gewaltig schmetternde Weise von rührender Einfachheit. Die Baßbegleitung zu einem Walzer. Ein heimliches Zittern lief über den »Wächter«. Es war, als ob ein alter, würdevoller Portier verstohlen über einen schnurrigen Gast kicherte. Ein paar Häslein, die in einer Ackerfurche geschlafen hatten, wurden munter und ergriffen die Flucht, drei Krähen flogen kreischend dem Walde zu, und nur ein Trupp von Sperlingen kam heran. Die setzten sich in eine Reihe, hielten die Köpfe schief und verwunderten sich.

Steiner blies immerzu weiter. Da nahm auch der Bäcker sein Instrument und fing an mitzublasen, der Italiener ergriff seine Trompete und endlich setzte Robert Winter diesem musikalischen Torso den Kopf auf und blies auf seinem Waldhorn die Melodie: »Ob ich dich liebe, frage die Sterne.«

Unten am Fuße des Hügels, jenseits des Teiches, am Giebel des Kretschams wurde ein Fenster geöffnet, und es winkte jemand lustig mit einem roten Tuche.

Die Lore!

Nach ihr schaute Robert Winter.

Auf dem Kirchturm aber, auf den um diese Zeit die Küstermagd gestiegen war, um zum Nachmittagsgottesdienst zu läuten, wurde aus der obersten Luke eine schwarz und weiß gestreifte Schürze geschwenkt.

Nach dem Kirchturm schaute der Bäcker.

Jenseits des Tales, auf einem gegenüberliegenden Hügel trat eine stattliche Witwe vor ihr Haus in den Garten. Die winkte nicht, aber ihre Gestalt hob sich schwarz vom leuchtenden Himmel ab wie eine beträchtliche Wolke.

Nach dieser Wolke schaute Steiner, und er suchte seinem Baß immer innigere und tiefere Herzensklänge abzugewinnen. Pohl, der Italiener, allein machte ein verdrossenes Gesicht und hörte bald auf zu blasen.

»Oh misero me! 's hat keen Zweck! Meine Liebste, die Maria Puchara, wohnt in der Stadt.«

Sie bliesen noch ein zweites und drittes Stück, lauter Liebeslieder. Die Fahne vom Kirchturm wehte immer weiter, und keine Glocke rührte sich, die Wolke rückte langsam ein Stückchen nach Ost und blieb da in noch größerer Deutlichkeit halten, viele Leute liefen im Dorfe zusammen, nur die Lore am Giebelfenster war verschwunden.

Da rückten endlich die Musikanten ab und bliesen im Marschieren: »Muß i denn zum Städtele hinaus, und du mein Schatz bleibst hier.«

Sie waren alle froh, sie marschierten leicht und glücklich in den Herbsttag hinaus, und der Goldglanz ihrer Instrumente gleißte vor ihren Augen. Die Hände, die an rauhe Arbeit gekommen waren, spielten wieder mit kleinen, leichten Ventilen, und in ihren Herzen war lauter Klang.

* * *

Im Pohlsdorfer Kretscham war der Tanz in vollem Gange. Sonst ist leider im schleichen Landvolk die Klassenabsonderung jetzt schon so groß, daß alle Besitzenden und ihre Söhne und Töchter in dem feineren »Kränzel«, die Dienstleute aber nur bei der »gewöhnlichen Musik« tanzen dürfen. Zur Kirmes wird noch hier und da eine Ausnahme gemacht, da tanzt alles durcheinander.

Von Volkstrachten war auch in diesem Pohlsdorfer Kretscham nicht viel mehr zu sehen. Die Stadt hat ihre Maschinen aufs Dorf geschickt, ihre Zeitungen, ihre Trachten, ihre Sitten.

»O misericordia«, seufzte Pohl während einer Tanzpause, als er eine dicke Magd auftauchen sah, die ihre Figur in ein Korsett gepreßt hatte, einen entsetzlich geschmacklosen Hut auf dem puterroten Kopfe trug und eine schreiend blaue Taille mit »modernen« Ärmeln anhatte. »Misericordia, es is eene kreiliche ragazza. Brutta! Brutta!«

Und er erklärte Schulze, dem Bäcker, daß sich italienische Frauen und Mädchen des Volkes niemals kleiden wie eine Signora, weil sie fühlten, daß dazu eine ganz stilechte Robe und das Auftreten einer Signora gehöre, und daß niemals ein italienischer Mann aus dem Volke einen Zylinderhut trage.

»Die Maria Pachura is 'n Volksgindel! 'n Bohlenmädchen. Die hat 'n seidnes Gopstichel, das steht ihr nämlich krandios.«

»Ja«, sagte Steiner und wies auf die Volksmenge. »Das sind Insulaner des Lebens, die behängen sich gern mit unechtem Schmuck.«

Ob dieses Ausspruches ließ er sich anstaunen. Daß er ihn von Dr. Friedlieb aufgeschnappt hatte, verriet er nicht.

Und es kam Stück um Stück. Die Stimmung wurde immer lustiger, die Späße derber, der Bier- und Schnapskonsum größer. Auf den ungedeckten Holztischen, die an der Wand entlang standen, waren Bierlachen, lagen durchtränkte Filzdeckel, schwammen abgebrannte Streichhölzer und Zigarrenstummel. Die Mädchen glühten von der Anstrengung des Tanzes und der ungewohnten Einschnürung der Leiber, die Burschen lachten überlaut über jeden Scherz, klimperten mit Silbergeld in den Westentaschen und hänselten einander. Plötzlich riß Pohl die Augen weit auf und starrte nach der Tür.

»Mei Padrone!« sagte er zu Steiner und machte drei Takte Pause. »Welcher?« fragte dieser und ließ den Baß schweigen. »Der in den verrückten garrierten Anzuge«, sagte Pohl. »Und der andere, der mit ihm gommt, is 'n Bostassistent aus der Stadt.« »Mensch, blas' doch!« mahnte Steiner, blies aber selbst nicht. Nun mischte sich auch der Bäcker ruckweise ins Gespräch, und die Musik wurde immer lückenhafter. Nur Robert Winter blies deutlich und im Takte die Melodie.

Plötzlich brach auch er ab. Er starrte nach dem Eingang. Die Lore!

Jetzt um zehn Uhr! Aus dem Nachbardorf«! Die Lore! Unten entstand ein Tumult.

»Blasen!« schrien die Burschen. »Blasen! Ihr schlaft wohl ein?«

»Ja, blasen!« brüllte Steiner und schmetterte ein paar total verunglückte Töne in den Saal. Langsam und knarrend wie ein stehengebliebener Wagen setzte sich die Musik wieder in Bewegung.

Auch Robert Winter blies wieder. Aber eine Röte brannte auf seinen Wangen. Er verwandte keinen Blick von Lore. Sie sah zu ihm auf, lachte ein wenig und nickte mit leichtem Gruß. Und bald darauf kam der, den Pohl als den Postassistenten bezeichnet hatte, auf sie zu und tanzte mit ihr durch den Saal.

Wie sie lachte und wie der lange Städter verliebt auf sie einredete! Eine lustige, übermütige Weise erklang aus dem Waldhorn, aber das Herz des Musikanten pochte einen schweren Takt dazu. In einer Tanzpause verließ Robert Winter den Saal und trat auf die Straße. Er hoffte, die Lore werde ihm nachkommen. Und er täuschte sich nicht. Das Mädchen huschte bald heran und faßte ihn am Arme.

»Gelt, Sie werden mich nicht verraten, Robert?«

»Was soll ich nicht verraten?«

»Nu, daß ich hier tanzen bin. Onkel und Tante Hartmann wissen nichts davon. Auch die Christel nicht. Ich hab' gesagt, ich hätte Kopfschmerzen und bin um neun in meine Kammer gegangen. Da hab' ich mich natürlich rasch umgezogen, und da bin ich eben jetzt hier.«

»Aber Lore – Fräulein Lore – das – das paßt sich ganz und gar nicht!«

Er sagte es mit gepreßter Stimme.

Sie machte ein spöttisches Gesicht.

»Ach, Sie sind wohl auch so einer? So ein Mucker? Ich bin jung und ich will mich amüsieren! Ich mag nicht das ganze Jahr eingesperrt sein. Und wenn Sie klatschen wollen – so klatschen Sie!«

Sie wollte ihm zornig den Rücken kehren, aber er hielt sie am Arme fest.

»Aber. Fräulein Lore – ich denk' ja gar nich dran, was zu klatschen. Es geht mich ja eigentlich gar nichts an. Aber sehn Sie mal, jetzt in der Nacht auf 'n fremdes Dorf gehen – auf den finsteren Wegen, da kann Ihn'n doch 'n Unglück passieren.«

»Es ist bloß eine knappe halbe Stunde zu gehen«, entgegnete sie. »Dann ist auch die Fischer Selma mitgegangen, und dann – dann haben wir übrigens auf dem Wege zufällig zwei bekannte Herren aus der Stadt getroffen.« »Ja, den englischen Kaufmann und den – den Postassistenten«, sagte er mit gepreßter Stimme.

»Ach, die kennen Sie schon?«

»Ich hörte es so nebenher.«

Er seufzte und stand vor ihr und wußte nichts mehr zu sagen. Sie schwieg auch und betrachtete ihn. Plötzlich begann sie zu lachen.

»Sie sind schrecklich komisch, Winter! Als wenn Sie eifersüchtig wären!«

Sie lachte ganz herzlich, und er wurde blutrot und fing heftig an zu schlucken. Dann, als das Mädchen immer leise weiterlachte, faßte er es krampfhaft an beiden Schultern und hielt es fest wie mit eisernen Klammern.

»Das tut weh, Winter! Das tut weh!«

»Lore – ich weiß nicht, was ich sage – was ich tu' – ich bin ganz verwirrt – ganz verrückt – es is schrecklich, Lore, ich lieb' dich, lieb' dich, lieb' dich!«

Und er preßte sie mit eiserner Gewalt in seine Arme und küßte sie mit der ganzen Glut und Wut entfesselter Leidenschaft. Sie ließ es geschehen und floh nicht davon, als die Umklammerung lockerer wurde und seine Arme sich nur noch leicht und zärtlich um sie schlossen.

»Lore, ich bin ein armer Kerl – aber arbeiten will ich, arbeiten Tag und Nacht – mir nichts gönnen, mich kaum satt essen – alles dir geben – alles dir – ich habe dich lieb immer und ewig!« Sie machte sich plötzlich frei.

»Wenn das die Christel gesehen hätte!« sagte sie.

Er zuckte die Achseln und lachte verlegen.

»Die Christel! Was mach' ich mir aus Fräulein Christel?«

»Tun Sie nich so, Winter! Sie is Ihn'n doch sehr gut. Das sieht man doch. Ich muß immer lachen, wenn ich denke, was die Tante sagen wird, wenn sie hört, daß die Christel Sie heiraten will.«

»Heiraten mich – die Christel? Aber ich denk' ja nich dran. Ich will ja – will ja doch Sie heiraten –« Da lachte sie wieder.

»Sie sind schnurrig, Robert! Ich bin zum Heiraten noch viel zu jung. Und jetzt muß ich wieder in den Saal. Und Sie werden mich zu Hause nich verraten. Um zwölf geh ich sowieso schon wieder heim. Es lohnt kaum der Rede.« Er suchte noch einmal ihren Arm zu haschen, aber sie entschlüpfte ihm und verschwand im Hause. Da stand der Musikant einsam in der Herbstnacht. Kalt strich der Wind um seine heiße Stirn, strich mit seinen kühlen Händen über die klopfenden, gefüllten Adern, darin das unruhige Blut jagte immer vom Herzen zum Kopfe, immer vom Kopfe zum Herzen. Und es schwammen heiße Gefühle stromauf, kluge Gedanken stromab, aber die klugen Gedanken ertranken bald, und der ganze rote Strom war voll Leidenschaft.

Die Arme schlossen sich über der Brust, noch einmal war dem jungen Manne, als hielte er die süße Mädchengestalt umfangen, und der Gedanke, daß er sie geküßt, daß sie ihm nicht gewehrt habe, war wie ein Glückstaumel in ihm, und – er baute auf Weiberlieb' und Weibertreu' das Haus seiner Zukunft, das schnell wie von Zauberhand errichtet vor ihm stand und ihm mit grünen, freundlichen Giebeln und hellglänzenden Fenstern lockend entgegenlachte.

Da wurde er gestört. Ein Stückchen die Dorfstraße hinab hörte er zwei Männer zanken und ein Mädchen weinen. Das alte Lied von neuer Liebe und altem Rechte. Rasch wandte er sich und ging nach dem Tanzsaal zurück. –

So blies er wieder seine Tanzweisen. In ihm war Seligkeit, Qual und schwere Unruhe. Seine Augen hingen immer nur an der einen. Wenn nun der Städter kam – und er kam in jedem Stück und tanzte lange mit ihr – dann mußte Robert Winter alle Kraft zusammennehmen, daß er nicht sein Instrument fortschleuderte und hinabschrie: »Las sie los – gib sie frei – sie ist mein – sie ist ganz allein mein!«

Ach, er durfte es nicht tun, er mußte die Musik machen zu dem Tanz der anderen. Sein Gesicht war bleich, seine Augen glänzten im Fieber der Eifersucht. Weil der reicher war als er! Weil der ein paar Taler ausgeben konnte und er selbst sich fünf Mark verdienen mußte, deshalb durfte der mit ihr tanzen, durfte den Arm um sie schlingen, und er mußte die Musik dazu machen. Von draußen durch die Fenster des zur ebenen Erde gelegenen Tanzsaales schauten Leute herein, alte Leute, arme Leute, einige Kinder, ein Stelzfuß und – alle unehelichen Väter und Mütter des letzten Jahres. Nach einem Jahre durften diese jungen Ausgesperrten wieder mittanzen. Jetzt hatten sie erst eine Art Buß- und Trauerjahr durchzumachen. Nun standen sie draußen in der Herbstnacht und schauten mit sehnsüchtigen Augen auf die wirbelnde Lust. Zuweilen, wenn im Saal das Fensterglas anlief, kam eine mitleidige Seele und wischte mit einem Taschentuche die Scheiben blank. Die Lore tat das zweimal. Wie die im Saal alle fröhlich waren! Sogar die zwei taubstummen Mädchen lachten und tanzten immerfort. Da regten sich draußen in den Sünderherzen Reue und Neid, und die Mädchen suchten die Hand des Liebsten und fragten mit leisem Druck: »Wirst du mich heiraten? Wirst du mich wieder ehrlich machen? Werde ich wieder tanzen dürfen?« Robert Winter, der die Dorfsitten kannte, sah oft nach den Ausgesperrten hin, deren Gesichter hinter den Scheiben matt sichtbar waren.

Und einmal, als gerade die Lore vorbeitanzte und auflachte, durchfuhr ihn böse Furcht. Ein Gesicht narrte ihn.

Das tanzende Mädchen verschwand, und er sah draußen im Garten mitten unter den Ausgeschlossenen die Lore stehen, sah ihr vergrämtes Gesicht durch das Fensterglas spähen, sah ihre süßen Augen weit wie Todesaugen starren. Er hielt das nicht aus. Er suchte mit flatternden Blicken die Tanzende, und da er sie lachend und gesund fand, grämte es ihn nicht einmal, daß der Städter wieder den Arm um sie geschlungen hatte. Aber die Sorge ließ ihn doch nicht los. In einer Tanzpause suchte er noch einmal ihrer habhaft zu werden. Er traf sie im Saal. »Wenn Sie nach Hause gehen, Lore, da geht doch die Fischer Selma wieder mit Ihnen?« fragte er bang. »Ja doch –!« sagte sie ungeduldig. Sie sah ihn an, als ob er sie belästigt habe. »Natürlich geht sie mit!« Als er wieder auf der Musikantenbühne stand, machte er sich Vorwürfe. Das war grob und frech von ihm gewesen. Er hatte kein Recht, sie zu schulmeistern, und es hatte in seiner Frage etwas wie Verdacht oder doch Sorge gelegen. Das war kränkend für sie. Was traute er ihr denn zu? Mit welchem Recht? Er schalt sich schwer, und wie er so mit sich selbst zürnte und sich sagte, ein Mädchen wie Lore, das sich habe von ihm küssen lassen, könne er doch ruhig tanzen und wandern lassen, ward ihm wohler, und die wehe Spannung ließ nach.

Dennoch gab er genau acht, als Lore sich gegen zwölf Uhr durch ein Kopfnicken von ihm verabschiedete. Die Fischer Selma ging mit, aber gleichzeitig verschwand der Postassistent, während sein Begleiter, der englische Kaufmann, dablieb und unter dem Gesange: »I'm a jolly good fellow – hipp, hipp, hurra!« unter stürmischer Heiterkeit des Publikums einen Besentanz ausführte. Pohl, der Italiener, wollte sich totlachen über seinen »Padrone«, obwohl er wußte, daß dieser den Seltsamen und den Spaßmacher nur spielte, um sich populär zu machen, daß er sein eigener Reklamenarr war. Steiner, der sich etwas betrunken hatte, begann zu dem Besentanze auf seiner Tuba abscheuliche Töne zu grunzen. Der ganze Saal war in der Stimmung ausgelassener Heiterkeit Nur Robert Winter nahm an alledem keinen Anteil. Er stierte die große Wanduhr an, die ihm gegenüber war, und nachdem die Lore erst fünf Minuten fort war, raunte er Steiner zu:

»Haltet die Leute auf! Lasset sie Possen treiben! Macht eine längere Pause! Ich komme bald wieder.« Und war draußen und stürmte ohne Hut die Dorfstraße hinab.

Rannte in jagender Angst, hatte denselben bohrenden Schmerz in sich wie damals, als der Unteroffizier seine Mutter geschmäht hatte. Eine Wegkreuzung kam. Ein alter Wegweiser stand da. Da hinüber ging's nach Teichau. Der Mond schimmerte schwach durchs Gewölk, die Straße ließ sich matt erkennen.

Robert Winter rannte den Weg hinaus ins freie Feld. Feiner Regen sprühte ihm auf die Stirn und vermischte sich mit den Schweißtropfen, die ihm unaufhaltsam über den Kopf rannen.

Da im unsicheren Mondlicht gingen zwei Menschen. Ein Mann und eine Frau. Er hatte sie um den Hals, er küßte sie. Lore!

Da reichten die Kräfte des Musikanten nicht weiter. Lähmende, schwere Müdigkeit sank in seine Glieder, ein paar Schritte taumelte er nach vorn, wollte rufen, sich auf diesen Mann stürzen, aber er fühlte, wie seine Kraft dahin war, und kehrte langsam um. Mit müden Schritten ging er nach dem Dorfe zurück. Mochte sie gehen. Mochte sie den Weg wandern, der zu Schande und Elend führt! Er lief ihr nicht nach. Er wollte sie nicht warnen. Sie war es nicht wert. Erst ihn, dann jenen! Wer weiß, wen sonst noch! Alles an einem Abend!

Fünf Mark verdiente er heute. Die wollte er ihr schenken. Wollte die Küsse bezahlen. Denn Dirnen müssen bezahlt werden, und er wollte den Schandlohn nicht schuldig bleiben.

Fünf Mark waren genug.

Und übers Jahr würde sie in der Schande sein, war ihr falsches Jungfernkränzlein zerpflückt, zeigten die Leute mit Fingern auf sie. Dann mußte sie wohl fort aus ihres Onkels Hause, wurde ausgestoßen.

Das war ihr recht. Er haßte sie. Wer so schön und lieb war, durfte nicht so schlecht sein. Langsam ging Robert Winter weiter die trübe, nächtliche Straße. Er kam wieder ins Dorf an den alten Wegzeiger. Dort war ein Meilenstein, auf den setzte er sich. Durch die Stille der Nacht gingen Strahlen einer fernen, hohen Gnade, heimlicher als versteckter Sternenschein. Und sie drangen in eine einsame Seele und wandelten Zorn und Haß in Trauer.

O, daß dieser Glanz unterging, daß dieser Kranz verwelkte, daß diese roten Wangen erbleichen und sich dieses Lachen in ein Stammeln der Angst wandeln sollte! An solch einem Kreuzweg würde sie eines Tages auf schwankenden Füßen in Frost und Not stehen und nicht wissen, wohin. Sie und – das Kind! Da richtete sich der einsame Mann auf. Das Kind!

Zwei junge Augen schauen ihn an, zwei kleine zitternde Hände sieht er tasten durch graue Luft, auf dem Wege vor sich sieht er ein junges, sterbendes Weib, hört er ein klägliches Kindeswimmern. »Mutter!«

Und noch einmal zitternd ... gebrochen ... »Mutter!«

Und dann rast er wieder hinaus ins Feld, den Weg hinüber nach Teichau zu.

Es darf nicht sein. Er muß sie retten. Muß! Darf sowas nicht sagen, nicht denken! Es ist ja eine so schwere Schuld, zuerst über ein Weib das Wort Dirne zu rufen. Er muß sie finden, nach Hause bringen! Leer das Feld. Leer der Weg. Der Kretscham liegt in tiefer Ruh. Da hebt Robert Winter die rechte Hand und schlägt ein Kreuz gegen das Haus. Dann kehrt er um. Wenn er den Kameraden sagt, er sei krank gewesen, so ist das keine Lüge.


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