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Am andern Morgen ging die Frau mit Lore ins Gericht. Das Mädchen lehnte an der Wand und ließ alle Schmach über sich ergehen, die jene auf sie häufte. Sie entgegnete nichts, als manchmal ein halbes »Ja« oder »Nein«. Hatte keine Verteidigung, nicht einmal eine Bitte um Erbarmen.
Es wurde ihr nichts erspart. Alle Vorwürfe, die sie sich selbst gemacht in einsamen Stunden, erfuhr sie noch einmal aus fremdem Munde; alle Schmach und Verdemütigung, die sie selbst gefühlt in schlummerlosen, angstvollen Nächten, bekam sie noch einmal dargereicht in übervollem Kelch.
Zuletzt das Urteil: Fort aus dem Hause für immer! Bald fort aus diesem ehrsamen Hause, das sie befleckte.
So wollte es diese Richterin ohne Sünde und Liebe.
»Auf uns sollen die Leute nicht mit Fingern zeigen, wir haben ein christliches Haus!«
Hart und falsch klang es, aber die, die's anging, wußte, es war ein Urteil ohne Widerruf«
Da brachen endlich die leidenschaftlichen Tränen wieder durch:
»Wo soll ich denn hin? Wo soll ich denn hin?«
Da sprang die Tür von der Gaststube auf. Berthold stürzte herein, warf sich dem Mädchen zu Füßen und weinte lauter und heftiger als sie.
»Sei gut, liebe Lore, sei gut!«
»Du gehst von ihr weg, Berthold, du rührst sie nicht an!«
»Lore! Lore! Ich bin dir so gut!«
Er klammerte sich an sie; die Frau riß an seinen Schultern, ihn wegzubringen.
»Laß das Frauenzimmer, Berthold!«
Da stand der starke Bursche auf und schob mit einem Arm die Mutter zur Seite. Sein Gesicht war verändert, seine gutmütigen Augen funkelten in bösem Licht.
»Du sollst sie nicht schimpfen, Mutter, du sollst ihr nichts tun. Es ist die gute, schöne Lore! Es ist mir alles egal! Ich will sie heiraten.«
Bleich stand die Frau vor ihrem Sohn.
»Du bist verrückt, Berthold?« gellte sie auf.
Sie ging wieder auf ihn zu. Er aber erhob die Hand gegen sie:
»Laß sie – tu ihr nichts – oder – oder –«
Mit einem Röcheln brach er in sich zusammen. Die Aufregung brachte ihm einen schweren Krampfanfall.
»Sie bringt ihn noch um, sie bringt ihn noch um –«
Leute eilten herbei, und Berthold wurde in sein Bett getragen.
Da saß nun die Richterin zitternd, und alle Angst, die ihr Opfer gefühlt, war über sie gekommen.
Die eine wies sie hinaus aus dem Hause, der andre, der einzige, den sie liebte, ging nun wohl selber.
Die Angst drückte mit ihrer rauhen Faust auf ihr Herz und machte es auf ein paar Minuten weicher.
Bis Dr. Friedlieb kam und dem Kranken Linderung brachte, auch erklärte, es sei eine augenblickliche Gefahr nicht vorhanden.
Da wurde das Herz der Frau wieder kalt.
Grübelnd saß sie am Bette Bertholds, der schlief. Ihm, dem Kinde, würde sie schon helfen, würde ihm den törichten Wunsch ausreden. Es war ja so dumm von dem Jungen. Es war ja sicher bloß die Angst, es könne dem Mädchen etwas passieren. Das würde sie schon machen, sie hatte ja etwas viel Schwereres fertig gebracht mit Bertholds Vater – –.
O, sie dachte nicht gern daran. Sie wollte lieber ein Mittel finden, das Mädel unterzubringen. Und am Nachmittag fiel ihr ein Ausweg ein.
Sie suchte Robert Winter auf.
»Wer hat meinen armen Berthold auf so verrückte Gedanken gebracht?« herrschte sie ihn an.
»Ich weiß es nicht,« sagte Robert, »ich bin ja mit Ihrem Sohn kaum ein paar Wochen zusammen.«
»Es ist immer so viel Heimlichtuerei hinter meinem Rücken, da kommen dann solche Geschichten.«
»Niemand, Frau Hartmann, fällt das schwerer als mir.«
Sie sah den Burschen an, der mit blassem Gesicht, in ganz müder Haltung vor ihr stand.
»Sie sind ja auch in sie vernarrt gewesen.«
Er schwieg. Dieser Frau gestand er seine Liebe nicht ein. »Ich hab's doch auch gestern abend gesehen, als Sie das Mädel brachten. Nun, so heiraten Sie sie doch!«
Er zuckte zusammen. Und er konnte nur das eine Wort sagen: »Nein!«
»Ah – der Frau gegenüber, die nichts tut, als ihr Haus reinhalten, da spielt man sich auf – aber selbst – oh, da ist man viel zu schade – ihr seid ja alle bloß Maulhelden!«
»Frau Hartmann, ich – ich heirate Fräulein Lore nicht – weil sie mir nicht gehört.«
»Und Berthold?«
»Ihm gehört sie auch nicht. Er darf sie auch nicht heiraten.«
»Nun, da hab' ich doch recht, da gehört sie doch eben auf die Gasse! Wenn schon einer wie Sie, der nichts hat und nichts ist, sich scheut – da wird doch nicht mein Sohn –« Er ballte die Fäuste, ein haßerfüllter Fluch drängte sich auf seine Lippen. Da trat Christel ein.
»Robert, Sie sollen bald zum Vater kommen.«
Er ging mit ihr. Draußen im Hausflur begann er ob der schmachvollen Behandlung, die ihm zuteil geworden war, zu schluchzen. Aber er verschwieg Christel den Grund. Sie war die Tochter.
Nun trat er in Hartmanns kleine Stube. Es war schon die Dämmerung hereingebrochen. Hartmann saß am Fenster. Er winkte Robert und sagte mit matter Stimme: »Setz dich ganz nahe zu mir!«
Da kam es wie Ruh' und Frieden in Roberts verbittertes Herz.
Hartmann legte die Hand auf Roberts Schulter.
»Siehst du, Robert – jetzt hat uns alle ein Unglück getroffen. Am meisten dich. Weine, Robert, schäm' dich nicht vor mir, wein' dich aus! Ich weiß, was du verloren hast. Wir hatten ja darüber gesprochen damals, als wir die Rüben fortfuhren. Ich hätte es gern gut eingerichtet mit euch beiden. Nu hat das junge Ding alles verdorben. Aber gelt, Robert, wir wollen nicht böse auf sie sein. Sie hat am schwersten zu tragen.«
Robert begann zu schluchzen.
»Siehst du, Robert, das geht oft so im Leben, daß einer die nicht kriegt, der er gut ist. Wie ich jung war – da – da ist es mir – mir auch so ähnlich ergangen – da – haben mich – meine Eltern und meine Verwandten – auch – auch zu was anderem gezwungen, als ich wollte.« Der Kranke legte seinen gesunden Arm fest um Roberts Schulter, und ein Schauer flutete durch die Seele des jungen Mannes. Langsam tastete sich Hartmann bis auf Roberts Kopf.
»Gott helfe dir, mein Junge! Helfe uns allen! Wenn man so nahe vor dem Tode steht wie ich –«
»Herr Hartmann, guter Herr Hartmann – –«
»Sei still, Robert! Das eine kannst du glauben, ich verlaß dich nicht – ich werd' dir weiter helfen, ich werd' schon sehen, daß ich dir eine Existenz schaffe. Auch ohne die Heirat.«
Und Robert Winter sagt, was er an zärtlichen Gedanken im einsamen Herzen trägt, das so wenig Liebe erfahren hat, alles diesem Manne.
In bleiche Schleier hüllt die Dämmerung Vater und Sohn. Wenn jetzt ein mutiger Gedanke fällt, ist der Sohn der Hagar zu Haus.
Hartmann beginnt aufs neue:
»Wir müssen der Lore helfen. Wir dürfen sie nicht verderben lassen – nein, nein, nicht verderben lassen –«
Die Kraft verläßt ihn. Es kommt eine schwere Pause.
»Es ist ja nicht um sie allein – es ist auch um das Kind!«
Da springt Robert Winter auf.
»Das ist es – das ist es, Herr Hartmann, das ist es ja, worüber ich nicht wegkomme – das Kind – das darf nicht hinausgestoßen werden auf die Gasse – das darf nicht – das ist doch ganz unschuldig – – und ich – ich weiß doch, wie das ist – ich bin doch auch so eins – ich bin ja auch so rausgeworfen, so verraten, so verstoßen, und ich weiß, was das für ein elendes, schreckliches Leben ist, wenn man – wenn man keinen Vater hat.«
Hartmanns Augen öffnen sich weit, ein Bekenntnis formt sich im bebenden Herzen, es steigt langsam auf die Zunge, es beginnt sich zu lösen in einem schweren Lallen – es setzt ein mit dem ersten heiseren Wort –
Da ruft Robert Winter:
»Ich hasse meinen Vater!«
Und das Bekenntnis unterbleibt.
Der Haß sprach, die Gnade schrickt zurück, das Glück und der Friede flieht.
Bleicher werden die Schatten des Abends und fahler.
Eintönig singt draußen der kalte Wind.
Da rafft sich Hartmann auf und schüttelt die schwere Scheu ab:
»Er muß sie heiraten – er, zu dem sie gehört. Für dich ist es schwer, Robert, aber es muß sein. Wegen des Kindes! Er kann sie auch heiraten, denn sie ist ja jung und hübsch. Geh zu ihm, Robert. Du bist der einzige, den ich schicken kann, wenn's auch so schwer für dich ist. Sag' ihm, sie hat siebentausend Mark, und ich werde noch fünftausend Mark dazu geben und ihnen aus der Wirtschaft alle Wochen was schicken, da werden sie auskommen.« Ein paarmal holt Robert Winter schwer Atem.
Dann sagt er: »Ja, ich werde es ihm sagen.«