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Bei einer Holzfuhre hatte sich Robert den linken Daumen verstaucht. Dr. Friedlieb leistete ihm ärztliche Hilfe. Und einmal, als auch Frau Christel dabei war, sagte er zu Robert:
Im Niederdorf wohnt der alte Hellmich-Bittner. Dessen Frau versteht sich aufs Massieren. »Streichen« nennt man das hier. Da gehn Sie doch hin und lassen Sie sich den Finger alle Tage ein wenig streichen. Es sind gute Leute.«
»Ja,« sagte Robert, »ich weiß es!«
»Sie kennen die Hellmichleute?«
»Ich bin einmal mit ihnen zusammen von der Stadt heimgegangen, und einmal habe ich mit meinem Kameraden Schulze durch ihr Fenster geguckt. Da sangen sie miteinander.«
Der Doktor nickte. »Ja, ja, die Leute sind sehr brav. Es wird Ihnen dort gefallen.«
Als Robert fort war, sahen der Doktor und seine Frau sich ernst an.
Danach fragte Christel: »Warum tust du das? Warum schickst du ihn zu seinen Großeltern?«
»Weil er dorthin gehört! Die alten Leute sind sehr einsam.«
»Willst du es ihnen sagen?«
Der Doktor wandte sich halb ab.
»Ich weiß nicht. Ich kämpfe noch mit mir. Siehst du, Christel, es ist mir oft, als beginnen wir ein großes Unrecht, daß wir dem Musikanten den Weg nicht zeigen. Wir tun's deines Vaters wegen – ja! Aber die Hellmichleute sind alt. Sie können sich jeden ersten besten Tag ins Grab legen, und wenn dann Robert nachträglich erfährt, daß das seine Großeltern waren und daß wir's gewußt und bloß aus Familienegoismus nichts gesagt haben, das wird er uns nie verzeihen. Und er hat recht damit. Es wird ihm da was Kostbares durch uns vorenthalten und den alten Leuten auch. Mich drückt es schon lange!« »Mich auch!« sagte Christel traurig. »Ich hab' auch mit Gottlieb Peuker darüber gesprochen. Der quält sich auch damit. Aber er sagte: Die alten Leute sind jetzt glücklich und friedlich, und wenn sie hören würden, daß die einzige Tochter so – so am Wegrande –« »Darüber dürften sie allerdings nicht mehr wegkommen«, fiel der Doktor seiner Frau ins Wort. »Das ist richtig!« Er ging ein paarmal auf und ab. »Aber, Christel, denken müssen sie sich doch etwas Schlimmes über den Verbleib ihrer Tochter. Da sie ihnen in den langen, langen Jahren gar keine Nachricht gegeben hat, gibt es doch bloß zwei Lösungen: gestorben oder verdorben! Und wie ich die Hellmichleute kenne, ist denen »gestorben« lieber.«
»Aber nicht so – nicht so! Das kann keine Frau, keine Mutter verwinden. Das ist zu schrecklich! Sie werden sich schon eine Lösung gemacht haben, vielleicht daß sie in einem Krankenhaus gestorben ist oder so etwas, was doch menschlicher ist. Und sie sind doch friedlich und können lachen und singen. Wenn sie das hören, werden sie nie mehr lachen und singen.«
»Auch nicht, wenn sie den Enkelsohn haben! Es ist richtig, Christel! Es ist da besser so! Der eine furchtbare Gedanke würde den Alten ihr bißchen Lebenszeit verbittern und verkürzen! So muß alles bleiben, wie es ist! Aber es beruhigt mich schon etwas, wenn der Robert manchmal bei ihnen ist.«
»Und wenn es dadurch herauskommt? Wenn er ihnen erzählt, daß er eigentlich Hellmich heißt wie sie, wenn er ihnen das Schicksal seiner Mutter –«
»Er wird es nicht erzählen! Er hat nie wieder auch nur ein Wort davon gesprochen, und da wir alle, die 's damals hörten, geschwiegen haben, hat im Dorfe nicht ein Mensch ein Wort davon erfahren, nicht einmal deine Mutter.«
»Ich glaube, die Mutter weiß es!«
Der Doktor sah sie überrascht an.
»Ich meine, sie weiß es nicht sicher, aber sie ahnt, sie fürchtet es. Und deshalb ist sie so – so –«
»So niederträchtig! Nennen wir's ruhig mit dem richtigen Namen.«
»Wilhelm, sie ist ein Weib!«
»Ja! Und Weib gegen Weib ist niemals gerecht. Denn das Weib kann alles, aber es kann nicht großmütig sein. Ich will dich damit nicht kränken, Christel, auch nicht deine Mutter. Es liegt ja eine Art Entschuldigung für euch Frauen darin.«
Christel schwieg. Sie wußte, daß da Widerspruch vergebens war, und ahnte, daß er recht hatte. Ihre Gedanken kehrten auch zu Robert und seinen Großeltern zurück.
»Und wenn sie sich doch erkennen?«
»Dann mag es in Gottes Namen geschehen! Dann können wir's nicht andern und werden das Weitere abwarten.«
Trauliches Lampenlicht lag in hellgelber Schönheit auf dem Tische der Hellmichschen Wohnung, es schimmerte goldig auf dem Nähzeug der Alten, es lag breit und freundlich auf des Mannes großem, zerlesenem Kriegsbuche. Bis zur Ofenecke reichte es, wo seine ruhige, solide Art zurückwich vor dem flackernden, neckischen, koboldischen Spiel des Herdfeuers.
Und als es gegen sechs Uhr am Abend war, wachte der Pudel aus seinem Mittagsschlaf auf, sah, daß im Ofen ein Feuer brannte und beschloß, an warmer Stelle sein Schlummerstündlein fortzusetzen. Er fand aber den Platz unter der Ofenbank schon von der schneeweißen Katze besetzt, brummte deshalb zärtlich und streckte ihr freundlich bittend seine schwarze Pfote hin. Sie aber gönnte ihm nur einen verschlafenen, sehr verdrossenen Blick und streckte sich noch länger und breiter aus. Verdutzt über solches Benehmen blieb der Pudel noch eine Minute stumm dastehen, sah aber in seiner klugen Art ein, daß da nichts zu machen sei, und schlich betrübt nach seiner vorigen Lagerstatt zurück. Mit einem Gähnen, das wie ein Seufzer klang, schloß er die Augen wieder hinter seinen wolligen Stirnhaaren. Der Kanarienvogel, dessen Bauer schon zugedeckt war, hörte den Seufzer seines großen, schwarzen Freundes, auf dessen Rücken er oft spazieren ging, sang ihm zum Gruß noch einen ganz leisen, kurzen Triller und schlief auch. Es war so schön und friedlich wie es immer bei diesen alten Leuten war.
Da schlug die Uhr und rückte den Zeiger in eine neue Stunde.
»Es kommt jemand«, sagte die Frau aufhorchend.
Der Mann wandte sich um, und beide sahen gespannt nach der Tür.
Da trat Robert Hellmich ein.
Er blieb ein paar Augenblicke an der Tür stehen, und die Alten blieben sitzen und sahen ihn an.
Da brachte er sein Anliegen vor. Mann und Frau kamen ihm entgegen und luden ihn an ihren hellen, freundlichen Tisch. Und sie saßen mit ihm und plauderten.
Horch, geht die Uhr nicht mit fremdem Schlag? Geht sie nicht traumhaft leise? Singt nicht der Herbstwind leiser ums Haus, und rinnt nicht der Regen draußen ganz still über die Scheiben wie über die Fenster eines Hauses, das vor Glück und Freude weint? Wie weißer Opferbrodem steigt der Rauch der Hütte zum Himmel; im Herbstwind und Regen teilt sich hoch eine Wolke und es schauen zwei Sterne nieder auf das kleine Haus, darin zwei alte Leute bei einem jungen Manne sitzen.
Die kennen sich nicht und sprechen über gleichgültige Dinge. Sie wissen nichts von dem großen Geheimnis, das sie verbindet. Aber es geht doch ein Strahlen von Seele zu Seele und machte ihre Herzen still und zufrieden, daß sie glücklich sind, beieinander zu sein.
Sie sprechen nicht von Hartmann, da Robert schon längst das Gefühl hat, die alten Leute seien dem Wirt nicht gut. Er hat auch im Kretscham nicht gesagt, wohin er geht. Aber die Hellmichmutter preist den Doktor Friedlieb, während sie den kranken Finger beschaut und hat auch ein freundliches Wort für des Doktors Frau.
Sie holt sich ein Fläschchen mit Öl, reibt den Finger ein und beginnt ihn leise zu streichen.
Robert spricht mit dem Manne. Von dem, was da in dem Kriegsbuche steht, sprechen sie, vom Wetter, von allerhand Dingen aus dem Dorfe. Dann ein wenig von Politik, denn der Alte hält eine Zeitung und nimmt Anteil an den Schicksalen seines Volkes. Er spricht viel, und die Frau lauert immer sehnsüchtig auf ein Wort von Robert. Dann beim Klang seiner Stimme horcht sie auf, ihre Finger fahren lässiger über Roberts kranken Daumen, sie blickt auf von der Heilarbeit, hebt ein wenig den Kopf, hält ihn schief und schaut dem Fremdling auf einige Sekunden ins Gesicht. Dann liegt ein Forschen, Nachsinnen, eine tiefe, furchtsame Frage in ihren alten Augen, bis sich der Kopf leise und schwermütig senkt.
Sie fragen ihn nicht nach seinen Lebensschicksalen. Sie haben gehört, daß er oft von rüden Burschen und dummen Leuten seines Musikantenlebens willen bitter gehöhnt worden ist. Da sind sie zartfühlend genug, ganz von der Vergangenheit zu schweigen.
Er aber fängt selbst davon an. Was er niemandem im Dorfe (Gottlieb Peuker ausgenommen) mitgeteilt hat, das sagt er diesen Alten: daß er seine Kameraden wiedergesehen hat in der Waldschenke.
Der alte Hellmich ist ein wenig neugierig, lacht und fragt nach Steiner und nach dem Italiener, die ihm beide sehr schnurrig vorgekommen sind; das Weiblein fragt nichts anderes als das eine: »Und wollen Sie wirklich wieder mit ihnen ziehn?«
Besorgnis und Kummer liegen in ihrer Stimme.
Robert erzählt von den inneren Kämpfen, die er deshalb leide.
Und er verschweigt nicht, daß er sich oft unglücklich fühle der Frau Hartmann und Bertholds wegen.
Darauf entgegnen sie nichts, und das Gespräch bricht ab. Erst spät fragt die Frau:
»Haben Sie denn gar keine Verwandten?«
Da schlägt die Uhr und rückt den Zeiger in eine neue Stunde.
»Nein, ich habe niemanden; weder Vater noch Mutter, noch Bruder, noch Schwester, – niemanden; ich bin ganz allein.«
Einen Augenblick lauschen die Alten teilnahmsvoll auf, ob er ihnen mehr enthüllen werde. Aber sein Mund schließt sich, und sie stellen keine Frage.
Mit freundlichen Dankesworten geht er endlich davon, nachdem er versprochen, am nächsten Abend wiederzukommen.
Die Alten sind allein. Die Lampe gießt ihr mildes Licht auf den Tisch, heimliche Märchen knistert das Herdfeuer, der Hund schleicht wieder nach dem Ofen, die Uhr tickt friedlich – es ist alles wie sonst und doch plötzlich alles ganz anders. Es ist etwas Neues, es ist ein Schicksal in diese Stube getreten.
Die Frau führt versonnen und lässig ihr Nähzeug, der Alte träumt mit offenen Augen über seinem Kriegsbuche und liest nicht mehr.
* * *
Die Stunden vergingen langsam am folgenden Tage. Die Hellmichmutter, die am Fenster nähte, sah oft nach dem trüben Tag draußen und wünschte, er möchte zu Ende gehen, und wußte nicht, warum. Und ihr Mann ging immer aus und ein, hinaus in den kleinen Garten oder in den Holzschuppen, ohne eigentlich was Rechtes vorzuhaben.
Robert war im Regen draußen im Walde, und wenn ein kalter Schauer seinen zarten Leib überfuhr, strömte eine Hoffnung warm durch seine Seele: die Aussicht auf die gemütliche Plauderstunde bei den alten Hellmichleuten.
Erst nach dem Abendbrot konnte er bei ihnen vorsprechen. Heute fand er den alten Hellmich über einer großen, schönen Bilderbibel sitzend. Der alte Hellmich war ein bißchen eitel; er hatte sich gesagt, wenn er bei der Ankunft Roberts gerade über seinem großen Prachtwerke sitze, sei es ganz unauffällig und mache es sich ganz von selbst, daß er ihm den Schatz zeigen könne, ohne in den Verdacht der Wichtigtuerei zu geraten.
Und Robert besah auch wirklich das große, schöne Buch mit viel Interesse und Bewunderung, und des Alten Augen glänzten, wenn er ein besonders prächtiges Bild zeigen konnte, gleich, als hätte er es selbst gemalt. Es waren gute Bilder nach alten Meistern.
»Es is schon a recht altes Buch,« sagte Hellmich, »wir haben's uns halt gut gehalten. Ich hab's amal der Mutter geschenkt, wie wir noch Brautleute waren. Es war sehr teuer. Ich hab' drei Jahre lang dran abzahlen müssen. Aber ich hab' nu schon an die fünfzig Jahre meine Freude und meine Erbauung dran.«
Die Hellmichmutter streicht wieder den kranken Finger. Wie gestern horcht sie auf, wenn Robert spricht, spürt mit den müden Sinnen ihrer alten Seele einem lange verlorenen Klang nach. Und wie gestern hebt sie manchmal den alten hübschen Kopf, hält ihn ein wenig schräg und späht ... und ist dann versonnen ... verwundert ... und das alte Herz klopft schneller und ist scheu und erschrocken.
Bleibt nicht die Uhr stehen, hält sie nicht spähend den Atem an? Klirrte nicht leise das Fenster?
Denn jetzt müßte heimlich ein Engel kommen, heimlich und eilig, ein kluger Engel vom Himmel, und Roberts rechte Hand führen, die in der Bibel blättert.
Siehe, sie blättert rückwärts. Nun macht sie halt bei Moses' hoher Gestalt ... jetzt schlägt sie zurück ins Zeitalter der Patriarchen ... Robert, Robert, willst du an das Hagarkapitel tasten?
Da schlägt er es auf.
Die Austreibung! Ein großes Bild.
Die Hand sinkt zurück, er blättert nicht weiter. Die Augen starren auf das Bild, das Gesicht wird finster, ein düsterer Schatten liegt über Augen und Stirn, die Mundwinkel zucken.
Er sieht den Abraham, den bekümmerten, mitleidigen, ach, so schwachen Mann, er sieht die Hagar stehen in ihres Leibes Schönheit, die sie dahingab dem Manne, der sie nun vertreibt, sie und die Frucht ihrer Aufopferung, ihren kleinen Sohn, er sieht die triumphierende, mitleidslose Sara.
Da ballt er die Faust, und ein höhnisches Lachen bricht ihm vom Munde, und er sagt:
»O dieser – dieser war kein Gerechter! Ein Feigling war er, ein Lump war er!«
Der alte Hellmich und seine Frau zucken zusammen. Auch sie haben in den langen Jahren das Bild nicht ohne Bitterkeit ansehen können. Wenn sie in der Bibel blätterten, haben sie es meist überschlagen. Es griff zu sehr an ihr eigenes Leben. Aber es sind fromme Leute, und so sagt der alte Hellmich:
»Sie müssen sowas nicht sagen, Robert! Nein, das ärgert mich, 's war halt eine ganz andere Zeit. Da hat unser Herrgott die Menschheit anders geführt wie heute. A Held war ja der Abraham nich. A paarmal, wenn a Angst hatte, hat a die Sara für seine Schwester ausgegeben und hat sie sich von andern Männern wegnehmen lassen. Und dann hat a sie immer wieder angenommen. Damals nahm halt das die Menschheit nich so genau. Da war's da bloß um die richtige Fortpflanzung zu tun. Sehn Sie, Robert, ich hab' darüber verschiedentliches gelesen, denn ans Herze hat mir die Geschichte auch immer gegriffen. Da muß man sehn, daß man sich zurechtfind't. Und sehn Sie mal, Robert, unser Herrgott hat doch die Hagar und ihren Sohn nich umkommen lassen. Geben Sie mal her, ich werd' mal die Stelle lesen. Das is die Stelle aus der Bibel, die mich von allen am meisten getröstet hat.«
Auf Roberts kranken Daumen, den die Hellmichmutter rieb, fiel eine Träne. Der Mann aber las mit feierlicher Betonung und voll festen Glaubens:
»Da sie nun geschieden war, irrte sie umher in der Wüste Bersabee.
Und als das Wasser im Schlauche ausgegangen war, legte sie den Knaben unter einen der Bäume, die da waren, und ging fort und setzte sich gegenüber von ferne, einen Bogenschuß weit; denn sie sprach: Ich kann den Knaben nicht sterben sehen. Und sie saß gegenüber, erhob die Stimme und weinte.
Da erhörte Gott die Stimme des Knaben; und der Engel des Herrn rief der Hagar vom Himmel und sprach: Was tust du, Hagar? Fürchte dich nicht, denn Gott hat die Stimme des Knaben erhört von dem Orte, da er ist. Stehe auf, nimm den Knaben und fasse seine Hand; denn ich will ihn zu einem großen Volke machen. Und Gott tat ihre Augen auf; und sie sah einen Wasserbrunnen und ging hin und füllte den Wasserschlauch und gab dem Knaben zu trinken.
Und Gott war mit ihm; und er wuchs und wohnte in der Wüste, und da er herangewachsen, ward er ein Bogenschütze.«
Es war heilig-still in der Stube.
»Der liebe Gott,« sagte der alte Hellmich in gläubigem Vertrauen, »der liebe Gott kann ein armes, ausgetriebenes Mädel nicht verderben lassen, auch wenn sie gefehlt hat.«
Und die Frau sah ihn an und richtete die müde Seele auf an seinem Glauben.
Roberts Augen hingen fieberglänzend an der Bibel. Das Blut schlug schwer und heiß durch seinen jungen Leib, und Trotz und Grimm bäumten sich in ihm auf, und er wollte schreien:
»Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr! Er läßt sie verderben, er läßt sie verbluten in der Wüste!«
Aber er sah den Glauben der Alten, und ein Vorsatz wuchs in seinem Herzen: er würde ihnen nie erzählen von dem Schicksal seiner Mutter. Ein kleiner, schwacher Wind fuhr ums kleine, schwache Haus, darin Menschen sprachen von ewigen Dingen.
Hoch darüber kreisten die Sterne.
In goldener Weite, die der Menschengeist in Milliarden Jahren nicht auszählt, kreisten sie, und wie sie ihre flimmernden Riesenleiber drehten und dahinschritten im blauen Himmelssaal, im ewigen Reigentanz, der den Einen ehrt, sangen sie die Harmonie der Sphären, und ein armes Reimlein in ihrem großen Liede fragte: Was wollen die kleinen Menschen? Was sind sie so töricht, auf ihrem armseligen Sterne an ihr Glück und ihre Heimat zu glauben? Was jubeln sie nicht auf, wenn sie von der Tiefe erlöst werden?
Aber auch diese Menschen in der Hütte fragten und grübelten, klammerten sich an ihre Erde und deren Gesetze und fragten nach Glück und nach Heimat.
Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Robert greift abermals nach der Bibel und blättert wieder rückwärts, blättert bis zum Anfang der Bibel, bis zum Titelblatt.
Da steht in goldenen Buchstaben:
»Die heilige Schrift.«
Und daneben steht mit sorgsamen, wenn auch ungeübten Zeichen geschrieben:
»Martha Hellmich, geboren den 25. Juni 1850.«
Roberts Hand sinkt zurück, seine Augen treten heraus, er entreißt der alten Frau die andere, die kranke Hand, er hebt beide Hände über den Kopf, er starrt, starrt ... hebt die Hände herunter ... zeigt auf die Schrift ... die schreckliche Schrift ... dieselbe Schrift, die ja auch in seiner Mutter Gebetbuch steht ...
»Martha Hellmich, geboren den 25. Juni 1850.«
Die Alten springen auf.
»Was ist? Was ist Ihnen, Robert?«
»Da – dieselbe Schrift – derselbe Name – dasselbe Datum –!«
»Jesus, was ist?«
Robert schaut die Alten scheu an. Es fällt ihm nur ein, daß sie Hellmich heißen – er zeigt wieder auf die Schrift – ein lauter Aufschrei:
»Das ... das ist ja meine Mutter!«
Und er fällt leblos über die Bibel.
* * *
Robert Hellmich wacht auf aus der Ohnmacht. Er liegt auf einem Bett. Er sieht die Alten, erschrickt und schließt die Augen.
»Wer seid ihr?« fragt er leise.
Sie geben keine Antwort, aber er hört, daß sie weinen.
Ganz still liegt er. Ganz still. Und wie ein Wunder ist's: es wird ihm wohl. Und wie ein großes Wunder ist's: er wird ruhig und klar.
Er öffnet die Augen und schaut sie an.
»War diese Martha Hellmich eure Tochter?« fragt er.
Sie nicken unter vielen Tränen.
»Diese Martha Hellmich war meine Mutter.«
Da sinken sie an seinem Bett in die Knie.
Robert richtet sich auf. Er schlingt die Arme um die beiden Alten und preßt seinen Kopf an ihre Köpfe.
»Wo – wo – wo – ist unsere Martha?«
So fragt die Mutter.
Nun ist er der Tröster. Mit weitgeöffneten, zuversichtlichen Augen sieht er die Alten an; mit fester, feierlicher Stimme sagt er:
»Sie ist im Himmel. Ich weiß es. Sie ist gestorben, als ich auf die Welt kam. Sie hat ein schönes, reines Gesicht gehabt, da sie starb. Das hat mir eine gute Frau gesagt.« Und weiter sagt er kein Wort.
Sagt nichts Bitteres. Sagt nichts davon, daß die Hagar in der Wüste starb.
* * *
Sie sitzen lange beisammen, bis tief in die Nacht. Sie sagen sich nichts wie von Liebe.
Ach, ihr goldenen Sterne, ihr tanzenden Wunderwesen, singt im Sphären-Reigen nicht so klein von den Menschen. Denn sie haben die Liebe!
Die drei waren glücklich.
Die alten Lippen zitterten wie in bebendem Gebet. Und es war Glück!
Sie forschten nicht, sie fragten nicht mehr. Es war ihnen genug, daß die Tochter mit reinem Antlitz gestorben und daß ihnen nun diese hohe Gnade geworden war.
Aber das Schwere kam doch. Denn die Jugend fragt.
Robert fragte in später Stunde:
»Wer ist mein Vater?«
Er fragte es mit dem ganzen Groll, mit der ganzen Verachtung, mit dem tollen Haß, den er für seinen Vater im Herzen trug und um dessentwillen er heute den Patriarchen geschmäht hatte.
Sie gaben keine Antwort. Sie versteckten die Gesichter hinter den alten Händen. Aber er fragte wieder und immer dringlicher. Da sagten sie ihm:
»Dein Vater ist Hartmann!«
Das traf ihn noch schwerer, als die Kunde von seiner Mutter. Er wurde nicht ohnmächtig, er saß nur wortlos auf seinem Platz.
Der ganze Haß, den er durch eine vergrämte Jugend, durch ein ersticktes Blütenalter, durch Kerkerhaft und Schande, durch Bettlertum und schmutzige Lachen getragen hatte, dieser Haß traf nun diesen Mann.
Von der Stunde an sprach Robert nicht mehr. Er stand einer Fügung entgegen, die er nicht begriff, die wie ein schwerer Bann ihn grausam umfing.
Langsam stand er auf.
»Ich muß gehen!«
Sie sprachen begütigend auf ihn ein.
Er sagte nichts anderes mehr, als daß er morgen wiederkommen wolle.
Und er ging.
Die Alten waren wieder allein. Die Frau lag schluchzend auf dem kleinen Sofa.
Der Mann aber beugte sich über den Tisch und küßte die Bibel und sprach:
»Du heiliges Buch! Du getreues Buch!«