Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Elftes Kapitel

Seit jenem Tage hatte er eine tiefe Verehrung für Christel. Er war glücklich, wenn er ihr einen Dienst erweisen konnte und nahm ihre Guttaten mit ehrfürchtiger Dankbarkeit an. Ja, als die Lore einmal über ihn und Christel witzelte, fuhr er sie zornig an. Das hatte freilich keinen besseren Erfolg, als daß sich das lose Mädchen vornahm, ihn häufiger als je mit dieser Sache zu necken.

Da kam es so weit, daß er eines Tages zu ihr sagte: »Fräulein Lore, Ihnen scheint es leider egal zu sein, ob und wegen wem die Leute von Ihnen reden. Christel ist das nicht egal und mir auch nicht! Sie ist die Tochter meines Herrn, und ich bin ein armer Mensch, und bespöttelt zu werden, dazu sind wir nicht da. Das merken Sie sich!« Da war die Lore feuerrot geworden vor Zorn, hatte ihm ihre kleine Faust hingestreckt und gesagt: »Nu so einer – so ein Grober! Na, warten Sie, wenn Sie mich wieder küssen wollen, ich werde Ihnen heimleuchten!«

Und war lustig mit anderen Burschen mehr als je. Robert Winter litt schwer darunter.

Einsam war er den ganzen Tag. Eine Woche lang hatte die große Dreschmaschine ihr monotones Lied gesungen, dann war ihm die Aufgabe geworden, den Wagen zu begleiten, der die Rüben nach der Zuckerfabrik schaffte. Das war ein weiter Weg, schweigend schritt Robert neben den Pferden, die die schwere Last dahinschleppten.

Dann dachte er oft nach über sein Leben und fand, daß es nutzlos und freudlos sei. Müde Melancholie faßte seine Seele, und die trüben Herbsttage vermehrten seine Schwermut.

Was hatte er gehabt vom Leben? Nichts! Was hatte er zu hoffen? Nichts!

Ein paar vereinzelte freundliche Tage ausgenommen. Wenn er es recht bedachte, war seine Musikantenzeit noch das Beste von seinem Leben gewesen. Sorglos und ohne innere Kämpfe. Die Scham, Almosen zu nehmen, ist eine Krankheit, die alle Tage abnimmt. Und er hatte sich ja auch immer eingeredet, er nähme gar keine Almosen. Er blies das Waldhorn ganz gut, er hatte ja beim Militär in großen Gartenkonzerten mitgespielt. Wenn die Leute also etwas für die Musik zahlten, hatte es den Anschein eines Almosens, in Wirklichkeit verschaffte er den Zuhörern ein spottbilliges Vergnügen.

Hätte Musiker bleiben, in eine Privatkapelle eintreten sollen. Aber es war auch ein Hungerleben, und Nacht um Nacht angestrengt zu musizieren, das hielt er nicht aus. Seit bösen, regenkalten Manövertagen hatte er keine guten Lungen mehr. Die Festungshaft war seiner Gesundheit auch nicht bekommen.

Was sollte er nun tun? Ruhig sein, froh, daß er im Hartmannschen Hause Unterkunft gefunden hatte. Was konnte dieses Haus für seine qualvolle Liebe zu Lore? Eine Lore konnte er überall finden. Und Herr Hartmann war ein Ehrenmann. Immer freundlich, immer gütig zu ihm. Fast so wie seine herrliche Tochter Christel. Wenn es kalt war, rief er ihn oft heimlich in die Wirtsstube und goß ihm einen wärmenden Schnaps ein. Und Robert sah ganz gut, daß er ihn aus der besten Flasche nahm. Kürzte seine Arbeitszeit ab, so gut es sich einrichten ließ, ließ ihn auch abends in die Gaststube kommen und gestattete, daß er mit anderen Karten spielte.

Und eines rechnete Robert Herrn Hartmann besonders hoch an: Ein junger Bauernsohn hatte ihn einmal gehänselt, daß er Musikant gewesen sei und hatte durchblicken lassen, es schicke sich nicht, daß er mit am Wirtshaustisch sitze. Da hatte Herr Hartmann gesagt: »Lieber Bruno Wenzel, der Robert ist mein Wirtschafter und so gut wie jeder andere Wirtschafter im Dorfe. Wenn er Ihnen im Wege ist – im Niederdorfe gibt's noch ein anderes Gasthaus.«

Seit jenem Tage hatte Robert Winter ein Gefühl der Achtung für Hartmann, das an Liebe grenzte.

Dann war die Christel, die so treulich für ihn sorgte, der gutmütige alte Gottlieb Peuker und die Lore, die ihm ja viel Leiden brachte, aber doch wie ein Sonnenstrahl war, wenn sie ihm nur über den Weg huschte.

Was war es also, daß er nicht heimisch wurde in diesem Hause? Die Frau war schuld. Sie hatte noch kein freundliches Wort zu ihm gesprochen, sie kränkte ihn mit hundert Kleinigkeiten, hatte etwas Schnüffelndes, sah sogar die Brotstullen nach, ob sie nicht zu fett geschmiert seien. Wenn sie ihn nur anblickte, war es ihm immer wie ein stummer Befehl: »Schere dich fort! Verlaß das Haus! Du gehörst nicht hierher! Du hast kein Recht, hier zu sein!« Vor dieser Frau fürchteten sie sich alle, am meisten Hartmann. Bei jeder Kleinigkeit, die er ihm erwies, mahnte er ihn, die Frau nichts merken zu lassen, und er selbst redete in ihrer Gegenwart nur kurz mit ihm.

So wurde das Hartmannsche Haus für Robert Winter keine Heimat, weil er nicht eine Stunde das sichere Gefühl der Berechtigung hatte, dort zu sein.– –

Das letzte Fuder Rüben war aufgeladen. Hartmann begleitete diesmal Robert, um mit der Fabrik abzurechnen. Die beiden gingen lange schweigend neben dem langsam dahinschleichenden Wagen her. Leer und stumm lag die Landstraße.

Gerade als die Pferde eine Anhöhe hinauf einmal stehen blieben, um zu verschnaufen, sagte Hartmann: »Wie denkst du dir nun deine Zukunft, Robert?« Robert sah ihn mißtrauisch an. Gewiß, der wollte ihm kündigen.

»Wollen Sie mich nicht mehr behalten, Herr Hartman«?« »Wer spricht denn davon? Wie kommst du denn darauf?« »Mir – mir ist immer, als wenn mich Frau Hartmann am liebsten forthätte.«

»Unsinn! – Na, die is halt so! Wer kann da was ändern? Und wer wird da alles gleich übelnehmen! Von Fortschicken is gar keine Rede. Aber wenn man fünfundzwanzig Jahre is, wie du, da denkt man doch amal dran, wo man nu eigentlich hinsteuert.«

»Was soll ich denken? Ich hab' keine Aussicht. Meine Pflegeeltern hatten mir manchmal versprochen, sie würden mir mal ihre Wirtschaft vermachen. Aber erstens weiß ich nicht, ob sie das getan hätten, weil sie noch Verwandte hatten, und dann – Sie wissen ja, daß ich mit ihnen verfeindet bin, seit ich – wegen meiner Mutter –« Hartmann unterbrach ihn.

»Na ja, Robert, du kannst glauben, ich mein's ja gut mit dir. Ich zerbrech' mir wegen dir genug 'n Kopp. Am besten wär's eben, wenn du a Mädel kriegtest, die a paar Taler Geld hat und könnt'st 'ne kleine Wirtschaft kaufen oder auch was pachten –«

»Herr Hartmann, da wird wohl nichts draus werden.« »Warum nich?«

Robert wurde rot und sah zu Boden. Hartmann betrachtete ihn und ein Lächeln ging über seine jetzt immer sehr ernsten Züge.

»Nu, so a alter Kerl wie ich, der versteht ja nicht mehr viel davon, was sich junges Volk so einbild't. Aber ich hab' mir eben so meine Gedanken gemacht. Ich glaube, ich wüßte eine für dich: unsere Lore.«

»Herr Hartmann!«

Der tat, als ob er die maßlose Überraschung Roberts nicht bemerke. Er wandte sich halb ab und sagte: »Sie is a flunkriges Ding, es is noch kein richtiger Ernst in ihr. Aber sie is halt noch jung. Die Gesetztheit kommt schon noch. Sonst is sie gut. Gesund, freundlich und auch fleißig. Sie is ja 'ne Waise. Mein Bruder und seine Frau sind zeitig gestorben. Da haben wir das Mädel genommen. Geld hat sie etwas über zweitausend Taler. Das is ja nich viel, aber zum bescheidenen Anfange langt's schon. Und du verstehst ja deine Sache. Wenn man euch vorläufig noch was vorstreckte, da könntet ihr zu was kommen.«

Robert Winter stand zitternd auf der Straße. Und wie er den alten Mann so halb abgewandt vor sich stehen sah, flutete eine glühende Liebe zu ihm durch sein Herz, die ganze Vereinsamung seines Lebens von der Kindheit bis jetzt war ausgelöscht, und er stammelte: »Herr Hartmann, Sie – – – Sie sind so gut – – – so gut zu mir – – – wie noch kein Mensch war.«

Hartmann wandte sich ganz ab. Eine Weile sagte er nichts, dann drehte er sich um und sprach: »Na, laß gut sein, Robert. Sag' vorläufig niemand was. Sieh, daß du die Sache mit dem Mädel abmachst und dann – dann werden wir schon sehen. Jetzt fahr' weiter!« Die Pferde zogen an, der Wagen krachte. Leise sprühte der Herbstregen hernieder. In Roberts Herzen aber war Frühling voll Klarheit und Sonne.

Vergessen der Gram. Vergessen selbst der Zorn gegen den unbekannten Vater, den sein Haß sonst suchte. Ein fremder Mann war ihm ein Vater geworden.

Spät kamen sie nach Hause. In der Wirtsstube saß der Postassistent, der mit zwei anderen Karten spielte. Er hatte einen freien Tag und war auf dem Zweirade gekommen. Lore bediente die Spieler und war lustiger als je. Da schämte sich Robert, in seinem schmutzigen Werktagsanzug in die Gaststube zu treten und ging nach der Küche. Er fand die Christel allein.

Lange saß er schweigend da mit seinem übervollen Herzen. Da fragte Christel: »Sie sind so still, Robert. Ist etwas passiert?«

»Ja! Und ich möchte es Ihnen gern sagen, Christel, ich möchte mich Ihnen anvertrauen.«

Sie sah ihn freundlich an, fragte aber nicht. »Ihr Vater is so sehr gut zu mir, Christel. Außer Ihnen ist noch niemand zu mir so gewesen. Heute hat er mit mir von meiner Zukunft gesprochen.«

»Ja, und da hat er wohl gesagt, Sie sollen unsere Lore heiraten?«

Er blickte überrascht auf.

»Sie wissen –«

»Ich dachte es mir. Und ich denke mir auch, daß Sie der Lore gut sind. Wer wäre ihr nicht gut? Sie ist sehr, sehr hübsch und gesund und lustig, und sie ist auch fleißig und hat ein gutes Herz.«

»Ja, das ist wahr! Das ist wahr!«

Sie wandte sich von ihm ab und sprach: »Es wäre gut, Robert, wenn Sie recht bald mit der Lore einig würden. Sie brauchen ja nicht sofort zu heiraten, aber es wäre gut, wenn Sie ihr bindendes Versprechen hätten.«

Das war leichthin gesprochen, aber Robert hörte die Sorge heraus, und er fuhr zusammen, als im selben Augenblick das laute Lachen des Postbeamten aus der Wirtsstube herüberschallte.– –

Es kam ein freundlicher Spätherbsttag. Die Sonne vergoldete noch einmal Fluren und Gärten, und ob es auch kühle Farben waren, sie waren doch schön und erfreulich. Ganz still war die Luft. Wenn ein spätes Blättlein vom Baume sich löste, sank es langsam wie ein bunter Kinderstern zur Erde.

Robert und Lore rechten im Garten das welke Laub zu großen Haufen zusammen. Es war ganz lustige Arbeit, und Lore, die Roberts kleine Lektion längst verschmerzt hatte, war ausgelassen und trieb mehr Allotria als Arbeit. Robert war in großer Erregung. Er ahnte, weshalb Christel ihn mit Lore allein in den abgelegenen Garten beordert hatte. Er zögerte, die Zeit verstrich. Da verachtete er sich selbst wie einen Feigling.

Doch als er wieder einmal ganz in der Ecke an der Gartenmauer mit ihr zusammentraf, wagte er es: »Lore, ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, etwas sehr Ernstes.«

»Nanu? Wollen Sie mich wieder ausschimpfen? Ich danke!«

»Nicht doch, Lore! Sie machen es mir schwer. Lore, Sie wissen, daß ich Sie lieb hab' – für mein Leben lieb – und ich – ich will Sie bitten – herzlich bitten, daß Sie – daß Sie mich heiraten.«

Mit seiner ganzen Treue und Unbeholfenheit brachte er das heraus. Das Mädchen wollte erst lachen, aber sie blieb doch ernst.

»Ja, das – das geht ja gar nicht.«

»Es wird gehen«, entgegnete er eifrig. »Ihr Onkel will mir wohl. Er hat es mir direkt gesagt – gestern bei der Rübenfuhre hat er es mir gesagt – daß er es gern sehen würde, wenn wir uns heirateten. Ja, das hat er!«

Lore wurde blaß.

»Aber wieso – wieso kann er sowas sagen?«

»Es ist bloß sein stiller Wunsch, es hängt ja natürlich alles von Ihnen ab – er meinte, er würde uns behilflich sein, daß wir 'ne kleine Wirtschaft kaufen oder was pachten –«

»Wenn ich aber nicht will! Was liegt mir daran?« Sie stampfte mit dem Fuße auf. Traurig und jäh erschrocken sah sie Robert Winter an.

»Wenn Sie nicht wollen – dann – dann – dann –«

Er brachte kein Wort mehr heraus. Lore überwand ihren Zorn schnell und betrachtete ihn prüfend.

»Ärgern will ich Sie ja nicht, Robert. Ich hab' ja auch gar nichts gegen Sie. Sie sind hübscher als alle, und daß Sie Musikant gewesen sind, daraus mache ich mir gar nichts –«

Er sah glücklich auf.

»Lore, herzensgute Lore, und gerade davor – davor hab' ich mich ja so gefürchtet –«

»Nein! Was können Sie dafür! Was kann ich dafür, daß ich keine Eltern mehr hab'? Einer hat Eltern und hat Glück, einer hat keine und hat Pech.«

»So ist es bloß deshalb, weil Sie mich nicht lieb haben?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich gar keinen lieb habe oder alle. Ich will mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, denn ich bin noch jung. Ich bin noch nicht mal ganz zwanzig. Was hab' ich, wenn ich heirate? Da kommt gleich ein Haufen Kummer. Und Sie, Sie sind so streng. Sie passen so auf –«

»Lore, ich will ja – Sie können ja –«

»Könnte man keinen Schritt mehr tanzen, mit keinem reden oder lachen, käm' nicht mehr aus der Bude. Nein, damit hat's bei mir noch lange Zeit.«

Er stand vor ihr mit bleichem Gesicht.

»Da – da entschuldigen Sie nur, Fräulein Lore –«

»Ja, nu nehmen Sie's übel! Ich Hab' doch schon gesagt, daß ich Sie nicht ärgern will. Und ganz ausschlagen will ich Sie ja auch nicht. Bloß jetzt, jetzt paßt mir's eben noch nicht, jetzt will ich erst noch abwarten.«

Sein Gesicht erhellte sich wieder etwas. »Da hab' ich doch ein bissel Hoffnung? Ich werd' mir ja so Mühe geben –«

»Versprechen tu ich gar nichts und abschlagen auch nichts.«

»Aber – aber Sie werden's auch keinem andern versprechen –«

»Das weiß ich nicht. Und jetzt müssen wir wieder Laub rechen.«

Sie verließ ihn. Die Tränen waren ihm nahe. –

Lore aber dachte: »Keinen Schneid hat er. Keinen Ulk macht er. Sogar mit dem alten Gottlieb hab' ich mich im vorigen Herbst beim Rechen immer abwechselnd in einen großen Laubhaufen gestoßen, daß nischt mehr zu sehen war. Fällt dem a solcher Ulk ein? Nein! Feierlich wie 'n barmherziger Bruder. Aber ein hübscher Kerl is er.«

Am frühen Abend trafen sich zwei Männer auf der Dorfstraße.

»Bist du es, Robert? Wie kommst du daher ins Niederdorf?«

»Guten Abend, Schulze! Ich komme aus der Schmiede. Hast du jetzt noch Briefe auszutragen?«

»Ja, die letzte Post«, sagte Schulze stolz. Er trug eine Briefträgermütze und eine Binde mit dem gelben Postadler am Arme. »Ich sage dir, das is doch a andres Leben wie die Kleisterei in der Backstube. Ich fühl' mich jetzt erst wieder wohl. Könntest mir eigentlich 'n klein'n Gefallen tun, Robert – eurer Lore 'n Brief mitnehmen, da spar' ich mir'n Weg.«

Er suchte in seiner Posttasche und übergab Robert einen Brief. Der hielt ihn still in der Hand, ohne ihn genauer anzusehen.

»Er is drin in der Stadt aufgegeben worden,« sagte Schulze, »1 bis 2 Uhr nachmittags, und die Adresse zeigt 'ne sehr ausgeschriebene Handschrift.«

Robert entgegnete nichts. Er schob den Brief in die Rocktasche, und der lag darin, als sei er von Eisen.

Ein kleines Haus tauchte im Abenddämmern auf. Gelbrotes Licht fiel durch die halbverhüllten Fenster. Vorn war ein Hof, an den Seiten zog sich ein Garten hin. Die Klänge einer Ziehharmonika tönten aus dem Häuschen. »Da drin wohnen die alten Hellmichleute«, sagte Schulze. »Kriegen sehr selten mal was Postalisches. Wenn aber doch mal was an sie da is, da kommt die alte Hellmichmutter immer in sehr große Aufregung.

,'s wird doch nich – 's wird doch nich –', sagt sie dann immer, und mehr sagt sie nich. 's soll ihr nämlich vor sehr langer Zeit 'ne Tochter verschollen sein, und da hofft die alte Mutter noch, wenn nach langer Zeit amal der Briefträger kommt, a könnt' 'ne Nachricht von der Tochter bringen. Die wird natürlich längst tot sein.«

»Wahrscheinlich«, sagte Robert zerstreut.

»Hörst du – hörst du, jetzt singt a gar«, sagte Schulze. »Das is der Hellmich. Die alten Leute tun miteinander wie ein Liebespaar. Ich muß mal gucken.«

Er ging in den Hof ans Fenster und winkte Robert. Der wollte erst auf der Straße zurückbleiben, ging aber dann doch seinem ehemaligen Kameraden nach und schaute mit ihm in die Stube.

Eine echte schlesische Dorfstube war's, erhellt von freundlichem Lampenlicht, das sogar die niedere dunkle Holzdecke etwas heller erscheinen ließ. Eine ganze Ecke füllte der blaue Kachelofen aus. Unter der Ofenbank lag friedlich eine weiße Katze auf einem pechschwarzen Pudel. An der Wand stand eine bunt bemalte Truhe und das offenbar kostbarste Stück der Ausstattung, eine hellpolierte Kommode, über die eine weiße gehäkelte Decke gebreitet war. Auf der Kommode lag ein dickes Buch, wohl eine Bibel, darüber hingen einige fromme Bilder und in deren Mitte ein weißer Glaskasten, in dem ein verdorrter Kranz war.

Der alte Hellmich saß in einem Lehnstuhl, der mit schwarzem Wachstuch überzogen war, und spielte auf der Ziehharmonika. Dazu sang er mit altersheiserer Stimme, aber neckischem Ausdruck:

»Ich bin kein Graf und kein Edelmann
und auch kein Kaiser und König,
ich bin kein Doktor, der alles kann,
doch habe ich drum nicht wenig:
Ich bin ein glücklicher Musikant
und habe die schönste Liebste im Land.«

Dabei schielte er verliebt nach seiner Frau, die Kaffee in die Mühle füllte. Der flog ein Lächeln über das Runzelgesichtlein, sie fing an den Kaffee zu mahlen und sang dabei mit flacher Stimme:

»Ich hab' keinen Schleier und Federhut
und auch keine seidenen Kleider,
ich bin kein Fräulein von adligem Blut,
doch bin ich zufrieden und heiter:
Der flotteste Bursche im Lande ist mein,
ich bin ein glückliches Mägdelein.«

Dann sahen sich die beiden an und lachten. Hellmich erhob sich aus seinem Lehnstuhl.

»Ja, Rosel, a flotter Bursche bin ich ja, das is wahr, und wenn mir's nich immer a so im Kreuze steckte, wär' ich noch viel flotter.«

»Und die Schönste im Lande bin ich ja auch,« sagte die Hellmichen, »und wenn ich nich a su viel Runzeln hätte, wär' ich noch viel schöner.«

»Aber Mutter, wie das ulkig is, wenn du so mit deiner hohen Stimme ›und Fäderhut‹ singst –«

»Ja, und wenn du so mit deinem tiefen Basse brummst ›Kaiser und Keenig‹ –«

»Na, Mutter, wir zwei, wir zwei können's doch seit unsrer Jugendzeit. Komm, jetzt mach' wir a Duett. Ich spiele uff der Harmonika, und du spielst uff der Kaffeemühle. Und ich bin a viel feinerer Musikant wie du, denn ich tu doch fingern, aber du bist halt bloß a Leierweibel. Nu, mach' Platz, Mutter! Du wirst aber ooch werklich olle Tage dicker.«

Sie machte Platz auf der Truhe, wo sie saß, und er setzte sich neben sie. Er begann auf der Harmonika zu spielen, und sie drehte vergnügt die Kaffeemühle dazu. Zu dieser Begleitung sangen beide:

»Wir haben kein Schloß und keinen Palast,
kein Gold und Edelgeschmeide,
und dennoch ist das Glück unser Gast,
und wir sind zufrieden, wir beide:
Wir scheren uns nicht um Gut und um Geld,
wir sind das glücklichste Paar auf der Welt!«

Die ganze Stube war hell, schön und voll Freude. Robert Winter, der nur scheu in das Zimmer gesehen hatte, sagte leise: »Das sind gute Menschen!«

Für einen Augenblick überkam ihn eine Sehnsucht, in dieses kleine Haus einzutreten, die Hoffnung, er würde dort drinnen geborgen sein, und viel Kummer würde von ihm abfallen, wenn er über diese Schwelle träte.

Er wandte sich ab. Er hatte kein Recht, da hinein zu gehen, er hatte nicht einmal das Recht, durchs Fenster zu schauen.

Auf der Straße verabschiedete er sich von seinem Kameraden und ging langsam heim.

Das Glück der beiden Alten beschäftigte seinen Sinn. Warum war ihre Liebe so ewig, ihr Glück so beständig, ihr Alter so heiter?

War das nur ihr eigen Verdienst? Oder war es nicht die Himmelsgunst, daß zwei Menschen sich gefunden hatten, die ganz zueinander paßten? Freude zur Freude, Helles zu Hellem?

Da wurde er traurig. Was war er für ein schwerblütiger Mensch, immer auf der Suche nach dem Trüben, ohne die Siegesgewißheit glücklicher Fügungen, immer voll Klagen und heimgesucht von vielen Schmerzen. Und die Lore, das Sonnenkind, das ewig lachende Mädchen, für die Fröhlichkeit und leichter Sinn nötig waren wie für ein Fischlein, das sprudelnde Wasser im Bach!

Er und sie könnten kein so glückliches Paar geben wie die beiden Alten. Ihre späten Tage würden keine jungen Liebeslieder kennen.

Der Brief knisterte in seiner Tasche.

Der, von dem er kam, war fröhlicher als er –

Sollte er den beiden das Glück gönnen, dadurch seine Liebe beweisen, daß er das schwerste, das einzige uneigennützige Liebesopfer brachte, den Verzicht?

Sein Herz schlug ein paarmal hoch auf, dann war der Gedanke vorbei.

Nein, er wollte sie haben!


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