Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Achtzehntes Kapitel

Von tausend Zweigen sang der Frühling junge Lieder.

Wandernde Bäche, wandernde Wolken, wandernder Wind.

In diesen Tagen wird dem Menschen sein Heim unlieb.

Er trennt sich gern von ihm wie von einem Bekannten, bei dem er zu lange zu Besuch war und dessen er überdrüssig geworden ist.

Der Wächter auf der Höhe stand noch kahl, aber an seinen Füßen blühten zwei Veilchen, auf die blickte der Wächter den ganzen Tag wie ein rauher Kriegsmann, der in zwei Kinderaugen sieht.

Er durfte ruhig träumen auf seinem Vorposten. Dem Wald, der hinter ihm sich dehnte, drohte jetzt kein Unheil. Da lagen brütende Vogelmütter auf bunten Eiern, und der Herzschlag alten Lebens einte sich mit dem Herzschlag werdender Wesen. Da gab es alle Tage neue Freude, neue Heimkehr, neues Wiederfinden.

Am Fuße des Wächters saß Robert Winter. Er hatte heute nichts zu tun. Hartmann hatte Feiertag angesetzt für sein ganzes Haus.

Die Lore hatte Hochzeit.

Gottlieb und die Christel waren hinein nach der Stadt. Außer den zweien würden bloß die Verwandten des Bräutigams, die sich in Anbetracht der Mitgift rasch beruhigt hatten, an der Hochzeit teilnehmen.

Sonst niemand. Vor allen Dingen er nicht, obwohl ihm die Lore einmal und der Bräutigam dreimal darum geschrieben hatte. Lores Brief hat er aufgehoben.

Am frühen Morgen hat es einen häßlichen Auftritt gegeben: Berthold hat seine Mutter schlagen wollen. Seit die Lore fort ist, ist der Bursche heimtückisch, trotzig, oft halb tobsüchtig.

Wandernde Bäche, wandernde Wolken, wandernder Wind.

Der Teich schimmert. Die Weiden tragen silberfarbene Kätzchen. Der blaue Himmel spiegelt sich in der Flut. Und die Lore ist drüben in der Stadt und hält Hochzeit. Robert Winter lehnt sich fest gegen den Stamm des Baumes.

Er sieht von fern den Gottlieb und die Christel kommen. Es ist jetzt vier Uhr nachmittags. Die Trauung ist am frühen Morgen gewesen. Und heute noch reist das junge Paar weit fort, denn Scholz hat sich versetzen lassen. Robert Winter erhebt sich und steigt den Hügel hinab. Er geht den beiden ruhig entgegen.

»Ist sie verheiratet?«

»Ja.«

»Und sie reisen noch heute fort?«

»Ja, Robert.«

»So ist es gut – gut, weil es aus ist!«

Sie gehen ein paar Schritte die Straße entlang, da sagt Gottlieb Peuker:

»Robert, viel können wir dir ja nich sein, aber ganz wirst du unsre Freundschaft nich verachten.« »Nein. Und deshalb bleib' ich hier. Wegen dir, Gottlieb, wegen Ihnen, Christel, und auch wegen Herrn Hartmann.«

Er reicht beiden die Hände, und sie gehen heim miteinander.

Zur selben Stunde fährt ein Eisenbahnzug hinaus in die Welt. Eine junge Frau steht am Fenster, und als sie in der Ferne den Kirchturm von Teichau auftauchen und verschwinden sieht, denkt sie in schwerem Herzeleid an den einen.

Wandernde Bäche, wandernde Wolken, wandernder Wind. Den ganzen Tag flogen schnelle Vögel durch die Luft, den ganzen Tag wiegten sich die Bäume im lauen Wind.

Nichts wollte rasten.

Die dicken Ackerpferde machten unbefohlene Versuche durchzugehen, die Kühe zerrten an ihren Ketten.

Dr. Friedlieb ging am Tage zwanzigmal zwecklos durchs Dorf.

Peterle Hübner sprang am Tage fünfzigmal zwecklos über einen Graben und verstauchte sich beim einundfünfzigsten Male den Fuß.

Die Scherwenken machte freiwillig das Fenster auf.

Der trunksüchtige Winkler-Maurer schlief fast regelmäßig im Freien.

Fräulein Jettel war einmal ohne Haube vor die Tür getreten.

Und die dicke Witwe schrieb an Steiner Liebesbriefe. Steiner aber antwortete nicht, denn er allein war in Trübsinn gefallen.

Und einmal, als bei Einbruch der Nacht der Frühlingswind fröhlich vor dem kleinen Bäckerhause sang und neckisch in den Schornstein fuhr bis in den Ofen, wo er mit einem Häuflein kalter Asche spielte, schritt Steiner durch die blühende Frühlingspracht, öffnete die Pforte des Bäckerhauses und rief in die Finsternis hinein: »Schulze, mach' Licht!«

»L'amico – der Steiner! 's is herrlich! Ich bin ooch schon da!«

Drei Männer saßen am erloschenen Backfeuer um den Schein einer Talgkerze und berieten über ihr Leben.

Der Italiener begann:

»Gurz und kut, ich gneif' aus! Testo scheener 's Wedder wird, testo weniger baßt mir mei padrone. Er ist ein krosser asino, und ich mag bei so'n verrückten Gerl nich bleiben. Die Leite in der Stadt gomm' zwar in unser Geschäft, aber se nähm' uns nich ernst. Heite hab' ich gegindigt, morgen gneif' ich aus.«

Schulze richtete seine lange, dünne Gestalt empor und sagte:

»Mit der Post is nischt los! Damals im Herbste hab' ich der Post den Gefallen getan und mich anstellen lassen. Mei nahrhaftes Gewerbe hab' ich aufgegeben, meine Kundschaft verloren, a ganzen Winter in dem Sauwetter Briefe und Pakete verschleppt, und nu, wo's Frühjahr kummt, wird der alte Briefträger wieder gesund, und mich sägen se einfach ab. Mir nischt, dir nischt, als wenn nischt gewesen wär', als wenn man nischt aufgegeben hätte! Aber so verfahren se mit a armen Leuten. Von heute ab bin ich Sozialdemokrat.«

»Schäm' dich,« sagte Steiner, der als früherer Unteroffizier solche Reden nicht liebte, »aber recht haste! Erst ziehste 's Glückslos, und nu sitzt de im Unglück. Aber mir geht's noch viel schlechter als euch. Grauen wird euch, wenn ich's euch sage. – Grauen! Die Jettel hat Salatpflanzen gesteckt.«

Er machte eine Pause und sah die Kameraden erwartungsvoll an. Die waren in Verlegenheit, denn es graute ihnen nicht.

»Grauen muß euch«, begann Steiner wieder. »Sie hat Salatpflanzen gesteckt, und weil die Spatzen kommen und die Salatpflanzen ausreißen, verlangt sie, ich soll mich mit meiner Tuba in den Garten stellen und die Spatzen fortblasen.«

»Puh! Cattivo! Als spauracchio! Als Vogelscheiche!« »Ja, als Vogelscheuche,« wiederholte Schulze entsetzt, »unser Chef!«

»Als Vogelscheuche, meine Herren«, sagte Steiner mit Nachdruck und erhob sich zu königlicher Haltung. »Ich, ich hab's ihr angestrichen. ›Gnädiges Fräulein‹ hab' ich gesagt, ›ich bin keine Vogelscheuche und ich möchte Ihnen nicht ins Handwerk pfuschen.‹«

»Magnifico! Splendido! Das haste bickfein g'sagt.«

»›Gnädiges Fräulein,‹« hab' ich gesagt, »›eineVogelscheuche ist kein Mann, ist niemals ein Künstler, eine Vogelscheuche ist immer ein gnädiges Fräulein.‹ Darauf hat sie mir gekündigt.«

»Terribile! Erscht beleidigen und dann ooch noch gindigen.«

Sie saßen am erloschenen Backfeuer und berieten über ihr Leben. Und da sie fanden, daß sie alle stellungslos seien, das Wetter schön, der Weg trocken sei, beschlossen sie ihr altes Leben wieder aufzunehmen, als Bettelmusikanten zu reisen wie früher.

Da wurden sie rot im Gesicht vor Freude. Da sprachen sie von fröhlicher Wanderung, von glücklicher Rast am blühenden Feldrain oder im schlummerstillen Walde, von einsamen Schenken und freundlichen Herbergen, von jungem, tanzlustigem Volk und klingendem Lohn.

Dann redeten sie von Robert Winter.

»Er geht nicht mit uns«, sagte Steiner betrübt.

Die anderen schwiegen, auch sie wußten bereits, daß sich ihnen Robert Winter nicht anschließen wollte.

»Wenn ich nur wüßte, warum«, sagte Steiner. »Er meint, er will nicht undankbar sein. Undankbar sind wir auch nicht. Wir haben einen Winter hier gelebt und unser Brot selbst verdient. Nun können wir ruhig weiterziehen. Anfangs dachte ich, es sei wegen des Mädels – wegen der Lore –. Aber die Lore ist fort. Sie hält ihn nicht mehr hier.«

»'s is noch eene andere ragazza da – die Christel«, meinte der Italiener.

Steiner schüttelte den Kopf.

»In puncto Christel habe ich mich getäuscht. Er liebt sie nich – trotz der wollenen Wäsche. Er wurde ganz fuchtig, als ich auf die Christel anspielte.«

»Wenn er fuchtig wird, dann liebt er sie«, sagte der Bäcker mit philosophischem Stirnrunzeln. »Denn Fuchtigkeit und Liebe sind immer beisammen. Aber ich glaube, es is mit ihm nischt zu machen. Schade! Er blies 'ne schöne Nummer.«

»Ja,« sagte Steiner, »er paßte zu uns. Und nu fehlt uns die Melodie, und Melodie müssen wir haben.«

»Da gann der Päcker die Melodie uff der Drombede plasen.«

Eine Melodie auf der Trompete is hart«, sagte der Kapellmeister. »Bei schmetternden Stücken is sie gut, aber bei den Liebesliedern tättert sie zu sehr. Da is Waldhorn besser. Vielleicht finden wir in einer Stadtherberge 'n Waldhornbläser. Unterdes behelfen wir uns mit der Trompete.«

Sie beschlossen, eine Probe zu machen, denn ihre Instrumente waren im Bäckerhause untergebracht.

So saßen die drei vor dem dunklen Backofen. Wo das kleine Licht sich spiegelte, schimmerten dunkle Goldfunken aus der Finsternis.

»Schlösser, die im Monde liegen«, kommandierte Steiner. Sie spielten einige Takte. Sie brachen ab. Sie bekamen Streit. Sie fingen noch einmal an, brachen wieder ab, bekamen noch einmal Streit.

»Bäcker, du bist gut für die Salatpflanzen!« schrie Steiner. Der Backer wollte eine heftige Antwort geben, aber eine aufgescheuchte Fledermaus, die in seinem Backofen geschlummert hatte, flog ihm an den Kopf, mahnte ihn an die ganze Unfruchtbarkeit seines bürgerlichen Berufes und mäßigte seinen Zorn.

»Blas du doch auf deiner Tuba die Melodie«, sagte er. »Melodie blasen is nich so einfach. Da muß man sich erst einrichten. Ich werd' schon üben. Wenn ihr beide im Walde schlafen werdet, stell' ich mich dazu und üb' Melodie.«

»O misericordia, wenn ich schlafen du, pläst er!« seufzte der Italiener.

Dann einigten sie sich auf den »Rixdorfer«. Der ging erheblich besser. Stellen, wo Schulze in der Melodie einige Unsicherheit zeigte, vertuschte Steiner durch die verdreifachte Wucht der Begleitung. So freuten sie sich am Schluß und bliesen den Rixdorfer da capo.

»Wartet, ihr verfluchten Kerle, ich werd' euch gleich den Takt schlagen!«

Dr. Friedlieb trat ein und fuchtelte mit seinem Spazierstock.

»Was soll denn das heißen?«

Die Musikanten brachen mit einer greulichen Dissonanz ab. »Wir – wir üben, Herr Doktor – weil uns das so – so Spaß macht.«

»Von – von wägen de Melodie – sähn Se –«

»Weil wir – weil wir gerade Zeit hatten!«

»Lüge! Auskneifen wollt ihr! Fortlaufen! Bummeln! Fechten!«

Sie sahen sich betreten an, sie hörten kaum etwas von der donnernden Strafpredigt, die ihnen der Doktor hielt. Steiner fühlte sich als Oberhaupt der Gesellschaft verpflichtet, deren Sache zu führen.

»Herr Doktor, die Musik liegt im Blute! So wie die Vöglein in den Bäumen singen müssen, so ist es auch bei uns.«

Dr. Friedlieb unterbrach rauh das poetische Bild.

»Quatschen Sie nich, Steiner, Sie dummes Schaf! Sie singen nich, Sie grunzen! Wenn ihr nich alle drei zu eurer Arbeit geht, zu eurer ehrlichen, seßhaften Arbeit, so laß ich euch einsperren!«

Nun sprachen sie alle drei zu gleicher Zeit, der Bäcker von seiner undankbaren Kundschaft und der noch undankbareren Postverwaltung, der Italiener von seinem ›padrone‹, bei dem er sich lächerlich fühle, Steiner von Sperlingen, Salatpflanzen und Fräulein Jettel.

Der Skandal wurde so groß, daß nun drei Fledermäuse herumschwirrten, das Talglicht umfiel und Dr. Friedlieb aus der wüsten Finsternis flüchtete, nachdem er den Musikanten in einer Flut strenger Worte befohlen hatte, sich am nächsten Mittag bei ihm zu melden.

Noch stand die Frühlingssonne nicht am Himmel, aber helles Rot flammte im Osten. Die Nebel der Nacht zerrannen auf den leuchtenden Feldern, und an den tausend Blüten des »Wächters« glitzerte der feine Tau.

Da standen die Musikanten oben auf der Höhe und jeder hatte in einem Tuch verhüllt sein Instrument unter dem Arme.

Sie standen zum Abschiednehmen da.

Sie lugten oft hinüber nach dem Friedliebschen Gehöft und wären rasch davongegangen, wenn sich dort die Pforte geöffnet hätte. Aber sie blieb geschlossen.

So stand ihnen der Weg in die Welt offen, und sie hatten das, was sie wünschten. Aber da sie nun den letzten Blick dahinunter warfen, wo sie viele Monate sicher und geborgen gewesen waren, war doch ein Abschiedsschmerz in ihnen.

»Es war ein gutes Dorf«, sagte Steiner. »Und ich werde an den Herrn Doktor ein'n Entschuldigungsbrief schreiben und an meine Witwe eine Ansichtskarte.«

»Die Küstermagd wird flennen – flennen wird sie«, sagte der Bäcker und wandte sich ab, weil ihm eine Träne langsam über die lange Nase lief.

»Addio mia bella Teichau, Addio, addio!
La tua soave imagine,
Chi mai, chi mai scordar potra«

summte der Italiener.

Der Morgenwind fuhr durch die Äste des Wächters und schüttelte den Musikanten weiße Blüten auf Schulter und Hut.

Da sahen sie Robert Winter den Hügel heraufkommen.

»Ich geh' ein Stückchen mit euch«, sagte er, als er anlangte.

Und sie verschwanden alle vier im Walde.

Als sie kaum hinter den ersten Stämmen waren, blieb Steiner stehen und sagte mit Herzlichkeit:

»Robert, ich bitt' dich, geh mit uns!«

»Geh mit uns«, baten die anderen.

»Ich kann nicht! Ich kann nicht fort von hier. Ich weiß selbst nicht warum.«

Sie gingen den Waldweg entlang, die Musikanten in stiller Trauer, Robert in schweren Kämpfen.

Die Vögel sangen so schön, der Morgen war so klar, die Welt so sonnig. Leichtes Marschieren war auf diesem grünen, freien Wege.

Da hinter ihm lag seines Lebens schwerste Not. Da vor ihm war Freiheit und Stille. Da hinten im Tale war das Weib, das ihn haßte, da lag viel hämische Anfeindung und viel kalte Gefühllosigkeit. Neben ihm gingen treue Kameraden.

»Geh mit uns, Robert!«

Die Höhe war erreicht. Der Weg führte bergab. Da blieb er stehen.

»Lebt wohl! Kommt wieder!«

Sie reichten ihm stumm die Hände und wandten sich zum Gehen.

Er sah ihnen nach mit traurigen Augen. Auch, als sie verschwunden waren, stand er immer noch an derselben Stelle, und in den Füßen zuckte es ihm, ihnen nachzueilen. Aber wie gehalten von einer fremden Macht blieb er stehen.

Da hörte er unten im Tale blasen:

»Ich hatt' einen Kameraden,
einen bessern findst du nit.«

Es war eine unbeholfene Musik, aber sie drang dem einsamen Manne auf der Höhe bis in die tiefste Seele.

Als die Musik verstummt war, wandte er sich mit bleichem Gesicht zur Heimkehr.

Er sah nichts von den Wundern im blühenden Frühlingswald – er hörte nichts von den jauchzenden Liedern der bunten Singer. Eine schwere Weise klang ihm im Herzen immer, immerfort:

»Ihn hat es weggerissen –«

Als er beim »Wächter« wieder ankam, war ein Verwundern in ihm, warum er die Kameraden habe allein reisen lassen, warum er zurückkehrte in das große Haus jenseits des bösen Teiches.

Er wußte nicht, daß sich hier sein Geschick erfüllen sollte, wußte von nichts anderem, das ihn zurückhielt, als von den zwei freundlichen Augen eines kranken Mannes.


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