Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Viertes Kapitel

Im großen kahlen Tanzsaal war für die Musikanten ein Strohlager bereitet. Jeder von ihnen hatte ein Federkopfkissen und eine wollene, dicke Decke.

Sonst schliefen sie immer bald ein, wenn sie nach langer Tageswanderung am Abend endlich die müden Glieder ausstrecken konnten. Heute wachten alle.

»'n merkwürdiger Mann, der Amtsvorsteher«, sagte Schulze, der Bäcker.

»Mein Lieber,« belehrte ihn Steiner, »Amtsvorsteher sind immer merkwürdig. Aber dieser ist sozusagen ein komischer Heiliger.«

»Cha, a is 'n gomischer Gerl,« meinte der Italiener, »aber er is 'n galantuorno; er wird mir 'n padrone besorgen, und ich geh in conditione bei 'n englischen Goofmann.«

Die drei andern wandten sich nach ihm um.

»Willst du denn wirklich, Pohl?« ,Ma sicuro!« rief dieser. »Nell' inverno bei 'n schlechten Wedder und Schnee un Eis geh ich in conditione bei 'n Engländer, und nella primavera, wenn die warme Sonne wieder scheint, gneif ich aus.«

»Das wär' unehrlich«, sagte Hellmich.

Die andern schwiegen. Der Wind trommelte an die Fenster des Tanzsaales, und alle hüllten sich fröstelnd in die Decken.

»Zwei Mark fünfundsiebzig haben wir heute eingenommen«, fing Schulze wieder an. »Das is sehr wenig für viere. Man möcht' wirklich sprechen, heutzutage is es besser, Handwerker oder Bauer zu sein als Musikus.«

»Das is übertrieben«, meinte Steiner. »Aber ich hab' 's Reißen und fürcht' mich vorm Winter auf der Straße. Sonst aber is es fein!«

»Zeßhaft müssen wir im Winter sein – zeßhaft«, sagte der Italiener.

»Das mit 'm Hellmich, das hat aber die Leute gegriffen«, meinte Schulze. »Warum bloß der Gastwirt am Ende so tälsch tat?«

»Vielleichte hatt' a een'n sitzen«, sagte Steiner. »Nu, das mit 'n Hellmich, das is ooch keene Kleenigkeit. Aber wenn man's richtig nimmt, am Ende hätte jeder, der auf der Straße rumzieht, 'ne rührende Geschichte zu erzählen. Aus Wohlleben und glücklichen Verhältnissen kommt keener.«

»Das is nich wahr«, sagte der Bäcker. »Da war ich beispielsweise amal – 's sind wohl an die zehn Jahre – in eener Kapelle mit eenem zusamm', der war adlig, 's war noch a junger Mensch, vielleicht fünfundzwanzig. Aber 'n richtiger ›von‹. Auf 'm Gymnasium hatt'n se 'n fortgejagt, weil a sein'n Mitschülern Geld gemaust hatte. Na, und a war überhaupt a Früchtel in allen Stücken. Sein Vater hat 'n ganz und gar verstoßen. Konnten wir ihm ooch eegentlich nich übelnehm'n. Was macht a? A red't uns eenes Tages ein, wir sollten doch amal nach dem Dorfe reesen, wo seine Eltern 'n Rittergut hatten, und vor ihrem Schlosse spielen. Na, das machten wir denn.«

»Das verrät keen'n sogenannten Takt«, warf Steiner dazwischen. »Solchen Leuten is das bloß peinlich, wenn der Sohn 'n Künstler geworden ist und vorm Schlosse spielt. Das hätt' ich in meiner Kapelle nich zugegeben! Was meinst du dazu, Hellmich?«

»War 'ne Gemeinheit!« sagte der junge Mann. »Wer erst Bettelmusikant geworden ist, hat sich von anständigen Leuten fernzuhalten.«

Da aber saßen die anderen drei sofort aufrecht und schimpften alle gleichzeitig auf Hellmich ein. Sie machten ihm heftige Vorwürfe. Er sei immer stolz und absonderlich gewesen und sei überhaupt ein trübsinniger Patron. Sie aber seien noch lange nicht unanständig und keine verworfenen Menschen, wenn sie auch nur arme Musikanten seien.

Hellmich ließ sie austoben, dann sagte er: »Ich weiß, daß ihr gute und ehrliche Kerle seid, und wenn ich's richtig sagen soll, so is mir bei euch wohler gewesen, als wie ich noch zu Hause war. Da haben sie mich's immer so spüren lassen – – und dann, da war ich immer aus Gnade und Barmherzigkeit gelitten, obwohl sie Nutzen aus mir zogen. Das war bei euch besser. Aber das muß ich euch sagen: eh' ich als armer, veracht'ter Musikante nach Hause zög', eher stürb' ich im ersten besten Straßengraben.«

Es entstand eine gedrückte Pause. Draußen rüttelte der Wind an den Obstbäumen im Garten. Von Zeit zu Zeit hörte man die abfallenden Früchte aufklatschen.

Endlich stieß der Italiener den Bäcker an und sagte: »Red' deutsch, du Esel!« sagte der verdrossen.

»Was is denn nu eigentlich aus dem ›von‹ und sein'm Eldernbaare weider geworden?«

Schulze, der ob der zweifachen Abkanzelung durch Steiner und Hellmich sehr verstimmt war, wollte anfangs nicht heraus mit der Sprache und entschloß sich erst nach vielem Zureden zur Fortsetzung seiner Geschichte.

»Wir reesten also ohne sogenannten Takt auf das Dorf zu, wo die Eltern von unserm adligen Kameraden wohnten. Unterwegs sagten wir ihm oft, es passe sich ganz und gar nich, daß er seine Leute so ärgern wollte, was sehr merkwürdig von uns war, da wir doch weder den feinfühligen Herrn Steiner noch den gelehrten Herrn Hellmich bei uns hatten. Also wie gesagt, wir redeten ihm ab. Und so blieb a ooch gut 'ne Meile entfernt alleene in eenem Straßenwirtshause zurücke und sagte, wir sollten ohne ihn blasen, und 'n Tag später wollt' a da und da mit uns wieder zusammentreffen. Wir reesten also alleene weiter, kamen in das Dorf und fanden bald das Schloß, das über die andern Häuser wegragte. Ich muß sagen, 's war uns ganz eegen zumute, wie wir das herrliche Schloß sahen, den schönen Park mit der hohen Mauer und die grünen Rasenflächen und die Veranda und die vielen Blumen, und wir wagten uns gar nich nahe ran und blieben draußen vor dem großen schmiedeeisernen Tore stehen und fingen an zu blasen. Ich weeß noch ganz gutt: »Wenn ich zu meinem Kinde geh', in seinem Aug' die Mutter seh« , das hatten wir ausgewählt. Wie wir nu kaum die erste Strophe fertig hatten, kam 'n alter Herr 'n Weg lang. Das heißt, sehr alt mocht' a noch nich sein, Anfang fünfzig, aber a hatte schneeweiße Haare. Wir dachten uns, es wird von unserm Kameraden der Papa sein. Da hab' ich für meinen Teil wirklich 'ne Art Zittern gekriegt und konnte kaum weiterblasen. Na, aber a war sehr freundlich und gab uns 'n Zweimarkstück. Aber wir sollten was anderes blasen, sagte er, nich das Lied. Wir sollten 'n Kriegsmarsch spielen. Na, da bliesen wir denn 'n Hohenfriedeberger, und dann 'n Pariser und dann, daß auch was Lustiges wär': ›Wie noch nie tanzt die Marie.‹ Der Herr war unterdessen ins Schloß zurückgegangen. Wie wir die Marie anstimmten, schickt a uns mit einem Diener noch 'n Paketel Zigarren raus und ließ uns sagen, er wär' jetzt schon befriedigt für sein Geld und wir möchten uns nur nich abhalten lassen und ruhig ins Dorf weiterziehen, 's war wirklich 'n sehr freundlicher Herr, und wie wir 'n Stückel weg waren, sagten wir uns: Gott sei Dank, daß der Sohn nich bei uns gewest war. Wir machten dann noch ganz gute Geschäfte und blieben in der Schloßbrauerei über Nacht, wo wir uns was Gutes leisteten. Wie wir nu aber schliefen – ooch in so einem großen Tanzsaal wie hier – geht mitten in der Nacht plötzlich die Türe auf, 'n Haufen Bauern kommt, der Schulze, der Gendarm, und eh' wir uns versehen, sind wir alle gepackt und gebunden. Wir waren des Todes erschrocken und fragten immer und immer, was wir denn eegentlich gemacht haben sollten. Der Schulze und der Gendarm gaben uns keene Antwort, aber die Bauern redeten so viel durcheinander, daß man sich nach und nach a Bild machen konnte. Unser Kamerad war bei seinen eigenen Eltern eingebrochen, hatte 'ne Menge Gold- und Silberzeug und ooch Bargeld gestohlen und war auf 'm Rückwege vom Schloßwächter erschossen worden. Man hatte seine Trompete im Garten gefunden, und nu dachten alle, wir wären beteiligt an dem Verbrechen. Das war wohl das Schrecklichste, was mir auf meiner Wanderschaft passiert is. Wir wurden nach 'm Schloß geführt. Auf dem Rasenplatze vorm Schlosse stand 'ne Menge Leute. Sie fluchten und drohten, als sie uns sahen. Laternen brannten und zwei oder drei Fackeln. Auf 'm Rasen lag unser Kamerad. Die Mütze war ihm vom Kopfe gefallen. Die langen, braunen Haare hingen um sein hübsches, junges Gesicht, und in der Schläfe war die Revolverkugel des polnischen Schloßwächters. Der alte Herr, der sein Vater war, trat auf uns zu. Er war kreideweiß, und er hob die Hände auf, als wollt' er auf uns einschlagen. Auf einem Stuhle saß eine alte Frau. Das war die Mama. Sie saß ganz stille und sagte keen Wort.

›Wie kommt er zu euch? Wie kommt er zu euch?‹ schrie der alte Herr. Die Kameraden brachten kein Wort raus vor Schreck. Da sagte ich:

›Gnädiger Herr, er is bloß acht Wochen bei uns gewest. Wir haben ihn halb verhungert an einem Straßenrande gefunden. Wir haben ihm die Trompete geborgt und zwei neue Hemden gekauft. Nu wollt' a hierher, wollt' hier mit blasen. Aber das haben wir ihm ausgered't. Da is a in Prausewitz zurückgeblieben im Schwarzen Adler, und morgen wollt a uns in Tornsdorf im Gerichtskretscham wiedertreffen. Wie a hierherkommt und was hier für a Unglück passiert is, davon haben wir keene Ahnung.‹

Er sah mich lange durch und durch an, dann sagte a zum Gendarm:

›Sie werden ja die Leute festhalten müssen, bis sich alles herausgestellt hat, aber ich glaube, sie sind unschuldig. Dafür kenn' ich diesen Lumpen – er zeigte auf den Toten – daß er das allein ausgeführt hat.‹

Dann wandte er sich an einen Diener und sagte: ›Hole mir Mantel und Hut und der gnädigen Frau Mantel und Hut und laß sofort anspannen. Dieses Haus betreten wir nie wieder.‹

Die Mäntel und die Hüte kamen. Die Fuhre fuhr vor. Da sagte er zu seiner Frau: ›Komm!‹

Er mußte sie aufreißen vom Stuhle, und sie konnte kaum gehen. Als sie fünf oder zehn Schritte fort war, machte sie sich los, kehrte wieder um, beugte sich über den Toten und machte ihm mit 'm Finger 'n Kreuzel auf die Stirn. Ihr Mann sah ihr finster zu, dann faßte er sie am Arm und zog sie fort. Und gleich darauf fuhr der Wagen ab. Die Bauersleute weinten und wir Musikanten auch. Wir sind dann vier Tage in Untersuchung gewest und dann freigelassen worden.«

Da schwiegen erst die Musikanten still, als sie diese Geschichte gehört hatten, dann sagte ein jeder seine Meinung und schickte dem Toten sein Urteilssprüchlein nach.

Nur Hellmich schwieg.

»Ehre Vater und Mutter!«

Wenn er als Kind das in der Schule hörte, verloren sich immer seine Blicke, und seine Seele ging in die Irre.

Als er zwölf Jahre alt war und alles wußte, hat er seinen Vater gehaßt.

Seine Mutter war keine Dirne gewesen. Ordentlich hat sie ausgesehen und ein schönes, gutes Gesicht gehabt. »Ein reines Gesicht«, hat ihm eine alte, gütige Frau gesagt, die sie im Sarge gesehen hatte.

Das war das, was seiner jungen Seele Halt gab.

Und darum hat er dem Unteroffizier gegenüber das Andenken seiner Mutter hochgehalten und verteidigt.

Aber der – der ihm das Leben gegeben und ihr das Leben genommen, der, nachdem er es getan, ins Dunkel zurückwich, daß niemand ihn sah, der keine Antwort gab auf das Todesrufen der Mutter und den Lebensschrei des Kindes, keine Hand ausstreckte zu einer kleinen Fürsorge – – Ihn haßte er!

Haßte ihn schon als Kind!

Wenn er andere Kinder »Vater« sagen hörte, wenn er sah, wie sich ein starker Mann liebreich oder freudig oder doch wenigstens aufrichtig zu seinem Kinde bekannte, dann sah er sich, der als ein kluger, aber trotziger Knabe galt, oftmals heimlich um, starrte in die leere Luft und fragte: »Wo bist du? Was versteckst du dich? Was bist du so feig'? Was bist du so geizig?«

Und als er auf der Festung war und Schande und Unfreiheit ihm die Seele drückten, da rief er ihn oft in seinem Herzen, wenn er schwer arbeitete oder auf rauhem Lager ruhte, dann zermarterte sich seine Phantasie, bis ein roher, feiger, schlechter Mann vor ihm erschien, und zu dieser Erscheinung sagte er »Vater« und ging mit ihr ins Gericht und kannte niemals Erbarmen.

Auch wie oft während seiner Musikantenzeit ist aus seinem Herzen ein Gedanke des Unsegens und des Hasses auf die Suche gegangen ins Ungewisse, den Mann zu finden, der alles verschuldet hatte. Aus elenden Herbergen, aus Schmutz und Kälte, schickte er ihm einen Fluch auf die wohlbesetzte Tafel, die weit irgendwo in der Fremde stand und keinen Platz hatte für den Sohn. Und auf den weiten einsamen Wegen, wenn die Kameraden stumm und verdrossen marschierten und keiner Lust hatte, ein Wort zu reden, suchte er ein Ziel, nach dem es sich lohne, durch kalte Lachen und aufgeweichten Morast zu wandern, und wollte nichts, als einmal an seines Vaters Tür landen, ihn herausrufen aus seinem feigen Hause, ihm mitten ins Gesicht schlagen: »Da – da – du – du – du Vater!« und dann befriedigt seiner Straße ziehen.

Es war nicht immer so. Er war ein weicher, scheuer Bursch. Furchtsamer als alle, ein Unrecht zu tun.

Aber er hatte die eine wunde Stelle. Und wer an sie rührte, den traf jede Waffe, die er fand.

Die Kameraden schliefen. Er hörte ihr tiefes Atmen.

Was sollte werden, wenn einer von ihnen hierblieb, wenn alle hierblieben? Der seltsame Doktor, der wohl ein guter Mensch war, hatte sie schon alle untergebracht.

Nur ihn nicht.

Der Gastwirt wollte ihn nicht behalten. Seine Arbeit begehrte niemand.

Da kam wieder der Groll.

»Ja, ja, mein lieber Vater! Dein Sohn steht wieder einmal ganz verlassen da. Die Kameraden lassen ihn im Stich. Er hat den Husten, er hat oft Stechen in der Brust, und es macht ihm keinen Spaß, als Bettelmann durch die Welt zu ziehen. Hast du kein Brot, keine Arbeit für ihn? Herr Vater, ich will dir eine Geschichte erzählen, die in der Heiligen Schrift steht.

Da sagte der Sohn, der all seine Güter verschwendet hatte: ›Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Halte mich wie einen deiner Tagelöhner.‹

Willst du? Willst du mich als einen Tagelöhner halten? Verstecke dich nicht! Ich kenne dich nicht, aber ich weiß, du hast Haus und Hof. Wärst du ein armer Mann, dann hättest du die Mutter behalten, denn ihr Gesicht war schön und gut und rein. Aber du bist reich und schlecht.

Ich habe keine Güter verschwendet. Ich hatte keine. Um all das, was ich habe, hast du mich betrogen. Und ich will auch nicht dein Tagelöhner sein! Ich würde dir deine Scheuer anzünden.«

Der Regen schlägt ans Fenster. Der Sturm pfeift. Dunkel, unheimlich liegt der große Saal.

»Wohnte in einem Schlosse! Hatte einen Vater, der ihn anerkannte, hatte eine Mutter. Eine lebende Mutter. Und wurde ein Bettler wie ich. Und wurde ein Dieb!«

Eine Stunde vergeht. Da fallen auch ihm die Augen zu. Leiser, immer leiser geht der Wind. Der Schmerz verrinnt, der Friede kommt. – – –

Da öffnet sich die Tür zum Tanzsaal.

Ein Mädchen erscheint mit leisem Schritt. Ein Dienstmädchen. Man sieht es an ihrem einfachen Kleide und der groben Schürze. Aber ihr Gesicht ist jung und schön.

Sie trägt ein Licht in der Hand, das setzt sie auf einen Stuhl. Dann kommt sie zu seiner Lagerstatt.

Sie läßt sich auf die Knie nieder, faßt ihn mit beiden Händen am Kopfe und küßt ihn ein ... zwei ... dreimal! Und jeder Kuß ist innig und dauert lange und ist durstig – heiß.

Dann schaut sie ihn an mit blauen, keuschen, unverdorbenen Augen, schaut ihn ernst und voller Sorge an.

»Zieh' weiter! – Zieh' fort von hier!« sagt sie und küßte ihn noch einmal.

Zuletzt macht sie mit ihrem Finger ein Kreuz auf die Stirn, löscht das Licht aus und ist fort.

Er aber hebt im Schlaf und Traum die Hände hoch und sagt laut: »Mutter – Mutter, ich liebe dich!«


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