Paul Keller
Der Sohn der Hagar
Paul Keller

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Drittes Kapitel

Eine schwermütige Nacht. Mit leisem Pfeifen zog der Herbstwind die dunkle, tote Dorfstraße hinunter. Hier und da nur, ganz vereinzelt, einmal ein erleuchtetes Fenster, wie ein glühendes Auge. Über den schwarzen Teich lief kalter Wellenschauer. Dichte Wolken bedeckten den Himmel. Dort, wo der Mond hinter dem Gewölk stand, war lichter Schein. Er hob sich unheimlich vom schwarzen Firmamente ab, als ob von Himmelsferne her in Licht und Schrecken ein Richter käme.

Öde, lautlos das ganze Dorf. Nur der Bach brauste, und ein paar Hunde bellten aufgeregt, als ob irgendwo ein Dieb schliche, irgendwo eine Gefahr einzöge in Dorf und Haus.

Die Tür zum Kretscham öffnete sich und schloß sich bald darauf. Zwei Männer waren herausgetreten – Gottlieb und Hartmann.

Sie blieben einen Augenblick wortlos stehen. Aber der Atem ging beiden schwer. Dann suchten die Augen des alten Knechtes die des Wirtes. In der Finsternis bohrten sich die Blicke ineinander.

»Hast 'n erkannt?«

»Gottlieb!«

»Schrei' nich! Komm in a Pferdestall!«

Sie gingen das Haus entlang und traten durch eine niedere Tür in den Stall. Die Pferde standen schläfrig an den Krippen; dunstige Wärme erfüllte den Raum. Gottlieb zündete die große Stallaterne an, die an der Wand hing. Scheu wandte er sich nach dem Wirt um. »Du weeßt, daß er's is?« Keuchend antwortete der Wirt:

»Ich kenn' ihn doch nich! – Ich weeß doch nich! Man kann sich doch irr'n!«

»A is es! Der Hellmich Marthas Sohn! A is, wie se leibte und lebte!«

»Gottlieb! Was soll denn da werden? Was will a denn? Was soll ich denn da machen?« Der Wirt schlug eine Hand über die Augen. Das Gesicht des alten Knechtes wurde hart und höhnisch. »Machen? Du? – Nu, loofen lassen! Loofen lassen, Hartmann! Das haste ja mit seiner Mutter ooch so gemacht.« »Willste mir Vorwürfe machen, jetzt, wo mir ohnehin so erbärmlich zumute is?«

»Vorwürfe? Ach nee! Du hust's ja recht schlau gemacht dazumal. Denn wenn ooch die Martha deine Liebste war, a sehr schmuckes braves Mädel, hübsch und unschuldig und unerfahren mit ihren achtzehn Jahr'n, gerade su recht geschaffen zum Verführ'«, sie war nu eenmal 'ne arme Magd, und 'ne Magd kunnte sich doch der reiche Gastwirtsuhn nich heiraten. Die kunnt' a eben, wie gesagt, bluß um a guten Namen bring'« und dann – loofen lassen.« »Gottlieb, mach' mich nich verrückt! Es ließ sich doch nich ändern. Mir hat's genug leid getan.« »Ach, leid getan? Ja ja, ich glob's schun, is alles, was sein kann. Leid getan! Die schmucke Martha war dir freilich lieber als die häßliche, dürre Müller-Anna. Leid getan! Aber die Müller-Anna hatte halt Geld. Na, und sie sagte: Eh' nich die Martha aus 'm Hause is, kumm ich nich als Frau in die Schenke. Siehste, und da haste halt der Martha gekündigt. Was will su a Mädel machen, wenn ihr gekündigt wird? Sie muß gehn. Gehn, ooch, wenn's so um se steht. Na, und se is gegangen, se hat keen Skandal gemacht, se hat keen Geld von dir verlangt – se is gegangen.«

Der Gastwirt ließ diese Anklagen in stummer Qual über sich ergehen.

»Aber ich! – Aber ich!«

Der alte Knecht setzte sich langsam auf einen Stallschemel. Wie mit sich selbst sprach er:

»Ich – ich bin ihr gutt gewest – ich hätt' se – hätt' se wie mein'n Augapfel gehalten – ich hätt' se ernährt mit mein'n zehn Fingern, so gut ich kunnte – Tag und Nacht hätt' ich arbeiten woll'n, mir die Hände zerschinden für sie –«

Er brach in bitterliches Schluchzen aus.

Erst nach einer Weile konnte er weitersprechen.

»Sie war – sie war dir zu gutt! Dir, der's nich verdiente! Noch als sie ging, hab' ich se gebeten. Ich hätt' mir nischt aus a Leuten gemacht, ich hätt' auch das Kindel mit groß gezogen. Suviel su a Kindel braucht, verdient sich am Ende ooch a armer Knecht noch. Aber se wullte nich – se hing an dir – und du jagtest se fort.«

Wieder eine Pause. Dann fuhr Gottlieb fort:

»'n Monat lang hatt' ich 'n Groll auf sie. Dann hielt ich's nich länger aus, ich ging ihr nach. Nach Liegnitz hatt' sie gewollt. Sich dort vermieten. Ich bin rüber nach Liegnitz. Ich hab' nach ihr gefragt, bei a Fleischern, Bäckern, bei a Koofleuten, in a Bäudeleien. 's wußte keen Mensch was von der Martha. Da bin ich wieder heem. Viel hundertmal bin ich bei a alten Hellmichleuten gewest und hab' gefragt, ob se nischt wüßten von ihrer Tochter. Sie flennten immer und wußten nischt. Und heute krieg' ich die erste Nachricht nach sechsundzwanzig Jahren! Gestorben, umgekommen in ihrer schweren Stunde – ohne Hilfe – auf freiem Felde!«

»Mir – mir wird schlecht!« sagte der Gastwirt und ging hinaus. Es dauerte lange, ehe er wieder hereinkam. Heiser sagte er:

»Das is nu alles vorbei! Das läßt sich nich mehr ändern. Aber was sull ich jetzt machen?«

Gottlieb Peuker sah ihn scharf an. Mit einer Stimme, die vor Aufregung bebte, sagte er:

»Ich dächte, das wär' klar! Dabehalten mußt 'n! Denn a is ebensu dein Kind wie der Berthold oder die Christel. Ebensu dein Kind!«

»Dabehalten – dabehalten kann ich 'n nich! Was würd' die Anna sagen?«

»Die Anna?– – – Du – du – du Memme du! Gell, wenn die arme Magd dran glauben muß, wenn se elendiglicher umkommt wie a Stickel Vieh, das tut nischt – aber die Froo –die Froo – das war' ja schrecklich, wenn die sich amal a bissel ärgerte oder uffregte.«

»Red' nich so! Ich kann doch nich – ich in meiner Stellung hier im Dorfe – a hat vier Jahre Festung gehabt – a kummt mit Stromern und Bettelvolk an –«

»Und wer is denn schuld?« schrie Gottlieb. »Hast du's nich auf 'm Gewissen? Die vier Jahre Festung, und daß a mit a Musikanten zieht, und alles? Hartmann, wenn du diesmal wieder niederträchtig bist, da stell' ich mich uff die Straße und schrei's allen Leuten ins Gesichte, was du für a Ehrenmann bist.«

»Das tuste nich, wo du dein ganzes Leben lang in meinem Hause gewesen bist.«

»Das tu' ich, so wahr ich vor dir steh'! Ich bin in deinem Hause mei Leben lang gewest – stimmt! Aber ich hab' mir ooch mei Leben lang mei Brot ehrlich und sauer verdient. Und 'ne neue Schufterei geb' ich nich zu.«

Hartmann lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen.

»Nu, da tu's halt! Mach' mich schlecht! Stör' mir a eh'lichen Frieden.«

Gottlieb lachte.

»Eh'lichen Frieden is gutt gesagt! Wenn du dein ewiges Unterbucken eh'lichen Frieden nennst –«

»Die Frau hat ihre Rechte.«

»Ja, mir scheint bloß die Frau, sonst niemand, du nich und sonst keen Mensch.«

»Ich bring's nich über mich! Was sollten ooch die Leute sagen, wo ich Schulze bin und Kirchvorsteher und wu man selber Familie hat.«

»Nu, da sind wir eegentlich fertig, Wilhelm. Da tu du, was du willst, und ich tu, was ich will.«

Gottlieb wandte sich nach der Tür.

»Gottlieb, du wirst doch nich –«

»Ja, ich werd'! Erst sag' ich's dem Musikanten, dann sag' ich's a alten Hellmichleuten, seinen Grußeltern, dann sag' ich's deiner Froo, und dann bind' ich mir mei Päcksel zusamm'n und geh.«

Dem Wirt brach der Angstschweiß aus.

»Gottlieb, bleib' doch! – Ich will ja – Sieh amal, wir könnten mit ihm reden – ich könnt' ihm zehn Taler oder dreißig Taler mitgeben –«

»Mach' dich nich zu nobel, Wilhelm! Die Froo kriegte es doch raus, denn sie zählt dir doch´s Geld nach. Gib dir keene Mühe! Ich hab' keen Erbarmen. Mit der Martha hat ooch niemand Erbarmen gehabt.«

»Gottlieb, su a alter Freind!«

»'s is aus mit der Freindschaft. Bis morgen früh haste noch Bedenkzeit. Wenn du dann noch nich vernünftig geworden bist, da weißte, was ich mache.«

Er ging. Hartmann setzte sich auf die Haferkiste und grub das Gesicht in die Hände. So saß er lange. Dann löschte er die Stallaterne aus und schlich hinaus. Dr. Friedlieb ging gerade die Straße hinab. Wenn der's erführe! Der würde erst recht verlangen, daß er den Musikanten dabehalte. Er verlangte es ja ohnehin schon. Die Frau, die Frau! Und die Leute!

Wie finster es war! Aber das kleine Holztürchen, das den Feldweg abschloß, auf dem man zum Bahnhof geht, das sah er doch. Dort hatte sie sich zum letztenmal umgesehen, damals, als sie ging.

Das Türchen! Es war noch dasselbe. Wurmstichig und alt war es geworden. Es wimmerte, wenn man es öffnete. Jetzt rüttelte der Nachtwind daran. Wie fest er einherging auf dem Feldwege.

Alte Erinnerungen standen auf in Hartmanns Herzen. In düsteren Nächten lebte immer die Furcht in diesem unmutigen Mann. Und wie alle Schwachen liebte er das Grausige, suchte es in alten, zerlesenen Gespenster- und Geisterbüchern.

Jetzt auch packte ihn das kraftlose Entsetzen, das keine Flucht gönnt, als er den dunklen Feldweg hinausblickte. Und plötzlich fuhr er zusammen und lehnte sich in erbärmlichem Zustand an einen Baum.

Der Wind hatte die alte Tür zerschmettert.

Mit einem Ächzen, dann mit einem Krachen war sie zusammengebrochen.

Offen stand das Tor, und etwas Eisiges, Unkörperliches kam über die Straße auf das Haus zu.

Hartmann setzte sich auf die kleine Bank, die unter dem Baum stand. Er war nicht imstande, ins Haus hineinzugehen. Und doch schüttelten ihn Frost und Grauen.– – –

Weit über Berg und Tal lag ein herbstliches Feld. Braun und verdorrt Gras und Blume am Rain, und zwischen den fahlen Stoppeln lagen verlorene Weizenähren.

Da ging eine arme Seele mit nackten Füßen über scharfe Stoppeln. Ging mit wehen Augen und geöffneten Lippen. Und sang ein Lied der Sehnsucht und der Schmerzen. Sie suchte nach einem Kinde.

Dort am Wegrand war ein blaßrotes Leuchten. Das war ein Fleck von mütterlichem Blut. Dort am Wegrand ging im Nachtwind eine Klage um blühende Jugend und ein leises Kinderweinen.

Aber das Kind war fort.

Und die arme Seele ging mit nackten Füßen über die scharfen Stoppeln.

Am schwarzen Nachthimmel stand hinter düsterem Gewölk der Mond. Der weiße Schein hob sich groß, fremd und furchtbar ab, als ob von Himmelsferne her in Licht und Schrecken ein Richter käme.

Da schaut die Seele dort hinauf in ihrem sehnsüchtigen Schmerz. Sie fleht nicht um Rache, sie fleht um Gnade. Um das Kind!

Eine Wolke teilt sich und eine große, weiße, strahlende Hand zeigt nach Osten.

Siehe, sie wandert. Geht über Berge und Täler. Bleibt fern den friedlichen Wohnungen. Aber wenn sie unvermutet eine dunkle Hütte streift, dann weint sie, wenn sie drinnen in der Hütte ein Kindlein lachen hört im Traum. Es ist nicht ihr Kind.

Und die Hand am Himmel verschwindet, strahlt wieder auf und zeigt immer gen Ost.

Da weiß sie, daß es nach Hause geht.

Und sie schaut auf ihre nackten Füße und schämt sich vor den Eltern.

Aber die Hand zeigt dorthin, und sie geht. Denn über die Eltern ist das Kind.

Der Feldweg kommt. Der Sturm steigt vom Himmel herab. Er fegt Staub, dürres Laub und welke Zweige von ihrem Pfad, und geht weich auf dem Herbstgras. Der Sturm reißt die alte Pforte ein.

Und sie ist da, wo sie Mutter wurde.

Den einsamen Mann unter dem herbstlichen Baum faßt eine Hand an. Eine schwarze Frauengestalt steht vor seinen im Schreck geöffneten Augen.

Er schreit nicht. Er zuckt kaum zusammen. Seine Glieder sind steif, und über die Zunge rollt nur ein schweres Lallen. »Ich bin es, Vater! – Christel!« Da sie sich zu ihm setzen will, will er aufstehen. Aber dann sieht er sie scheu an, erkennt sie und bleibt sitzen. Er schämt sich und wendet den Kopf zur Seite.

Sie sagt anfangs gar nichts. Dann legt sie sachte die Hand auf seine Schulter.

»Quäl' dich nicht, Vater ... behalt' ihn da!«

Ganz langsam wendet er sich um und schaut sie erschrocken und fragend an.

Sie blickt ihm offen in die Augen und faßt seine Hand. »Ich weiß, daß er mein Bruder ist«, sagte sie schlicht und ruhig.

Es gehen zwei Sterne auf am Himmel. Sie glänzen wie zwei Augen hinter fernen Schleiern und schauen aus hoher Weite.

Er findet kein Wort. Sie streicht ihm sanft über die Hand. »Vor mir brauchst du dich ja nicht zu scheuen. Wir haben ja immer alles miteinander besprochen, wenn etwas war.«

Da fragt er endlich mit matter Stimme: »Woher weißt du's?«

Sie erzählt ihm kurz, was sie aufgefangen hat von seinem Jugendschicksal aus halben Worten und bösen Scherzen der Dorfleute in all den Jahren.

»Und als sich der Fremde Hellmich nannte und als ich sah, wie ihr beide, du und Gottlieb, vor seinem Namen und seinem Gesicht erschraket, da wußte ich's.«

Sie ist klüger und besser als alle, das weiß er längst. Auch jetzt ist er nicht unglücklich, daß sie's weiß. Es ist ihm eher eine Gewähr für einen guten Ausgang. Aber sein feiger Sinn findet in diesem Augenblick kein besseres Wort als: »Du wirst mich nicht verraten.«

»Nein!«

Sie schweigen eine Weile, dann sagt er: »Die Mutter darf nie etwas davon hören, nie, nie!«

»Nein!«

Wieder eine Pause. Dann fährt er fort: »Gottlieb will mich morgen verraten, wenn ich ihn nicht behalte. Und ich weiß nicht, wie ich's machen soll.«

»Ich werd' dir's sagen. Ich hab' mir's überlegt. Es wird alles ganz gut gehen. Und jetzt komm in die Stube. Es ist kalt hier. Drinnen ist niemand mehr. Da können wir mitsammen reden.«

Sie erhebt sich, und er folgt ihr schwerfällig.

Die zwei weißen Sterne flimmern auf Augenblicke klar und freundlich auf.

Vor der Tür faßt er sie am Arm: »Christel, du bist gut! Wünsch' dir zu Weihnachten, was du willst, ich werd' dir's schenken.«

Sie lächelt müde und traurig, aber sie nickt mit dem Kopfe.

Da besinnt er sich, noch ehe sie ins Haus treten, auf ein Besseres, faßt die Hand seiner Tochter und küßt sie.


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