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Es war morgens gegen drei Uhr. In toter Ruhe lag das Dorf. Gottlieb Peuker trat seine letzte Runde an.
Da sah er eine dunkle Gestalt regungslos am Bachrande stehen. Die Gestalt rührte sich nicht, als Gottlieb näher kam. Er rief sie an. Keine Antwort. Fest faßte Gottlieb seinen alten Wächterspieß und ging auf die Gestalt zu. Da erkannte er Robert.
»Du – Robert? Wo kommst'n du jetzt her? Was machste denn so spät auf der Straße?«
Robert antwortete mit müder, schwerer Stimme, die einen ganz fremden Klang hatte:
»Wo soll ich hin? Wo soll ich schlafen?«
»Kannste denn nich ins Haus? Haben sie dir nich'n Schlüssel rausgelegt? Das sieht ihnen ähnlich! Wenn der Berthold ausbleibt, da hängt die Frau selber'n Schlüssel raus.«
»Ich mag nicht mehr in das Haus«, sagte Robert düster.
»Du magst nich mehr?«
»Nein! Gottlieb, du weißt's ja nicht. Es ist – es ist ein schweres Unglück –«
»Was – was denn?«
»Der Mann – der Hartmann – ist mein Vater!«
»Robert!«
Dem alten Manne zitterten die Glieder.
»Wer – wer hat dir das gesagt?«
»Gott!«
Unheimlich klang das Wort durch die Nacht. Kraftlos lehnte sich Gottlieb Peuker an einen Baum.
»Du redest irre, Robert.«
»Gott hat es mir gesagt. In der Bibel der alten Hellmichleute steht's!«
Dem Wächter fiel die Laterne zu Boden und erlosch. Die beiden Männer standen in der Dunkelheit.
»Du hast es gehört, Gottlieb, du bist mein Freund, du wirst mich nicht verraten, du wirst es ihm nie sagen. Morgen geh ich fort; denn ich kann mich an ihm nicht rächen.«
»Du darfst nich fort, Robert – – er weiß es ja längst.«
Da kam Robert lauernd auf ihn zu und sah ihm entsetzt ins Gesicht.
»Was weiß er?«
Gottlieb hob bittend die Hände auf.
»Hartmann weiß es, die Christel und Dr. Friedlieb und ich.«
»Seit wann wißt ihr's?«
»Von – von Anfang an, von dem Tage an, wo du herkamst.«
Da lachte Robert Winter grell auf, daß es durch die Nacht schallte, und lachte dann leise und sprach immer weiter lachend:
»O – o – ihr guten, guten, guten Freunde! Ihr guten, lieben, treuen Schwindler ihr! Ihr braven, lieben Heuchler und Betrüger! Das – das ist ja herrlich von euch! Das ist herrlich, herrlich, herrlich!«
Und er lachte wieder schrill und streckte die Hände über den Kopf und lachte.
»Robert, nimm Vernunft an! Laß dir alles erklären.«
»Scher' dich zum Teufel mit deinen Erklärungen! Wer mich so belügt und verrät, wer mich in so einem Hause läßt wie einen Knecht, wie einen Bettler, wie einen aus Gnade angenommenen Stromer, wer mir da nicht sagt: »Geh fort! Geh fort!« – der – der ist mein Feind, mein großer Feind, mein Todfeind!«
Da trat Gottlieb Peuker fest vor ihn und sagte:
»Jetzt hörst du auf mit solchen Verrücktheiten! Das laß ich mir nich gefallen! Wir haben's gut gemeint mit dir, wir wollten dich nich auf der Straße lassen, wir wollten dich halten, wir dachten: Kommt Zeit, kommt Rat. Es wird sich schon a Ausweg finden, dachten wir. Aber übers Knie brechen läßt sich's nich. 'ne Ehrenpforte konnten wir dir nich gleich bauen. Wir mußten abwarten. Und schlecht hast du's nich gehabt. Die, die's wußten, haben zu dir gehalten: die Christel vom ersten Tage an – auch der Hartmann – und am Ende ich auch – der Doktor weiß es erst a paar Wochen, und sonst weiß es niemand.«
Robert stand ganz still da, der Kopf hing ihm auf die Brust. Er gab keine Antwort.
»Hörst du, Robert, das mußt du zugeben, daß wir's gut meinten, daß wir uns eben keinen andern Rat wußten –«
Keine Antwort.
»Du mußt dir auch Hartmanns Lage bedenken. Vorderhand konnte er nich mehr tun.«
Da blickte Robert auf.
»Nein! – A hat ja leider – leider viel zu viel getan. Nun kann ich mich an ihm nicht rächen. A hat mich a paar Monate bei sich arbeiten lassen, a hat mir'n Anzug gekauft – a is, a paarmal freundlich gewesen – da is alles, alles, was vorher war, ausgelöscht – der Tod, von der Mutter und alles.«
Die Arme hingen ihm schlaff herab.
»Robert, a hat mehr getan! A hat dir in meiner Gegenwart in seinem Testament fünftausend Taler vermacht.«
Robert lachte wieder in leisem Erstaunen.
»Fünftausend Taler! Das is viel Geld! Das is dafür, daß die Mutter so starb – und daß ich so rumlief – und nu werd' ich wohl die Schwindsucht kriegen. Die Schwindsucht und fünftausend Taler! Damit soll ich zufrieden sein!«
»Robert, a hat dir auch die Lotte verschaffen woll'n.«
»Das is – das is wahr! Daran hab' ich heute nich gedacht. Das ist wahr! Das hat a gewollt!«
»Und wir andern auch. Wir wollten gut machen, was noch gutzumachen war.«
Robert sah ihn an.
»Nu dann – dann sei nur nich böse auf mich! Da hab' nur vielen schönen Dank! Da nimm's nur nich übel!«
»Willst du dir nich alles vernünftig überlegen, Robert?«
»Ja, du! A Mensch wie ich, der hat keine vernünftige Überlegung mehr. Ich – ich weiß gar nichts. Ich weiß nich, ob ihr gute Leute seid oder Schufte. Ich weiß nichts! Jedenfalls – jedenfalls bin ich schuld. Ich versteh's nich, ich bin schlecht, ich bin dumm, ich mach' alles falsch.«
»Robert, komm nach Hause! Leg' dich schlafen! Wenn du dich ausgeschlafen hast, da werden wir alles miteinander besprechen.«
Er schlang den Arm um den jungen Mann und führte ihn zum Kretscham. Durch die Hintertür ließ er ihn ins Haus. Auf dem Wege hatte er ihm unter vielen Tränen die Geschichte seiner Mutter erzählt.
* * *
Eine scharfe Hand klopfte an Roberts Kammer. Es war morgens sechs Uhr.
»Stehn Sie nu endlich auf? Komm'n Sie nu endlich runter zur Arbeit?«
Robert, der völlig angezogen auf dem Bettrand saß, öffnete die Tür.
Frau Hartmann stand draußen.
»Es wird wohl endlich Zeit sein, daß Sie aufstehn«, sagte sie herrisch.
»Aufstehn brauch' ich nicht. Ich bin noch nicht schlafen gegangen.«
»Nu, das is ja recht hübsch. Da kann man sich ja auf seine Dienstleute verlassen, wenn sie sich die ganze Nacht rumtreiben.«
»Berthold treibt sich auch rum! Viel, viel öfter als ich!«
»Das geht Sie gar nichts an! Der is der Sohn! Da haben Sie nich reinzureden!«
»Ich bin auch der Sohn!«
Er sagte es mit Bedeutung.
Sie wich von der Tür zurück und starrte ihn entgeistert an.
»Sie sind wohl verrückt?«
»Ich bin der Sohn von Wilhelm Hartmann und von Martha Hellmich!« sagte er langsam und herausfordernd. Da taumelte sie, kam in die Kammer herein und sank auf den einzigen Stuhl, den der kleine Raum aufwies.
»Wer hat Ihnen das gesagt?« keuchte sie.
Und wieder sagte er das eine Wort, ernst und feierlich: »Gott!«
Sie lachte höhnisch und sprang auf.
»Nein, nein, nein! Ich kenn' Sie! Ich durchschaue Sie! Ich kenn' Sie längst! Ich bin nich so dumm! Ich hab' das Manöver vom Gottlieb und vom Doktor durchschaut. Ich wußt' es längst. Ich kenn' doch diese Larve! Wer weiß, wo Sie's gehört haben! Und da sind Sie gekommen als Stromer, als Strolch –«
Er hob die Hände gegen sie, aber er beherrschte sich noch.
»Als Bummler! Haben sich eingeschlichen ins Haus, absichtlich eingeschlichen –«
»Halten Sie den Mund! Das ist nicht wahr! Das is Lüge! Ich hab' nichts gewußt – nichts gewußt!«
Sie lachte höhnisch auf.
»Bei allen heiligen Eiden, ich hab' nichts gewußt, ich hab' nichts gewußt!«
Sie flüchtete nach der Tür. Sie wagte nicht mehr zu lachen. Sie grinste nur. Mit verzerrtem Gesicht stand Robert vor ihr.
»Gehen Sie doch!« knirschte sie. »Sagen Sie's ihm! Bringen Sie ihn um! Dann rührt ihn der Schlag!«
»Ich brauch's ihm nicht zu sagen. Er weiß es!«
»Er weiß es? O, er weiß es? Und behält Sie und Sie gehn ihm um den Bart, schmeicheln sich ein – wegen der Erbschaft –«
»Frauenzimmer!«
»Ein Frauenzimmer war Ihre Mutter!«
Ein Wutschrei. Er faßte sie an den Händen, beugt ihr die Gelenke. Sie sinkt ächzend in die Knie.
»Widerrufen Sie das?«
Sie ächzt, windet sich, wimmert, will um Hilfe schreien, aber der Atem fehlt ihr. Ihm laufen die Augen rot an.
»Ein Frauenzimmer sind Sie! Sie haben um Geld meinem Vater das Gewissen und die Freiheit abgekauft. Sie haben um Ihr schmutziges, verfluchtes Geld meiner Mutter den Tod und mir die Schande und den Verderb gekauft. Sie haben sich den Mann gekauft! Den Mann und Ihre Kinder haben Sie sich gekauft! Das Ehebett haben Sie sich gekauft. Sie – Sie Frauenzimmer! Denn Sie wußten, er wollte Sie nicht, er liebte Sie nicht, er läßt sich bloß bezahlen. Erschachert haben Sie sich ihn! Sie elendes, elendes Weib! Meine Mutter hat verbluten müssen, und Sie – Sie schlechtes, schlechtes, schlechtes –«
Er schlug in wahnsinniger Wut auf sie ein, prügelte sie, verfluchte sie und hörte nicht auf, bis ein blutiger Schaum vor seinem Munde stand.
Da taumelte er und sank auf sein Bett.
Sie blieb eine Weile wimmernd knien. Dann stand sie halb bewußtlos auf, sah ihren Feind liegen mit dem blutigen Schaum vor dem Munde und ging hinaus.
Lange lag er so. Dann ging sein Atem ruhiger. Er richtete sich auf. Sein Gesicht war totenblaß.
Mühsam besann er sich.
Von allem, was er erlebt, stand nur das eine deutlich vor seiner Seele, die Roheit gegen eine Frau.
Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.
Geschlagen hatte er sie!
Gemißhandelt!
War das möglich? Er hatte noch nie in seinem Leben einen Menschen geschlagen.
Nur den Unteroffizier und diese Frau.
Die Beleidiger seiner Mutter!
Ob er wohl wieder eingesperrt wurde? Es war schon möglich, und es war ja auch ganz gleichgültig. Aber er wollte nicht darauf warten, er wollte fort.
In dieses Haus gehörte er nicht mehr! Das war zur Hälfte bezahlt mit dem Gelde der Frau, die er geschlagen hatte.
Gottlieb fiel ihm noch einmal ein, auch die Christel und der Doktor.
Die wußten alle, wer er war.
Was nutzte ihm das? Zur Christel konnte er nie mehr gehen. Er hatte ihre Mutter geschlagen. Und er mochte sich auch als Bruder nicht aufdrängen.
Aber wie er an die stille Frau dachte, die seine Schwester war, sank er in sich zusammen und weinte.
Sein Körper zitterte. Er war maßlos müde. Sein Hirn war nach der Überhitzung nun wie gelähmt. Mit überwachten, glasigen Augen starrte er vor sich hin.
Das eine nur wußte er: er mußte fort. Und er mußte alles, was er hier an Almosen empfangen hatte, dalassen. So suchte er aus dem Kleiderschranke den Anzug heraus, den er getragen hatte, als er hierherkam. Zog die alten Stiefel an.
Und er suchte sein Waldhorn.
Mit stumpfen Sinnen starrte er auf das erblindete Instrument. Damit sollte er sich nun durchs Leben helfen.
Aber es würde gut sein in weiter Ferne!
So trat er leise aus seiner Kammer und ging die Stiege hinab. An der Tür, dahinter sein Vater lag, versagte ihm noch einmal die Kraft.
Eine schmerzhafte Begierde überkam ihn, hineinzugehen, vor ihm niederzuknien und bitterlich zu weinen aus Haß, Rachsucht und – Dankbarkeit und Liebe.
Er ging auf die Tür zu, faßte nach der Klinke. Aber noch ehe er die Tür öffnete, sah er den alten Mann, krank und hilflos, den Mann, von dem der Doktor sagte, eine Aufregung würde ihn töten.
Da sah er die braune Holztür noch einmal mit heißen Augen an, stieg die zweite Stiege hinab, kam in den Hausflur, öffnete die Haustür und trat hinaus aus seines Vaters Hause. Niemand begegnete ihm.
Er dachte nicht mehr an Gottlieb Peuker, nicht mehr an Christel und Dr. Friedlieb. Wie ein Geistesabwesender ging er die neblige Dorfstraße hinab.
Doch ehe Robert in das Haus seiner Großeltern trat, besann er sich. Diesen lieben, alten Leuten wollte er seine Kämpfe, sein Elend nicht in die Hütte tragen.
Er richtete sich auf, raffte sich zusammen, versuchte ruhig zu sein.
Sie kamen ihm in schwer erregter Liebe entgegen.
Er sagte ihnen:
»Ich mag in jenem Hause nicht bleiben. Es ist wegen der Frau, wegen Berthold und auch – auch wegen meines Vaters. Es wäre eine große Schande für mich, wenn ich bliebe.«
Sie hörten ihn an und hatten Tränen im Auge. Aber sie begriffen ihn. Und er sagte:
»Ich will fort in die Welt!«
Da klammerten sie sich an ihn in ihres Alters Einsamkeit und wollten ihn nimmermehr fortlassen. Aber er redete ihnen begütigend zu:
»Wir können nicht hierbleiben, nicht in diesem Dorfe, wo es bald alle Leute wissen werden. Laßt mich gehen! Ich werd' ein Plätzchen suchen für uns, da werden wir wohnen können.«
Da sahen sich die alten Augen um im alten Heim.
Und sie fragten: Wie können wir fort? Wie können unsre alten Tage noch fortwandern an einen andern Ort, in eine neue Welt?
Aber sie sahen seinen schweren Kampf. Und wie er sie bittend anschaute, sah aus seinen Augen das Bild der unvergessenen Tochter. Und sie wußten: bei dem Enkelsohne ist unser Ort.
So willigten sie ein.
Einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag blieb er bei ihnen. Sie waren voll Liebe zueinander, und auf drei dunkle Menschenleben fiel in diesen Stunden viel goldener Schein.
Ein guter Engel verschloß Roberts Mund, daß er den alten Eltern von dem grausamen Tode der Tochter nichts sagte. So blieben sie frei von diesem schrecklichen Leide. Stillschweigend nahmen sie an, die Tochter sei in den Armen der guten Frau, die ihr reines Gesicht gepriesen hatte, gestorben.
Und die Hellmichmutter segnete das Andenken jener Frau. Um Abend des zweiten Tages machte sich Robert reisefertig. Der alte Hellmich gab ihm zweihundert Taler mit auf den Weg. Das waren ersparte Groschen, aber Robert nahm sie mit dem Gefühl der Dankbarkeit und Sicherheit. Denn es war ein Erbteil, das ihm zukam, kein Almosen. Von diesem Gelde hat er die kleine Schuldsumme abgezahlt, die er bei Dr. Friedlieb hatte. Er wußte nicht, daß er damit ein Unrecht beging. Er wollte keinen Pfennig aus dem Hause, das ihn nicht anerkannt hatte. In trüber Abendstunde verließ er das Dorf.
Nach der Waldschenke reiste er. Dort wartete er eine Woche und fünf Tage, bis seine Kameraden kamen.
Die alten Hellmichleute saßen allein an ihrem Tische, über dem die gelbe Lampe schien.
Lange, lange hatten sie sich nicht allein gefühlt.
Nun saß die Sehnsucht bei ihnen.
Die Mutter weinte viel, aber der Vater schlang den Arm um ihren Nacken und tröstete sie.
»Mutter, sei gut! Unser Herrgott lebt noch! Der hat die Hagar nicht verlassen und nicht ihren Sohn Ismael. Sei gut, Mutter, wir sind bald wieder bei ihm!«
Und sie tröstete sich, und die Alten wurden wieder ruhig und wurden wieder friedlich. Ja, manchmal lachten sie wieder.
Nur wenn der Briefträger kam, überfiel sie eine Unruhe. Denn sie warteten.