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Als der Michael Hely auf manchem Kreuz- und Querzug landauf, landab seine Siebe verkauft hatte, lenkte er seine Schritte wieder den heimischen Bergen zu in der Absicht, diese nie mehr zu verlassen. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen, er hoffte nichts mehr und fürchtete nichts mehr. Wendstimmung lag über seinem Herzen ebenso wie über den Gefilden, als er von der Höhe des Stallenkandels niederstieg und in das Tal hineinschaute, in welchem die Häuserreihe von Waldmichelbach lang hingestreckt liegt.
Der erste Blick belehrte ihn, daß sich die Physiognomie des Dorfes geändert hatte. Da stand er nun, der alte Recke aus der Zeit der Bauernkriege, seines Helmes beraubt und sah trübselig nieder auf das Volk der Pygmäen, das sich ohne Wall und Ringmauer in seinen Hütten sicher fühlte und die Pflicht vergaß, dankbar zu sein für geleistete Hilfe. An den Mauern des Turmes nagte schon das Brecheisen, und die zwischen den Schallöchern und Fensteröffnungen stehen gebliebenen Reste glichen der morschen Zahnreihe eines aus dem Grabe geschleuderten Unterkiefers. Auf den losgewühlten Steinen sah man im Dämmerschein der Sternennacht die ihres Nestes beraubten Eulen sitzen und darüber nachdenken, wo sie ein ruhiges Plätzchen finden könnten, um darauf ihr neues Haus zu bauen.
Sie hörten, daß unten im rostigen Schloß sich ein Schlüssel drehte, wurden unruhig und umschwebten mit scheuem Flügelschlag die gespenstigen Mauern. Bald aber setzten sie sich wieder, denn der Mann, der jetzt mit ihnen den Turm bewohnte, war ein stiller Hausgenosse und genierte sie nicht weiter. So sah sie der Michael Hely sitzen, die Köpfe zusammenstrecken und leise miteinander tuscheln, als er bereits in seinem Bette lag. Das Seil der großen Glocke nahm seinen Weg durch ein Loch, das man ins Gewölbe geschlagen und hing vor seinem Bette nieder. Jetzt, wo das Dach des Turmes entfernt war, konnten die Blicke des Müden in die Unendlichkeit des Raumes hinaussehen bis zu den flimmernden Sternen, in deren unmittelbarer Nähe die Eulen saßen.
Für den Augenblick hatte der Mann im Bette gegen die Erweiterung seiner Fernsicht nichts einzuwenden, aber er dachte daran, wie es werden solle, wenn der Sturm den Regen durch die öden Fensterhöhlen peitschte und der Schnee in stillen Winternächten mit unermüdlicher Beharrlichkeit vom bleigrauen Himmel fiele. Die Sorge um die künftigen Tage beunruhigte den Mann im Gemach so gut, wie die Eulen auf der Zinne. Zuletzt aber besiegte die Müdigkeit alles. Der Dorfteufel schlief ein, und seinen Schlummer störte weder das Rascheln der Mäuse im Bettstroh, noch der heisere Schrei der Nachtvögel, noch auch der nagende Wurm des Kummers.
Über die Vorgänge im Dorfe während seiner Abwesenheit erfuhr der Michael Hely am nächsten Morgen in Kürze das folgende. Die Rührigkeit der katholischen Kirchengemeinde hatte auch den Eifer der Protestanten geweckt. Diese letzteren waren die reicheren, und die Mittel, die zur Verfügung standen, waren flüssig und brauchten nicht erst durch Kollekte und Klingelbeutel herbeigeschafft zu werden. Es genügte, daß der Kirchengemeinderat sich versammelte und erklärte: »Wir genehmigen die zur Anschaffung eines neuen Geläutes erforderlichen Gelder.« Das war geschehen. Der Turm, in dem man die neuen Glocken aufhängen konnte, war längst vorhanden und an die protestantische Kirche angebaut. Man beschloß, das alte Geläute den Katholiken zu überlassen. Diese nahmen das Geschenk willig an und verwendeten die seither gesammelten Gelder zum Bau eines Glockenturms an der Westseite ihres Gotteshauses. Mit dem Eintreffen der neuen Glocken war somit jede Gemeinschaft zwischen den beiden Konfessionen aufgehoben, der alte Streit war begraben und der Torturm hatte nach dem nüchternen Urteil der einflußreichen Persönlichkeiten seine Existenzberechtigung verloren. Er war nur noch gut genug, um als Steinbruch für den neuen Turmbau zu dienen und in dem Maße, als der eine den Wolken entgegenwuchs, sank der andere dem Niveau des freien Platzes zu, auf dem er seither gestanden hatte. Je niedriger er übrigens wurde, um so mehr verringerte sich die Furcht des Englewirts vor einer Katastrophe, und wenn er in sturmdurchbrausten Nächten ja einmal in seinem Bette erwachte, so tastete er im Gefühl absoluter Sicherheit seine Tabaksdose, schnupfte, legte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Am Tage war er immer guter Laune. Die Leute, die am Abbruch des Turmes arbeiteten, sowie jene, die den Neubau besorgten, kehrten in den vielen Ruhepausen, die der liebe Gott so wohlwollend in das Arbeitsleben der Maurer eingestreut hat, bei ihm ein, weil sie es – und wer würde es ihnen verdenken wollen? – für schmackhafter fanden, ihr Brot in altem Kirschwasser zu essen, als im Schweiße ihres Angesichts. Ihr Wahlspruch, wie der der ganzen Zunft, war: »Nur langsam, wenn's pressiert!« Warum sollten sie sich durch Übereifer die Arbeitsgelegenheit verderben, die in jenen Zeiten mangelnder Unternehmungslust mit Vorsicht gepflegt und weise ausgenutzt werden mußte.
Zuweilen war es auch der Regen, der diese edlen Männer, die ihrer Familie und dem Staate ihre werte Gesundheit zu erhalten wußten, von der Arbeit weg in die Schenke scheuchte, wo sie, einmal der Gefahr entronnen, äußerlich naß werden zu müssen, um so gründlicher für eine innere Durchfeuchtung sorgten. So nahm Niederreißen und Aufbauen mehr Zeit in Anspruch, als selbst die Klügsten berechnet hatten und mancher, der den Anfang des Werkes gesehen, vermochte dessen Ende nicht zu erschauen.
Zu diesen letzteren gehörte auch der Preuße-Wilhelm. Er kam eines Tages betrunken vor seinem Schneidloch an und bemühte sich, den Stamm zu ersteigen, den er unter die Säge genommen hatte. Merkwürdigerweise bemerkte er mehrere Stämme nebeneinander, und auch das Sägeloch schien weiter und tiefer zu sein als ehedem. Der Fuß, den er zuerst vorsetzte, fand an dem Querholz, das den Balken trug, noch eine feste Unterlage, der zweite aber hätte an dem Gewebe einer Spinne mehr Halt gehabt, als er an dem fand, was der Preuße-Wilhelm für einen Fichtenstamm hielt. So fuchtelte denn der Meister einen Augenblick mit den Armen in der Luft herum, als er aber hier nichts fand, woran er sich hätte klammern können, fiel sein Körper schwerfällig wie ein Radschuh in die Grube.
Durch den Schlitz einer Schießscharte sah der Michael Hely, wie sein Widersacher fiel, und er eilte ihm, alle Feindschaft vergessend, sofort zu Hilfe. Da lag der Zimmermann auf dem Boden, den er, man möchte glauben in Vorahnung eines solchen Ereignisses, seit Jahr und Tag mit Sägespänen gepolstert hatte und stammelte einige unverständliche Laute. Sein Gesicht war blaß, die weitgeöffneten Augen starrten ausdruckslos ins Leere, und das Rot der Lippen war in die blaugrüne Farbe des Todes getaucht.
Bald sammelte sich um das Sägeloch ein starker Menschenhaufen; alles müßige Gaffer, die ihren Augen eine kleine Abwechslung gönnten, aber ihre Hände nicht schmutzig machen wollten. So war der Michael Hely ausschließlich auf seine eigene Kraft angewiesen, als es sich darum handelte, den Preuße-Wilhelm aus dem Sägeloch zu heben. Er besorgte dies und tilgte durch dies Liebeswerk die Schuld, die er damals auf sich geladen, als er den Meister so unsanft vor die Tür des »fidelen Sägebocks« gesetzt hatte.
Als der Verunglückte in seinem Bette lag, zeigte es sich, daß ein Bluterguß ins Gehirn seinen Körper halbseitig gelähmt hatte. Auch seine Sprache war verfallen, und von dem ganzen reichen Schatz an Kraftausdrücken, über welchen ein Zimmermann sonst zu verfügen pflegt, war ihm nur das Wort »Dorfteufel« geblieben. So oft er einem Gedanken Ausdruck geben wollte, drängte sich das Wort auf seine Zunge. Mochte er mit allen Zeichen der Anstrengung die Lippen zu einer andern Redewendung formen, immer war es da. Seine Gedanken hatten den Weg verloren, auf dem sie sich in Worte kleiden und in anderen eine Vorstellung wecken konnten. So oft er sich selber hörte und das Wort vernahm, das er einst im Hasse so oft gegen seinen Feind ausgestoßen, fühlte er seine Ohnmacht, fühlte, daß er dort verletzen müßte, wo er versöhnen wollte, und er schüttelte traurig das Haupt, drückte seinem Gegner mit der Rechten, über die allein er noch verfügen konnte, die Hand, zuckte ein paarmal zusammen und starb.
Als man ihn begrub, war der Michael Hely unter den Leidtragenden. Sein Auge musterte die Erde, deren Schoß zur Entgegennahme weiterer Särge bereit war, und er suchte die Stelle, an der auch er nach einem raschen Tode die Ruhe zu finden hoffte. Sein starker Wille, der mit sich selber ins klare gekommen war, sagte ihm, daß er seine Wohnung in dem alten Turm nur noch gegen das Grab vertauschen werde. Viel Zeit war ihm mithin nicht zugemessen, und darüber freute er sich.
Der Kreis derer, mit denen er durch irgend etwas, sei es Liebe oder Haß, verbunden war, wurde immer kleiner; immer weniger Menschen kümmerten sich um ihn, er kümmerte sich nicht um sie. Sein Interesse am Dasein war erloschen, und er fühlte nur noch die Last seiner Jahre. Bald sollte er auch diese nicht mehr fühlen.