Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Bei der engen Beschränkung der Wohnungsverhältnisse seines Erzeugers war es für den Neugeborenen von großem Vorteil, daß seine Mutter von Kindheit auf an bescheidene Räume gewöhnt war. Es bedurfte nur geringen Überlegens und sie erkannte, daß es zwei Arten gebe, den Familienzuwachs standesgemäß unterzubringen. Entweder konnte man den Kleinen in einer Art Netz über dem Lager seiner Eltern niederpendeln lassen, oder man konnte ihn, in einen Kasten gebettet, unter die Bettstelle schieben. Beide Wege schienen auf den ersten Blick gleich gangbar. Allein einer von zwei Pfaden, die ins Dunkle führen, pflegt doch gewöhnlich noch etwas gefahrvoller zu sein wie der andere, und so fand denn auch der Haushaltungsvorstand bei reichlicherem Nachdenken heraus, daß vielleicht der Sprößling nicht immer und unter allen Umständen willens und in der Lage sein werde, bei Anwendung der ersteren Methode die Rücksichten zu gebrauchen, die für einen fleckenlosen Fortbestand seiner unter ihm schlummernden Eltern und des über sie gebreiteten Bettzeuges erforderlich seien, und so entschied er sich für die Kastenverpackung. Seine Frau war damit einverstanden, und es wanderte das Kind von jetzt ab jeden Abend, wenn es rundherum satt gefüttert war, in seine Kiste und mit dieser unter die Bettstelle. Mit wachsender Erfahrung stellte es sich heraus, daß damit noch der Vorteil verbunden war, daß die Mutter des Nachts in aller Bequemlichkeit, ohne sich im Bett aufrichten zu müssen, die Falltür heben und aus dem kühlen Keller die Milch heraufholen konnte, falls der Hunger bei dem Kleinen sich eher einstellte, als die Sonne kam und als man nach seinen Leistungen bei der Abendmahlzeit billigerweise erwarten konnte. So verliefen die Nächte zu allseitiger Zufriedenheit.
Über Tag steckte ihn seine Mutter, wenn sie etwa einen Kindersarg fortzutragen hatte, in die Hobelspäne und trug ihn auf ihrem Kopfe mit sich über Land. Den Rückweg machte er dann, in ein breites Tuch gebunden, auf ihrem Rücken, wobei er Gelegenheit fand, sich nach allen Seiten umzusehen und Land und Leute kennen zu lernen.
Sobald er rutschen konnte, suchte er sich von fremder Hilfe soviel wie möglich unabhängig zu machen und steuerte auf eigne Gefahr und Risiko in die Welt hinein.
Da ereignete es sich nicht selten, daß er eine Treppe herunterkugelte und liegen blieb, bis sein Brüllen irgendeine mitleidige Seele herbeilockte. Zuweilen verliefen seine Ausflüge auch günstiger. Er traf auf seinem Wege einen Teller mit der Morgenmahlzeit irgendeiner Katzen- oder Hundefamilie und machte sich mit Hintansetzung jeglichen Rechtsgefühls darüber her, wobei dieser grausame Unmensch die jungen Vierfüßler, die sich von ihrer Mahlzeit nicht wollten verdrängen lassen, wie Herkules die Schlangen zwischen seine Finger nahm und in der unbarmherzigsten Weise würgte.
Obwohl seine Beine krumm waren, so lernte er sie doch frühzeitig gebrauchen. Und nun brach er, als er im Gehen einige Übung hatte, in die Häuser der Nachbarschaft ein, ohne zu fragen, ob er willkommen sei oder nicht. Da war ein ehrenwerter Nachbar, der die Kunst des Rasierens erlernt hatte und nebenbei handwerksmäßig die Heilkunde betrieb. Er war vor einem Jahre mit dem Felleisen die Kirchhohl heruntergekommen und da man den frühern Bartkünstler gerade begraben hatte, so trat er bei dessen Witwe in Dienst und erwarb sich das Vertrauen weiterer Kreise. Sein Tagwerk begann er mit dem Genusse eines Lippentrillers, da er die Erfahrung gemacht hatte, daß er vor einer solchen Stärkung mit dem Rasiermesser nur in der Luft herumfuchtelte, ohne mit demselben auf die gräulichen Stoppelfelder dieser Bauerngesichter herunterkommen zu können. Dadurch, daß er die Maschine mit etwas Alkohol schmierte, überwand diese den toten Punkt und funktionierte dann zur Zufriedenheit der männlichen Bevölkerung, wenn auch des öfteren die Frauen, denen er die Männer blutend und halb abgezogen nach Hause schickte, ihm nicht das Beste nachredeten. Aus den sich widerstreitenden Ansichten der männlichen und weiblichen Bevölkerung bildete sich zuletzt das allgemein gültige Volksurteil heraus, daß er zwar keine leichte Hand besitze, daß er aber an Gründlichkeit in der Ausübung seines Berufes von keinem übertroffen werde.
Bei diesem hochangesehenen Meister verbrachte der junge Hely mit Vorliebe die Sonntagsvormittage. Er hatte seinen reservierten Platz zwischen den vier Beinen des kleinen Toilettentisches, auf dem die Haarbürsten, Seifenbrocken, Rasiermesser und auch die Zigarrenstummel der Kundschaft in stimmungsvoller Eintracht nebeneinanderlagen. Von hier aus beobachtete er, wie aus einer Hofloge, all die eingeseiften Gesichter der Bauern und all die feinen Nüancierungen des Gesichtsausdruckes, die sie annahmen, bis sie wieder aus der Wolke von Seifenschaum ausgeschält waren. Da gab es Leute, die eine solche Sache äußerst ernst nahmen und mit einem Antlitz starr und unbeweglich wie die tragische Maske dasaßen, während andere sanguinische Naturen von dem leichten Kitzeln des Rasiermessers angeregt, alle Gesichtsmuskeln spielen ließen, die Backen aufbliesen und einzogen, so daß sie zu des kleinen Beobachters ungeheuerem Ergötzen bald glänzend und aufgetrieben aussahen wie eine Dickrübe, bald eingefallen und runzlig wie ein gebratener Apfel.
Diesen wechselnden Erscheinungen gegenüber verhielt er sich zuerst nur rezeptiv, d. h. er nahm die Bilder in seinem Geiste auf. Als er aber älter wurde, übte er sich zum Ergötzen anderer in der Nachahmung dieser Fratzen, er wurde produktiv, und das Vergnügen, das er mit seinen mimischen Ränken andern machte, verschaffte ihm manche Erleichterung seiner eigenen erbärmlichen Lage. Man schenkte ihm zuweilen ein Butterbrot oder einen Wurstzipfel. Freilich übte er seine Kunst nicht immer am passenden Orte aus. Er mimte in der Kirche und in der Schule, was weder Pfarrer noch Lehrer behagte, und so trug ihm seine Tätigkeit auch manche Ohrfeige ein, die er übrigens mit zunehmendem Alter immer leichter verschmerzen lernte.
Zu den Stunden des ungetrübtesten Glückes müssen übrigens jene gerechnet werden, in denen er seinen Logensitz einnahm, um zusehen zu können, wie der Meister Nägele einem Opfer seines Berufes einen Zahn zog. Wenn der junge Hely in der Straße stand, im Gesicht über und über verschmiert mit Schmierkäs, weil es oft ein wahres Kunststück für ihn war, mit dem Oberkiefer auf die dicke Brotkruste, die man ihm geschenkt hatte, hinaufzukommen, beobachtete er im stillen die Passanten. Sobald er jemand sah, der den Kopf mit einem Taschentuch verbunden hatte, dessen Schritte immer langsamer wurden, je näher er dem Hause kam, vor dem die zwei messingenen Barbierschüsseln im Sonnenscheine funkelten, der auf der Treppe nachdenklich stehen blieb, ein paar Schritte rückwärts ging und dann wieder vorwärts, dann wußte er, daß es Zeit wäre, dahinter her zu sein. Er schlich nach, öffnete leise die Tür und kroch unter den Toilettentisch. Wenn dann der Nägele hinter dem Stuhl seines Patienten sein rotes Taschentuch aus dem zerrissenen Unterfutter seines Rockes hervorsuchte und den Haken des Zahnschlüssels damit umwickelte, dann winkte er wohl verschmitzt seinem kleinen Freunde zu, als wolle er ihm eine Andeutung geben, daß er heute etwas Besonderes erwarten dürfe. In solchen Momenten wurden sich beide bewußt, daß auch bei der Schadenfreude das Teilen die Lust verdoppelt. Voller Spannung erwartete dann der Kleine von dem Augenblicke an, wo er den Kopf des Patienten hinter dem spieglichen Ärmel seines Arztes hatte verschwinden sehen, auf jenes Krachen, das dem Geräusch einer zertretenen Haselnuß gleicht. Wenn es erfolgte und der Gemarterte entsetzt aufsprang, den Stuhl hinter sich zur Erde warf, die Zange in eine Ecke schleuderte und selber, die Hände vor dem weitgeöffneten Munde, wie ein Besessener auf- und niederhüpfte, dann fuhr unser Hely mit dem Kopf gegen die Tischplatte, so daß die Bürsten und Seifenschüsselchen auf die Erde flogen. Indem er nun Mitleid heuchelte und den Schmerz des Gequälten nachahmend die tollsten Fratzen schnitt, erheiterte er seinen Freund, den Zahnkünstler, der unter dieser Zerstreuung die Kraft sammelte zu einem zweiten oder gar dritten Angriff; denn selten glückte eine derartige Operation auf den ersten Wurf. War endlich der kranke Zahn heraus und erkannte man bei näherem Nachsehen, daß es richtig ein gesunder sei, so zog sich das Vergnügen der beiden in die Länge, womit erfreulicher Weise auch die Honorarforderung des Nägele sich vergrößerte, da der Geschundene gewohnt war, seine Zahlung nach der ausgestandenen Drangsal zu bemessen.
War die Notwendigkeit, sich von einem Zahne trennen zu müssen, eine schmerzliche, so wird doch jeder, der die Zähigkeit kennt, mit der eine Bauernseele am Gelde hängt, leicht begreifen, daß der Landmann sich von diesem noch viel weniger scheiden mochte als von jenem. Es schien für ihn kein geringes Kunststück zu sein, den Eingang zur Hosentasche zu finden und gar das Hervorziehen des Geldbeutels schien ungezählte Pferdekräfte zu verschlingen. All diesen Anstrengungen sah das Paar unter gut geheucheltem Mitleid, vor innerem Vergnügen fast berstend, geduldig zu, bis der viel Geschundene endlich die Folterkammer verlassen hatte. Dann schüttelte die Schadenfrohen der Lachkrampf, daß sie eine Zeitlang bebten wie die Blätter einer Zitterpappel im Herbstwind. Sich und seinem Genossen zum Lohn holte dann der treffliche Arzt die Schnapsflasche und, während er seinem Gehilfen einen kleinen Schluck zukommen ließ, nahm er selber einen großen.
Doch zuweilen begehrten auch andere Leidende die Hilfe des Nägele. Es klopfte an, man rief Herein und über die Schwelle trat mit verwickeltem Kopfe die Aufkäuferin aus dem Hasental. »Spritzen Sie mir mein rechtes Ohr aus, spritzen Sie mir mein Ohr aus, so schnell wie möglich.«
»Ist Euch irgendetwas damit passiert?«
»Das nicht, aber es ist mir, als ob eine Mücke d'rin brummte, und morgen will ich nach Darmstadt und da muß ich auf dem rechten Ohr hören.«
»Warum denn gerade auf dem rechten?«
»Ja, das ist so: Mein Sohn, der ist dort einer von den Höchsten, was der sagt, müssen die anderen tun und der hat morgen Hochzeit und da spielt die Militärmusik. Er ist Feldwebel, ich steh links von ihm unter den Oleanderbäumen und rechts steht die Militärmusik, und die will ich hören. Spritzen Sie mir mein Ohr aus, spritzen Sie mein Ohr aus so schnell wie möglich!«
»Und wer ist denn die Braut?«
»Die Braut, die ist sehr reich. Ihr Vater ist von Saidenbuch, die Mutter ist von Bibelried und ein Kind hat sie auch schon und zwar von einem Hauptmann. Spritzen Sie mir mein Ohr aus, daß ich die Regimentsmusik hör. Unsereiner ist so so dumm, wenn man nun gar unter so hohe Herren steht und nichts hört – – Ach Gott, es ist ein Kreuz!«
»Euch soll geholfen werden,« sagte der Nägele und holte die Spritze herbei. Der Michael Hely hielt ein Becken unter das kranke Ohr und mit zischendem Geräusch fuhr ein warmer Wasserstrahl zum Ohre hinein und als schäumender Sprudel wieder heraus. Das wiederholte sich ein paarmal, bis es dem Nägele gelungen war, eine vertrocknete Kakerlake in das Spülbecken zu schwärzen.
»Da haben wir's, da haben wir's!« rief der Heilkünstler triumphierend aus und hielt der Bäuerin die Wasserschale unter die Augen. Diese blickte hinein, steckte den Zeigefinger ins Ohr, bohrte eine Weile darin herum und erhob sich freudestrahlend. »Ich hör, ich hör, es brummt nicht mehr, ich hör die Regimentsmusik!« rief sie aus, wickelte ihr Tuch um den Kopf, vergaß das Bezahlen und rannte zur Türe hinaus.
Eine halbe Stunde später wußte man im ganzen Dorfe von dem Wunder, das sich in der Barbierstube zugetragen hatte.
»Sie haben ihr einen Maikäfer aus dem Ohre herausgezogen,« erzählte der Feldschütz dem Kirchendiener.
»Nein, es war ein Hirschkäfer,« sagte dieser, »und der Michael Hely war dabei.«
»Der Michael Hely war dabei.« So fiel von der Ruhmessonne, die den Nägele umglänzte, ein Strahl auf den Knaben, verklärte ihn etwas, brannte ihm aber auch ein kleines Mal auf. Man rechnete ihn zu den Gezeichneten, die überall dabei sind, viel vermögen, aber vor denen man sich hüten müsse.
Das war vorderhand der Lohn für seine Mühe, wenn man zwei Zigarrenstummel, die er in der Stube fand und seinem Alten mitbrachte, nicht in Rechnung stellte.