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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Mitten in diese Zeit des Wartens fiel ein Ereignis, das den letzten Faden durchschnitt, mit dem der junge Handwerksgeselle noch an seine Heimat gebunden war.

Es war nämlich der alte Hely auf der schiefen Ebene des Alkoholmißbrauches immer tiefer gerutscht und beim Delirium angekommen. Zuweilen beherrschte ihn ein unbändiger Drang nach Tätigkeit, so daß er kühne Projekte entwarf und selbige sofort in Angriff nahm.

Das Haus, in dem er wohnte, war in einer früheren Erbteilung an zwei Besitzer gefallen, in der Art, daß dem einen das untere, dem anderen das obere Stockwerk gehörte. So beherbergte es seit Jahrhunderten zwei Herren zu gleicher Zeit und außerdem einen ewigen Streit um die Abgrenzung gegenseitiger Rechte und Pflichten. Kein Wunder, daß der alte Hely, dessen Denken und Sorgen sich seit Jahrzehnten um den schwierigen Fall drehte, dieses Anliegen mit in das Delirium herübernahm und Abhilfe zu schaffen suchte. So war er bei reichlichem Nachdenken zu der für ihn einwandfreien Überzeugung gekommen, daß ihm das Recht zustehe, sein Teil abzubrechen. Er begann damit, daß er die Fenster hinausschlug, und als er dies vollbracht hatte, bearbeitete er mit der Axt die Säule, auf welcher der Durchzug ruhte. Der Besitzer des zweiten Stockes, der nicht ganz sicher war, ob sein gutes Recht und seine Riegelwände in der Luft schweben könnten, eilte spornstreichs zur Polizei, um einen Einhaltsbefehl zu erwirken. Da aber bis zur völligen Erschöpfung des juristischen Instanzenganges die Tätigkeit des alten Säufers verheerende Wirkungen entfalten konnte, so beauftragte der Bürgermeister den Polizeidiener, daß er besagten Übeltäter bis zur ausgetragenen Sache einstweilen in Gewahrsam nehme. So schlief der alte Hely in der Wachtstube des Gemeindehauses auf einem Strohsack, bis seine aus den Fugen geratenen Rechtsanschauungen wieder eingerenkt und sein Rausch verschlafen war.

Ein andermal überkam ihn die Vorstellung, als ob eine Unsumme von Rasiermessern von allen Seiten seinen Hals umschwebte, und zuweilen klappte eines wie ein Entenschnabel auf und zu und biß nach ihm in der gefährlichsten Weise. Es war eine naheliegende Ideenassoziation, daß er das Erscheinen der greulichen Instrumente mit dem Nägele in Verbindung brachte, und als dieser ihn wieder einmal rasierte, beschloß er, die Gelegenheit wahrzunehmen und der Verzauberung und ihrem Urheber ein für allemal ein Ende zu machen. Er packte die fadenscheinige Figur des Dorfbarbiers und warf sie in einen leerstehenden Sarg. Im Nu hatte er den Deckel darüber gelegt und festgenagelt. Dann holte er aus dem Kleiderkasten sein Sonntagswams und machte sich auf den Weg, um mit dem Pfarrer Zeit und Stunde der Beerdigung zu verabreden.

Als er zur Tür hinaus war, erholte sich der Nägele so allmählich von seinem Schrecken und kam nach und nach zur Überzeugung, daß für ihn alles darauf ankäme, sich vor der Beerdigung bemerklich zu machen und deshalb schrie er aus vollem Halse »Feuer und Bürgerhilfe« und erlebte die Genugtuung, daß mehr als die Hälfte aller Einwohner des Dorfes seinem Rufe folgte. Mit diesen Menschen, die anfangs starr und sprachlos dastanden und dann alle zusammen gleichzeitig sprachen, unterhandelte er nun aus dem Sarge heraus und suchte ihnen begreiflich zu machen, wie er in diese immerhin befremdliche Lage gekommen sei. Als sie endlich begriffen hatten, langte jeder nach einem Instrumente, das seiner Meinung nach geeignet war, den Sarg zu öffnen. So sausten denn in buntem Wechsel Äxte, Schälprügel, Stemmeisen und anderes mehr auf das Holzgefängnis des Dorfbarbiers hernieder und während der Eingesargte dem Verhängnis entging, lebendig begraben zu werden, lief er Gefahr, unter den Streichen seiner Befreier zu sterben.

Doch die Auferstehung gelang wider Erwarten und man erlebte das seltene Ereignis, einen Menschen heil und ganz wie zur Zeit Christi aus seinem Sarge steigen zu sehen. Von diesem Tage ab hieß der Nägele bei der bibelfesten Bevölkerung des ganzen Kirchspiels nur noch: »Der Jüngling zu Nain.«

Gegen den alten Hely schwebte von jetzt ab eine hochnotpeinliche Untersuchung wegen Freiheitsberaubung. Da übrigens in dem Kreisphysikus eine Ahnung dämmerte, daß es sich bei dem heruntergekommenen Säufer um einen pathologischen Geisteszustand handeln könne, so plaidierte er in seinem Gutachten für Unzurechnungsfähigkeit des Angeschuldigten, und dieser Umstand öffnete wieder die Zelle des Untersuchungsgefängnisses.

Den Zeiten eines gesteigerten Tätigkeitsdranges folgten übrigens andere, die dem stillen Nachdenken und dem Grillenfangen gewidmet waren. Dann mühte sich der Säufer in tiefem Nachdenken ab, zu ergründen, warum die Vorsehung ihn in diese Welt gezwungen, ohne ihn zu fragen, ob er hinein wolle oder nicht, und warum sie ihn mit einem so ausgesprochenen Hang zum Alkohol ausgestattet, ohne ihm die Mittel zu gewähren, denselben zu befriedigen. Je eingehender er die Schöpfung musterte, um so mehr wuchs sein Pessimismus und allmählich war er über andere Philosophen hinweg bei der Schopenhauerschen »Verneinung des Willens zum Leben« angekommen. Er dachte, daß es ihm erdenwohl sein müßte, wenn er im Himmel wäre, und überlegte allen Ernstes, auf welchem Wege er wohl dieses Ziel am ehesten und bequemsten erreichen würde.

Im Unterdorf bei dem Hammerwerk war ein tiefer Teich, aber leider bestand sein ganzer Inhalt in nichts als wie ordinärem Wasser. Ja wenn es, für ihn erreichbar, ein Wasser gegeben hätte, in dem sich Heringe tummelten, dann wäre er wohl hineingesprungen und umschwebt von seiner Lieblingsspeise, hätte er die Gesellschaft der Engel entbehren können. Aber da es so was nicht gab, so war die Todesart des Ertränkens von vornherein ausgeschlossen.

Am Erhängen fand er keinen Geschmack, das war ihm zu alltäglich, es roch zu sehr nach armen Leuten. Trotz allen Elendes, in dem er lebte, ging doch durch sein ganzes Wesen ein gewisser Zug von Großartigkeit, so daß er eigentlich am liebsten an den Folgen eines tragischen Konfliktes gestorben wäre wie der Gänsewürger, der Bayerische Hiesel und andere Helden des Kolportageromans.

Totschießen! Ja das war erfolgversprechend, aber er war ein Feind von allem Plötzlichen. Er liebte die Mollakkorde, die sanften Übergänge z. B. zwischen nüchtern und berauscht und auch bei Sein und Nichtsein wollte er diesem Prinzip nicht untreu werden.

Als das idealste Mittel, sich aus der Welt zu drücken, erschien ihm, nachdem er sich alles reiflich überlegt hatte, die Gesellschaft einer Bulle Schnaps in einer kalten Winternacht auf einem einsamen Grenzsteine.

Aber die drei Dinge waren so schwer zu vereinen. Wenn er die Bulle mit Schnaps hatte, dann saß er gewöhnlich in der warmen Stube, und es fehlte der einsame Grenzstein, oder auch die kalte Winternacht. Hatte er aber die beiden letzteren Dinge, dann gebrach es ihm sicher an Schnaps.

So schien es denn, als ob er mit seiner Sehnsucht nach dem Tode so alt werden sollte wie Methusalem und als ob er sich wie andere Sterbliche mit einem Tode zwischen dem Strohsack und der Zudecke begnügen müsse, als sich eines Morgens im Februar die Kunde verbreitete, daß der alte Hely heute nacht zu den häuslichen Penaten nicht zurückgekehrt sei.

Man suchte nach ihm und als man ihn fand, saß er zwischen Siedelsbrunn und Oberabtsteinach seelenvergnügt auf einem Steine, hatte den Rücken an einen jungen Kiefernstamm gelehnt, sah ins Weschnitztal hinunter und war tot.

Hinterlassen hatte er nichts als ernste Zweifel darüber, ob seine Todesart eine freigewählte oder ein Werk des Zufalles sei.

Nach dem Grundsatze in dubio pro reo richtete sich diesmal auch der Pfarrer, und so gelang es dem verschmitzten Bösewicht noch zu guterletzt zum Entsetzen manches Frommen ein Grabkreuz mit Aufschrift in der Reihe der ehrlichen Menschen zu erlangen, obwohl er seinerseits gewiß nichts dagegen eingewendet hätte, wenn man ihn in der Ecke des Kirchhofs unter den Namenlosen verscharrte.

Seine Witwe trauerte – weil das für sie den geringsten Aufwand an Toilette erforderte – in Sack und Asche um den Unersetzlichen. Als sich aber vierzehn Tage später eine Gelegenheit fand, sich standesgemäß zu versorgen, so verließ sie das traute Heim unter dem Stalaktitenschmuck aus Heringsseelen – ein Werk ihres hochseligen Alten – und ging mit einem ehr- und tugendsamen Scherenschleifer auf und davon.

 


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