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Übrigens wurde der Junge von Tag zu Tag verwegener. Er rutschte über jede Wagendeichsel, kroch in jede Hundehütte, watete durch jede Pfütze. Wo er eine Leiter stehen sah, da schraubte er sich langsam hinauf und wenn er sich mit den vorwärtsstrebenden Füßen in den Löchern seines Rockes verfangen hatte und herunterkugelte, so begann er ohne Murren sein Werk von vornen. Dieses Streben von der Erde loszukommen, brachte ihn den Engeln nicht erheblich näher, wohl aber brachte es ihn in einen unheilvollen Konflikt mit gar manchem, der mit ihm das Dorf bewohnte.
Eines Sonntagmorgens bemerkte nämlich der Küster beim Tagläuten, daß im Schiff der Kirche der Stuck der Decke sich losgelöst hatte und auf den Kanzeldeckel niedergefallen war. Dort stand seit unvordenklichen Zeiten der »Gute Hirte« und trug ein hölzernes Schaf über seinen Schultern. Dem guten Tiere hatte dieser Einsturz das Genick gebrochen. Es war klar, daß der Schaden repariert sein mußte, bevor die Gemeinde sich zum Hochamte versammeln würde.
Man wandte sich an den Vater unseres Helden, der, mit einer Leiter und der Leimpfanne ausgerüstet, sofort am Tatorte erschien, um das geköpfte Lamm auf dem Kanzeldeckel wieder so herzurichten, daß es sich vor den Andächtigen sehen lassen konnte. Alles gelang nach Wunsch, und als der Meister die Leiter hinwegnahm und sich an der Kirchentüre noch einmal umsah, war er mit sich und dem Erfolge seiner Tätigkeit höchlichst zufrieden.
Die Glocken läuteten. Auf allen Wegen wimmelten im Sonntagsstaat die Kirchengänger und füllten die hohen Stühle, die steif und gravitätisch dastanden. Die Orgel präludierte, während der Pfarrer durch die Reihen schritt und das Weihwasser austeilte. Dann sang die Gemeinde: »Komm heiliger Geist mit Deiner Gnad«, und ehe noch das Lied vollendet war, stand auch der Pfarrer schon auf seiner Kanzel, die er mit der satten Rundung seines Leibes ausfüllte, wie ein Stöpsel das Spundloch und legte gewichtig seine wohlgenährten Finger auf die fein gehäkelte Spitze, womit die Kanzel verziert war. Aller Augen hingen an seinen Lippen, von denen man jeden Augenblick erwarten konnte, daß sie sich öffnen würden, um das sanfte Gotteswort hervorzulassen. Statt dessen aber durchbebte mit einem Male ein wüstes Brüllen, das bald vom Gewölbe zu fallen, bald aus der Erde zu quellen schien, das Haus des Herrn, erfüllte die Menge mit Grausen und weckte in den abergläubigen Gemütern die tollsten Vorstellungen. Einige erwarteten jeden Augenblick, daß die steinernen Grabdeckel unter ihren Füßen sich erheben und diejenigen hervortreten würden, auf deren Namen und Grabinschrift sie knieten; andere vermuteten einen Teufelsspuk in der Luft und suchten in wilder Flucht die Türe zu gewinnen. Unterdessen hatten einige besonnene Elemente, denen die Sache doch gar zu menschlich klang, bemerkt, daß auf dem Kanzeldeckel sich etwas bewegte. Man holte in der Nachbarschaft eine Leiter und entwickelte zum allgemeinen Erstaunen aller Versammelten vom Kanzeldeckel, wo er sein Morgenschläfchen gemacht hatte, den Michael Hely. Unter Stößen und Püffen wurde er vor die Türe gesetzt und von dem Augenblick an, wo man von draußen das letzte Klatschen vernommen hatte, das so klang, als ob ein menschliches Hinterteil mit dem Handteller bearbeitet würde, nahm der Gottesdienst seinen ungestörten Fortgang.
So leicht und natürlich sich nun auch jeder Wohlwollende den Zusammenhang erklären konnte, so gab es doch auch Böswillige, die der Ansicht waren, daß dieses Kind, wenn nicht der Teufel selber, doch von seiner höllischen Majestät ein guter Fetzen sei. Viele gingen dem Unhold aus dem Weg und hielten ihre Kinder von ihm zurück. So war der junge Hely früh vereinsamt und auf den Verkehr mit herzlosen Erwachsenen angewiesen, die mit ihm ihren Scherz trieben und die ihn von diesem Ereignis an nur noch den »Dorfteufel« hießen.
Obgleich frühzeitig durch solche Lieblosigkeiten verbittert, war der Junge doch für eine liebevolle Behandlung empfindlich und bereit, um eines guten Wortes willen durchs Feuer zu gehen. So bewegte er sich gerne um den freundlichen Schullehrer, trug ihm das Holz in die Küche, trieb die Kühe zum Brunnen und durchkreiste am Abend die Höfe des Dorfes, um das verlaufene Volk der Gänse zusammenzutreiben.
Auch der Pfarrer, der den Knaben haßte, und in dem auch die ahnende Seele des Kindes ihren Feind erkannte, bediente sich seiner zu allerlei Diensten. Hochwürden war ein Schnupfer und bevorzugte den »groben Lotzbeck«, die einzige Sorte, die zu der Weite seiner Nasenlöcher in einem proportionalen Verhältnis stand. Des geringen Absatzes wegen war nun kein Krämer des Dorfes in der Lage, diese von dem Pfarrherrn so geschätzte Qualität führen zu können. Er wurde durch die Bötin eines nahen Weilers aus Heidelberg gebracht und von dem Hause der Botenfrau pflegte ihn der Michael Hely für die lüsterne Nase seines Seelsorgers abzuholen. Dieser honorierte die gefälligen Dienste mit kleinen Naturalleistungen: einem Stück Butterbrod, den Resten eines Mittagessens und dergleichen, nie aber mit einem guten Worte oder einem freundlichen Blick.
Eines schönen Tages hatte der Pfarrer aus Langeweile allerlei Früchte seines Gartens mit einer Schnur zu einer Girlande zusammengebunden. Als nun der Kleine das bewußte gelbe Paket im Pfarrhause ablieferte, da überraschte ihn der hochwürdige Herr, indem er ihm das Kunstwerk über die Schultern hing und ihn dann zur Tür hinausschob. Nach dieser Tat, die nach Großmut aussah, eilte er zum Fenstervorhang und hob das seine Gewebe gerade soviel, als nötig war, um einen Ausblick auf die Straße freizugeben, wobei er zu vermeiden wußte, daß er von außen gesehen werden konnte. Zu seiner großen Freude entwickelten sich nun die Ereignisse auf der Straße genau in dem Sinne, wie er es erhofft und eingeleitet hatte. Kaum war die Türe des Pfarrhauses hinter dem mit Laub und Früchten wie ein Faun bekränzten Knaben ins Schloß gefahren, so reckte die vor dem Brunnen zahlreich versammelte Gemeinde der Dorfgänse die langen Hälse und eilte unter Anführung eines alten, scheelen Gänserichs im Sturmschritt, wie sie sich dieses vielleicht von den Übungen der Feuerwehr abgeguckt hatten, auf den Jungen los, dessen Kranz sie mit den harten Schnäbeln zu bearbeiten begannen. Mochte es nun sein, daß der Dorfteufel die ihm geschenkte allgemeine Aufmerksamkeit in seiner Bescheidenheit lästig fand oder mochte es vorkommen, daß das eine oder andere Individuum des begehrlichen Federviehs an den Früchten vorbei nach seiner Haut zwickte, kurzum es bleibt Tatsache, daß das kleine Menschenkind eine Zeitlang von all den lüsternen Langhälsen geradezu überdeckt wurde, so daß keine andere Spur von seinem Dasein zeugte, als ein ungeheueres Geschrei, das aus einem Gänsehaufen hervordrang.
Während das vielgeplagte Schaf sich in einer solch drangvollen Enge befand, schwelgte sein Hirte in dem heiligsten Entzücken. Er lachte an seinem Ausguck, daß er im Gesicht blau wurde, wie der Kittel eines Viehtreibers, und seine verehrlichen Backen dehnten sich aus, daß die Beffchen mit der weißen Perlenumsäumung vor seiner Brust unter ihnen zeitlebens begraben schienen.
Leute, die zufällig des Weges kamen, schienen die Sache nicht ernster aufzufassen als ihr Pfarrer. Sie bildeten einen Kreis um das Gänsekonglomerat und schienen keine andere Sorge zu kennen als nur die: Es möge die Sache, durch irgend einen Zufall gestört, früher enden, als ihnen lieb wäre, und als sie Zeit hatten zuzusehen. In seiner Angst und Hilflosigkeit rief der Hartbedrängte die Menschen an und auch die Götter. Als er aber sah, daß ihm von oben keine Hilfe kam, und daß ihm auch von außen niemand als Retter erschien, da faßte er einen raschen Entschluß. Er gab das Objekt des Streites frei. Bereit, ein Opfer für den Frieden zu bringen, warf er die Schnur über den Kopf und stürzte sich von unsäglicher Wut gestachelt dem alten, scheelen Gansert an die Kehle, den er auch bald, trotz heftiger Gegenwehr, erwürgte, und ihn wie Sir John Fallstaff den Heinrich Percy auf seinen Schultern aus dem Kampfgewühle schleppte. Nun war sein einziger Wunsch, daß es ihm vergönnt sein möge, dem gefallenen Gegner eine seiner würdige Bestattung zu ermöglichen und deshalb suchte er, so schnell wie tunlich, nach Hause zu kommen. Einmal unter der Falltüre, die zum Keller führte, geborgen, konnte der Verstorbene sicher sein, daß er in seinen alten Tagen noch in der gleichen knusperigen Hülle aus dieser Welt verscheiden werde, in der nur jemals einer seiner feisten Jugendgespielen zu Martini das Zeitliche gesegnet hatte.
Leider störte der Neid der Mitmenschen die Ausführung des hochherzigen Planes. Alle, die noch kurz vorher wie angewurzelt dastanden und zum Zwecke einer wohlwollenden Intervention kein Glied gerührt hatten, bekamen jetzt Leben in die Beine und setzten dem Flüchtigen nach, so daß er sich, wie das auch sonst vorkommt, von den neutralen Mächten um den Preis seines Sieges betrogen sah.
Diesem ersten Akte der Grausamkeit, der übrigens –, wie jeder unparteiisch Denkende zugeben wird – alle Kriterien einer berechtigten Notwehr an sich trug, folgte bald ein zweiter von mehr dolosem Charakter.
Neben dem Pfarrhause wohnte der Knappehans. Er war verbittert und ausgetrocknet an Seele und Leib. Das Alter hatte ihm Lebensfreude, Gemütlichkeit und alles genommen, was sonst die Menschen an die Erde bindet, nur nicht die Liebe zur Jagd. Er war fast erblindet, aber gleichwohl schoß er noch, wie der selige Aeneas »rund um sich her«, wobei er bald einen Treiber, bald einen Esel, der friedlich seine Straße zu ziehen gedachte, eine weidende Kuh und nur ausnahmsweise ein jagdbares Wild zu treffen so glücklich war. Er hatte im Laufe der Jahre viel Blei und von seinen zehn Fingern reichlich die Hälfte mit hinausgeschossen, ohne daß dieses Mißgeschick seine Leidenschaft, unter der außer ihm auch sein Jagdhund Unsägliches erduldete, zu dämpfen vermochte. Dieses unglückliche Vieh, das der Herr in seinem Zorne einem solchen Nimrod beigesellt hatte, war beinahe ein Depot für Rehposten und Hühnerschrote aller Nummern geworden, und nicht leicht wird sich eine Patronentasche finden, in der mehr Blei untergebracht wäre, wie unter diesem schwarzen Hundefell. Wenn dann dieser Vierfüßler zu Zeiten, wo sich das Wetter änderte, des Nachts in seiner Hütte lag, dann quälten ihn Nervenschmerzen, die Gewerbekrankheit ausgedienter, kugeldurchlöcherter Krieger und alter Jagdhunde. Wer wird es ihm übel nehmen wollen, wenn er zuweilen schmerzlich stöhnte oder auch laut aufheulte, daß sich die Steine hätten erbarmen mögen? Wer in der Nachbarschaft edel und klug war, bedauerte den Unglücklichen und ersparte sich die Ausgabe für einen Barometer, denn dieser Hund wurde, wenn das Wetter Miene machte sich zu ändern, zu einer meteorologischen Signalstation.
Leider zeigte sich der Herr Pfarrer von den Leistungen des Hundes im Dienste der Wetterkunde keineswegs befriedigt. Er war vielmehr der Ansicht, daß ihm nach der Arbeitsleistung an einer wohlbesetzten Abendtafel das Recht auf eine ungestörte Nachtruhe zustehe, die ihm durch die Klagetöne des Hundeviehs unberechtigterweise geschmälert werde. Es ist wahrscheinlich, daß der Hund die entlegensten Gegenden der Erde gesehen hätte, wenn er überall dahingekommen wäre, wohin ihn sein hochwürdiger Gönner wünschte. Allein man lockt mit frommen Wünschen keinen Hund hinter dem Ofen hervor und auch keinen dahin, wo der Pfeffer wächst. An eine friedliche Arrangierung mit dem Nachbar war nicht zu denken, denn der alte Knappehans war dickköpfig und gab die Möglichkeit, daß jemand durch Hundegebell um seine Nachtruhe gebracht werde, nicht einmal von weitem zu. Der Gottesmann wappnete sich mit christlicher Geduld, und nur zuweilen noch kam eine Klage oder ein zorniges Wort über seine Lippen. Als er aber eines Tages, Gott weiß aus welchem Anlaß, die Kehrseite des jungen Hely, um nach einem Wort des heiligen Geistes, seine Seele vor der Hölle zu retten, mit einem zusammengedrehten Strick züchtigen wollte, kam ihm ein ablenkender Gedanke. Er hielt ein und zeigte sich zum Unterhandeln geneigt. Er wollte sich, wie er auseinandersetzte, bereit finden lassen auf die Ausführung der Strafexekution zu verzichten und dem Sträfling sogar den Strick überlassen, falls dieser sich dazu verstehen werde, den invaliden Hund nach »Hängebach« zu führen.
Der verschmitzte Junge, der die zarte Anspielung, die in dem Strick und dem Worte »Hängebach« lag, wohl verstand, erklärte, daß er den guten Willen und, wie er wohl annehme, auch die Kraft habe zur Ausführung eines so ehrenvollen Auftrags und verließ ungeprügelt das Pfarrhaus. Am gleichen Tage noch knüpfte er diesen Strick so, daß er eine passende Schlinge bildete und verlegte sich auf ein ernstes Nachdenken darüber, wie er Zeit und Gelegenheit zur Tat ausfinden und ausnützen sollte. Erst der Abend des folgenden Tages sollte der Ausführung des finsteren Werkes gewidmet sein. Er wußte, daß der Hund die Abendstunden auf der Treppe des Vorderhauses liegend in stiller Beschaulichkeit zuzubringen Pflegte. Leise schlich er sich an den Ahnungslosen heran und versuchte ihm die Schlinge um den Hals zu werfen, nach der Methode wie der Cowboy in der Ebene von Texas die wilden Pferde fängt, eine Sache, die er wohl einmal in einem Bilderbuch gesehen haben mochte. Allein der Hund, dazu erzogen, das leise Knistern des Laubes unter den Sammtpfoten eines mausenden Fuchses zu belauschen, hörte das Knirschen eines Sandkiesels hinter sich und schöpfte Verdacht.
Um nun seinerseits nicht zu verraten, was in ihm vorging, blieb er in seiner äußeren Haltung durchaus ruhig und drehte nur den linken Augapfel soweit nach hinten, daß er über sein Schulterblatt hinweg die Veranstaltungen seines Gegners beobachten konnte. Nur wer das leise Beben seiner Ohren zu beachten verstand, konnte ahnen, daß eine tragische Spannung sein Seelenleben beherrschte, und daß ihm alles darauf ankam, solange stille zu liegen, bis er den Übeltäter in Flagranti ertappen könne. Kaum hatte der Bösewicht den Arm mit der Schlinge erhoben, als der Hund schnell wie der Blitz in die Höhe fuhr, den Strick mit den Zähnen faßte und nun mit drohendem Knurren seinem Gegner gegenüberstand. Der Knabe, niedergedrückt von der Furcht und dem bösen Gewissen, bemühte sich, was er von Demut und Harmlosigkeit zu seiner Verfügung hatte, in sein Gesicht zu legen und versuchte mit einer zeremoniellen Verbeugung rückwärtsschreitend, sich zu entfernen. Doch der Hund, der sich offenbar an der Verlegenheit seines Gegners mit schadenfrohem Behagen weidete, folgte ihm so dicht, daß die harten Krallen seiner Vorderfüße nicht selten die nackten Zehen des Mordgesellen berührten und diesen selbst zusammenschauern ließen, als ob ihn der Zahn einer Viper berührt hätte. In dieser Reihenfolge kamen sie auf die Straße und langsam, der eine vorwärts, der andere rückwärts schreitend bis an die Quadersteine, die den rasch fließenden Gebirgsbach im Zaume hielten. Der Hund, der in seinem Edelmute offenbar die Absicht hatte, seinen Feind mehr zu demütigen als zu verletzen, schien diesen Umstand von vornherein in seine Berechnung hereingezogen zu haben, und als der Attentäter mit einem Schrei der Überraschung unter einem Sprühregen von Wassertropfen im Bachbett aufschlug, hielt das edelmütige Tier dies für eine genügende Satisfaktion und zog sich nach seinem Abendsitz an der Treppe zurück. Von hier aus sah er noch mit Genugtuung, wie der Geprellte sich mühsam und schwerfällig aus dem angeschwollenen Gebirgsbach herausarbeitete, wie eine Fliege aus der Buttermilch, und sich schimpfend und drohend die Fäuste ballend um die nächste Ecke verlor. Dann ging der Gute nach dem Stalle, wo gerade die Mägde am Melken waren, und die Laterne, am Durchzug aufgehängt, ihr Licht auf den breiten, glänzenden Rücken geräuschvoll kauender Kühe spielen ließ. Er suchte gewissenhaft Stand um Stand ab und schien sich nach dem Befinden jedes einzelnen Rindviehs zu erkundigen. Dann sah er nach der Wöchnerin von gestern und ihrem Kinde, die beide hinten auf einer Extralage von schönem Stroh standen, und als er auch hier alles in Ordnung fand, drückte er sich schmeichelnd wider die Kniee einer der melkenden Mägde, nahm seine Abendmahlzeit aus dem schiefgeneigten Milcheimer und ließ sich dann ruhig an die Kette legen. Vor dem Einschlafen überdachte er noch die Wechselfälle des ereignisreichen Tages und da er sich einer durchaus rechtschaffenen Handlungsweise bewußt war und gerade keine neuralgischen Schmerzen hatte, so wünschte er sich nichts Besseres als ein Hundeleben und schlief bald beseligt ein.
»So legt der Biedre nieder sich beglückt,
Schwer ruht das Haupt, das eine Schuld bedrückt.«
Während hier in seiner engen Klause der Gute die erquickende Ruhe des Schlafes auf Geist und Körper einwirken ließ, wälzten Scham und schlimme Vorsätze den bösen Hely von einer Ecke seines Kastens in die andere. Warum mußte er dem Pfarrer folgen? Daß er es ihm versprochen hatte, das war doch kein Grund, um auch wirklich an die Ausführung des gefahrvollen Werkes zu gehen, und dazu mit solch' unzulänglichen Mitteln! Wie hätte er sich ein Gewissen daraus machen sollen, den Pfarrer zu belügen, der ihn in eine Zwangslage gebracht, der keinerlei Bedenken hatte, ihn nur mit einem Stricke ausgerüstet, vor den von Zähnen starrenden Rachen eines solchen Ungetüms zu liefern. Wenn der filzige Schlemmer ihm doch wenigstens ein Messer oder seinen Stock, den mit dem silbernen Knopf, mitgegeben hätte! Nichts von alledem war geschehen, und wenn der Hund minder großmütig dachte, als er wirklich tat, wer weiß, ob er dann nicht den Verlust von einigen hundert Gramm Fleisch an irgend einer Stelle seines Körpers zu beklagen hatte. Und doch war ihm dieser Gedanke fast noch erträglicher als der andere, daß der Hund ihn nicht für einen ebenbürtigen Gegner gehalten, daß er ihm zu unbedeutend, vielleicht zu wenig schmackhaft erschien, als daß er seine Zähne an ihm abnützen wollte. Wenn ihm wenigstens die Haut geritzt worden wäre, dann konnte er mit seinem Heldenmut vor seinen Schulkameraden prahlen. Aber jetzt, nachdem der Hund ihn vor sich hergetrieben, wie man ein Schwein zu Markte treibt und ihn schließlich ins Wasser geworfen wie ein Kleiderbündel, das man waschen will, konnte unmöglich irgend einer, der das trübe Ereignis mit angesehen, oder es durch Hörensagen vernommen, fernerhin an seine Tapferkeit glauben. Er fühlte, daß er durch die Hundebestie blamiert sein, und daß sein Ansehen bei alt und jung erheblich abnehmen müsse, wenn nicht etwas geschehe, was wieder den Schimmer des Heldenhaften um seine Persönlichkeit ausbreiten würde. So lebhaft arbeiteten alle diese Vorstellungen in seinem Geiste, daß er zuweilen mit den Füßen wider seinen Kasten trat, oder mit den Fäusten gegen die Bretter jenes Bettes schlug, auf dem drei Zoll hoch über ihm seine Eltern schliefen, bis sein Vater, der die Ruhe über alles liebte, mit der Linken unter die Bettstelle griff und seinem Sprößling soviel Haare ausriß, daß ein geschickter Bürstenbinder davon bequem eine Zahnbürste hätte machen können. Nach dieser Ablenkung seines Seelenschmerzes auf die Kopfhaut, die ähnlich wie ein Senfpflaster wirkte, schlief der Knabe endlich ein.
Am nächsten Tage sah man ihn vor der Haustür sitzen, eifrig damit beschäftigt, ein altes Schuhmesser zu putzen und ihm die durch lange unwürdige Verwendung verlorene Spitze wieder anzuschleifen. Über Tag konnte man leichte Nebel aus den noch nicht getrockneten Kleidern aufsteigen sehen, aus denen er schweigsam und verschlossen hervorblickte. Den gelegentlichen Anspielungen seiner Altersgenossen und anderer auf sein verunglücktes Gastspiel vom vergangenen Abend setzte er ein starres, trotziges Schweigen entgegen. Niemand weiht er ein in seine weitern Pläne, »nur von dem Herzen nimmt er Rat.«
Als sich die Dämmerung auf die Erde niedersenkte, ging er mit strammen Schritten »Den Dolch im Gewande« von seiner Wohnung hinweg nach dem Hause des verstümmelten Jägers. Der Hund lag wie gestern und vorgestern und wie alle Tage vor der Tür, versunken in jene Geistesdämmerung, die wie das Zwielicht am Abend und Morgen alle Gegenstände und Ereignisse verschwommen ohne scharfe Ecken und Kanten dem Bewußtsein vorführt. In einer solchen Beleuchtung erschien ihm die Tat des Knaben von gestern, als ob sie bereits Jahrzehnte hinter ihm läge, fast historisch herausgeschält, befreit von Haß und Gunst, die der Augenblick des Geschehens jedem Dinge anklebt. Er war zum Verzeihen geneigt, ja er wollte sich selbst und dem andern die Mühe eines Gnadenaktes ersparen und als er den Knaben etwas zaghaft auf sich zukommen sah, erhob er den Kopf von seinen Vorderfüßen und wedelte ermunternd mit dem Schweif.
Alle diese Symptome vertrauensvollen Entgegenkommens machten übrigens auf den Ruchlosen keinen Eindruck. Er hatte seine Fassung wiedergewonnen und ruhig und zielbewußt, wie einer, der sein Leben dem Dienste einer großen Sache zu opfern bereit ist, ging er auf dem Hund los und stach ihm voll anarchistischer Heimtücke das Messer in den Rücken.
Im nächsten Augenblick schon waren die Machtverhältnisse insofern verschoben, als der Übeltäter wehrlos am Boden lag und es nun dem Hund überlassen mußte, welche Stelle an der Kehrseite seiner irdischen Existenz er sich als die geeignetste aussuchen würde, um den Strafvollzug zu bewerkstelligen. Das kluge Tier besorgte dies mit vielem anatomischen Verständnis und mit einer Mäßigung, die wir leider nicht an jedem Sieger bewundern dürfen. Die ortsüblichen Löcher in dem Hinterteil der Hose vermehrte der Hund zwar um eine geringe Anzahl, doch begnügte er sich damit, auf der Haut des Bösewichts nur einige blutige Abdrücke seiner Zähne zu hinterlassen, die sich in den nächsten Tagen mit der ganzen allerliebsten Farbenskala des Sonnenspektrums umschimmert zeigten. So endete das Duell der beiden, die durch die Unduldsamkeit eines dritten zu Gegnern geworden waren, ohne erheblichen Nachteil, aber das vergossene Blut war doch der Same neuer Schandtaten.