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Vierzehntes Kapitel

Vor der Landungsbrücke wiegte sich der grün und weiß gestrichene Holländer auf den Wellen, die schmeichelnd und leise flüsternd um seinen Kiel strichen, als wollten sie ihm zureden, doch mit ihnen zu ziehen, zum Meere hinunter. Der Vorschlag schien ihm zu behagen, denn zuweilen zerrte er ungeduldig an der Ankerkette und drängte gegen die Bohlen des Stegs, daß dieser in allen seinen Fugen schmerzlich stöhnte und ächzte.

Zögernd und jeden Augenblick zum Fliehen bereit, betraten die dem Wasser mißtrauenden Auswanderer die schwankenden Bretter der Brücke und kamen auf das Schiff. Hier blieben sie mit ihren Bündeln beladen stehen und warteten, ob nicht jemand käme und ihnen einen Platz anweise, wo sie sich niederlassen und ihre Sachen unterbringen könnten. Allein niemand kümmerte sich um sie. Nicht einmal der Besitzer der Nagelmühle, auf den man doch so sicher gerechnet hatte, war da. Das verstimmte die Reisenden und vor allem den Lorenz, der mit Schrecken daran dachte, daß er seinen Reisebegleiter und Landsmann verlieren könne, da er aus seiner Kasse die Kosten für dessen Überfahrt nicht bestreiten konnte. Doch man tröstete sich. Er konnte ja noch kommen, oder er holte in Worms oder Mainz die Auswanderer wieder ein.

Einstweilen zahlte der Lorenz aus seinen Mitteln das Billett für den Michael Hely bis zum letzteren Orte.

Jetzt ein heiserer Schrei der Sirene, dann tauchten die Radschaufeln ins Wasser und das Schiff drehte seinen Bug der Mitte des Stromes zu. An der Kaimauer standen die Hopfenzupfer und winkten den Abfahrenden zu, wünschten glückliche Reise und auf frohes Wiedersehen. Immer größer wurde der Streifen Wasser, der sich zwischen die beiden Parteien legte. Jetzt ist es die halbe Breite eines Stromes, bald ist es seine ganze Länge und nach kaum mehr als einem Monat wird es die unermeßliche Fläche des Atlantischen Ozeans sein! Traurig und in Gedanken versunken sehen die Zurückbleibenden die Raaen und Masten des Schiffes hinter den langweiligen Fassaden riesiger Arbeiterkasernen am linken Ufer verschwinden, dann drehten sie dem Rheine den Rücken zu und gingen südwärts den Hopfenfeldern von Schwetzingen entgegen.

So hat es denn den Anschein, als ob der letzte Sprosse des Hauses Hely aus jener dumpfen Kellerluft von Vorurteil, traditioneller Mißachtung und Armut herausgetreten wäre in eine reinere Atmosphäre, wo er den Keim des Guten, der in ihm lag, entwickeln und hoffen konnte, daß die, welche ihn seither von oben herab betrachteten, gezwungen wären, an ihm hinaufzusehen. Aber zu seinem Unglück scheint es nur so, und der Gärtner, der eben die Wurzel der Pflanze herauszugraben im Begriffe war, verschwindet und läßt sie in dem Boden bornierter bäuerlicher Vorurteile zurück, aus dem sie keine andere Nahrung zu ziehen weiß, als Ingrimm, Verbissenheit und Lebensüberdruß.

»Voll Gleichmut im Glücke, voll Trotz in der Not,
Veracht' ich das Leben und rufe den Tod.«

Ruhig gleitet das Schiff zu Tal. An den flachen Ufern des Stromes stehen die hohlen Stämme morscher Weiden. Ein geiles Grün in ihren Ästen und Zweigen buhlt mit dem Winde und versucht es, Kraft und Jugend vorzutäuschen, während doch der Stamm dem Moder und Ungeziefer verfallen ist. Zuweilen eröffnet sich ein Ausblick über die wogenden Saatfelder der Rheinebene oder auf die tief zur Erde niederhängenden Dächer einer Ziegelei. Endlich erscheinen vor dem Bugspriet, anfangs undeutlich, wie eine Gruppe von Pappelbäumen, dann immer klarer und markanter die Türme des Wormser Domes. Dann sieht man über die grünen Dämme des Stromes hinweg ein wirres Chaos von Ziegeldächern, Schornsteinen und niedrigen Kirchtürmen. Endlich kommt eine Schiffbrücke in Sicht. Einige ihrer Joche sind abgefahren und durch die Straße, die so frei wird, windet sich das Schiff dem Landungsstege entgegen. Fässer und Kisten am Ufer harren auf das Boot, und Menschen stehen am Lattenverschlag des Steges und warten, bis man ihnen einige Bretter legen wird, auf denen sie das Verdeck erreichen können. Alle diese Reisenden interessieren unsere Landsleute nicht im geringsten; den einen, den sie suchen, der ihr Vorbild ist und ihr Führer und Schützer sein soll, vermögen sie nicht zu entdecken, ihn, den sie sich Sonntags im Talare und Werktags im Schurzfell eines Nagelschmiedes vorzustellen hatten.

Wird man ihn in Mainz wiederfinden? Das ist die Frage, die alle aufs lebhafteste bewegt.

Zur Rechten und Linken des Rheines peitscht der Wind die graugrünen Zweige der Weiden, daß die schwanken Gerten niedertauchen und ihrerseits den Spiegel des Stromes geißeln. Im Vorblick erscheinen noch einmal die heimatlichen Berge des Odenwaldes, aber wie eine Fata Morgana, ferne, unerreichbar und in blauen Dunst gehüllt. Eine Biegung des Stromes zwingt das Schiff, den Kurs zu ändern und sie verschwinden aus dem Auge, dem einzigen Sinnesorgan, das sie noch erreichen konnte, und von jetzt ab stehen sie nur im Gedächtnis der Auswanderer treu und unverwischbar, bis einst die Schatten des nahenden Todes sie auslöschen ebenso wie die nagende Sehnsucht, die Berge wieder zu sehen und das Verlangen, still und bedürfnislos in ihren Wäldern zu ruhen.

Näher treten jetzt die Rebhügel zur Linken des Stromes an die Ufer. Aus dem grünen Meere leuchten wie Rubine in smaragdener Fassung die roten Ziegeldächer behäbiger Dörfer und schmucker Villen, überragt von dem durchbrochenen Stab und Maßwerk gotischer Kirchengiebel und Türme, die den Schmuck ihrer Fialen, Krabben und Kreuzblumen tragen, wie der Mastbaum, Segel und Raaen. Von der Höhe grüßen die Burgen und zeichnen die phantastischen Reste ihrer einstigen Herrlichkeit scharf umrissen in das lichte Blau des wolkenlosen Himmels. Aus den Rebgeländen tönt das muntere Lied des Winzers und aus der unendlichen Bläue des Äthers fällt das Trillern der Lerche hernieder. Welch ein Bild von Behäbigkeit und Glück! Wie überhäuft der Anblick dieses Gottessegens die Auswanderer mit Vorwürfen, daß sie die Ufer des Rheines verließen, um an der fernen Quelle des Missouri das Glück zu suchen. O, wie gerne blieben sie; aber wer gibt ihnen ein Stückchen Land, ihr Häuschen darauf zu stellen? Wer nur so viel Scholle zu eigen, daß sie sich darauf niederlegen und sterben können?

»Raum für alle hat die Erde!« Ja, wohl für alle Toten, aber nicht für alle Lebenden, die sich bewegen und essen und trinken wollen. Der Hunger ist's, der die mückendurchschwärmten Steppen Sibiriens, die übereisten Wälder von Quebec bevölkert, und er treibt auch unsere Reisenden; und die geschäftigen Räder des Dampfbootes schaufeln sie den heimatlichen Strom hinunter in die ungewisse Ferne.

Jetzt kommt zwischen zwei Brückenpfeilern, wie ein Bild in einem Rahmen, Mainz in Sicht. Dies ist die letzte Station, auf der man hoffen kann, daß der Besitzer der Nagelmühle erscheinen und sich seines Versprechens von gestern erinnern werde. Hier mußte es sich entscheiden, ob das Schicksal den Dorfteufel nach der Neuen Welt hinübertragen würde, oder ob es ihn in die Alte zurückstoßen wolle.

Mit begreiflicher Spannung musterte jeder die Gaffer, die am Ufer stehend das Anlegen des Schiffes erwarteten. Konnte man ahnen, daß der Fremde, dem man entgegenharrte, mit Menschenfleisch handelte und nun in Mannheim gefangen saß? Hatte man je gesehen, daß eine Verhaftung sich vollziehen könne, ohne daß dem davon Betroffenen der Ärmel aus der Naht gerissen war, und ohne daß die über das Pflaster geschleiften Kniee blutige Zeichnungen zurückließen? Mochte man die Augen noch so sehr anstrengen, er war nicht aufzufinden. Als dem Knaben zur Gewißheit geworden war, daß er von der Leiter des Glückes herabgestoßen sei, riß er aus seinem Herzen die Gaukelbilder trügerischer Hoffnungen, die ihn seit gestern umschwebten, ging auf den Lorenz zu und überreichte ihm, da er die Bedingungen ihres Vertrags nicht zu erfüllen vermochte, die Harmonika. Dieser aber drückte seinem Landsmann gerührt die Hand und schob das Musikinstrument zusammen mit einigen Silbermünzen in die Westentasche des Dorfteufels. Dann drehte er sich um und zerdrückte im Auge die Tränen, die sich in runden Perlen über den Lidrand zu wälzen suchten; er fühlte sich verlassen, denn zu dem Neff, den er in Bremen treffen sollte, hatte er kein rechtes Vertrauen.

Der Knabe aber verabschiedete sich von allen, schritt mit seinem Bündel über den Steg und pflanzte sich auf den weißen Quadern der Kaimauer auf. Als das Schiff abgefahren war, ging er dem Strome entgegen wieder dem Ziele zu, von dem er ausgegangen war, und erreichte gegen Abend des zweiten Tages die Hopfengärten von Schwetzingen.

 


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