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Die Erkenntnis, die Vater Polykarp sein Leben lang schweigend als drückende Last in sich getragen, seine geheimen Gedanken über das kommende Reich und den Weltführer und Träumer hatte er einem nahestehenden Menschen anvertraut. Der Docht im Öllämpchen knisterte, vor der aufgerissenen Tür gähnte das Dunkel.
Der Mönch atmete langsam und tief, die Hände auf den Tisch gestützt; plötzlich fühlte er eine Unruhe, wandte sich um und schrak vor Überraschung zusammen.
Leisen Schrittes hatte sich Kostja, der Dienstbruder des Abtes, in die Zelle gestohlen und stand, mit den rotumränderten Augen blinzelnd, stumm vor dem schwarzen Mönch.
Jahrelang hatte der wortkarge Novize über alles geschwiegen, jetzt aber hatte es ihn gepackt; heimlich, scheue Blicke um sich werfend, hatte er sich hergeschlichen und als Erleichterung empfunden, daß die Tür offen stand und er nicht zu klopfen brauchte; lautlos war er in die dunkle Zelle getreten. Er verstand nicht zu reden, wußte nicht, wie beginnen, wagte nicht, sich zu rühren; seine langen schmalen Hände hingen hilflos hinab, die windzerzausten weißblonden Haare fielen ihm in Strähnen auf die Schultern, die blutlosen Lippen bewegte lautlos ein willensschwacher Hauch; die ganze scheue Gestalt wirkte mitleiderregend, und vor Mitleid mit sich selbst weinte Kostja des Nachts und stieß verhaltene Seufzer aus, sich in Qualen über seine Sündhaftigkeit verzehrend. Bei dem Gedanken an das Leben des Abts traten ihm vor Verzagtheit und Verwirrung die Tränen in die Augen; die nie gekannte Todsünde, die fleischliche Sünde ging hier um, Geld raschelte, das der Abt wohl durch Raub, vielleicht durch Mord an sich gebracht haben mußte! …
Als heimatloses Waisenkind, das hinter Zäunen schlief, hatte er, weil er in seiner Scheu nicht zu betteln wagte, auf den Märkten im wimmelnden Menschengewühl Brotstückchen, Brezeln, Äpfel gestohlen, die Beute im Busen verborgen, gehetzte Blicke um sich werfend sich davongemacht, irgendwo hinter einem Müllhaufen gierig, ohne zu kauen, das Gestohlene hinuntergeschlungen. Wurde er dabei erwischt, so nahm er die Schläge demütig hin, nur sein blutloser kleiner Körper zuckte, und die Lider mit den weißlichen Wimpern schlugen heftig auf und ab. Die Händler schlugen blindlings mit allem, was ihnen gerade unter die Hände kam, auf ihn ein, erbittert über das wortlose kleine Geschöpf, bis es leblos zusammenbrach. So hatte ihn einst eine Meerrettichhändlerin vom Wege aufgelesen, einen schmutzigen Lappen in das Wasser getaucht, in dem der Meerrettich weichte, und ihm das blutüberströmte Gesicht abgewischt. Dann hatte sie ihn auf einer Wallfahrt ins Waldkloster mitgenommen. Das ofenwarme Klosterbrot und der Brotkwas – nicht gestohlenes Essen! – hatten ihm süßer gemundet als Honig.
In der Menge war er abhanden gekommen; die Mönche fanden ihn und behielten ihn im Kloster als Dienstbruder.
Jedem mußte er Handlangerdienste tun, bekam von den Mönchen auch oft einen Klaps; aber niemand hier machte ihm einen Vorwurf daraus, daß er essen wollte. Dann wurde er Dienstbruder bei dem heiseren Vater Ipat, der ihn mißbrauchte. Der Junge weinte und schämte sich so, daß er des Morgens nicht wagte, die Augen zu dem Mönch zu erheben; die Schmach brannte ihm in der Seele, und ihm schien, daß es leichter gewesen war, die mörderischen Schläge der Händler zu ertragen als dieses. Als er beim erstenmal vor dem Mönch in Schluchzen ausbrach und sein schmaler, mädchenzarter Leib krampfhaft zuckte, fuhr ihn Vater Ipat mit seiner knarrenden Stimme schwer atmend an:
»Ach, du alberner Bengel! Ich jag dich fort, und was machst du dann?«
Das blieb für immer in seiner Seele haften als beständige Drohung, dies:
»Ich jage dich fort!«
Und bitter schmeckte ihm nun das freigebig gespendete Klosterbrot.
Wortlos hielt er durch, bis Vater Ipat starb. Abt Gerwaßij hatte Mitleid mit dem verschüchterten Jungen und nahm ihn zu sich als Dienstbruder. Auch er sprach zu ihm:
»Ich jage dich fort, wenn du je ein Wort über den Abt sagst. Hörst du, ich jage dich fort!«
So hatte denn Bruder Kostja seit Jahr und Tag auf alle Fragen immer nur eine Antwort:
»Ich weiß nicht … Ich habe nichts gehört … Ich war nicht dabei …«
Die Todsünde – Fleischeslust – bedrängte ihn und schien ihm ein Fluch; vor Verzweiflung weinte er des Morgens auf seinem Lager und seine kurzsichtigen Augen blinzelten verzagt.
Der Abt sah sich den Novizen an und scherzte gutmütig:
»Kostja, ich glaube gar, du sündigst in aller Heimlichkeit?«
Kostja ließ den Kopf hängen und blieb stumm.
»Du solltest mal nach Polpenki zu den Weibern gehen, sonst reibst du dich auf, wirst bloß und elend.«
Bruder Kostja stand reglos da und blinzelte mit den Augen; in seinen Ohren dröhnte es, und die Tränen waren nahe.
»Na, na, troll' dich! Ich habe ja bloß gescherzt, Kostja …«
Lange Jahre hatte er in der halbdunklen Zelle Weihrauch geatmet und die Feuchtigkeit der Steinwände. Seine kurzsichtigen Augen sahen alles, seine Ohren hörten alles; an Schweigen und Stille gewöhnt, vernahm er das leiseste Flüsterwort mit ungewöhnlicher Deutlichkeit; er sah, hörte, schwieg. Er lebte vergessen, ging allen aus dem Wege – und litt. Er erinnerte sich der Tage, da der Heilige kanonisiert wurde, und an alle die Vorbereitungen dazu – bohrte den Blick in die Erde, mied nach Möglichkeit den Abt und starrte Vater Polykarp bei seinen Besuchen ängstlich an, zitterte vor seinem Blick, haschte nach jedem der herrischen Worte des Schwarzen. Der schwarze Mönch hatte es ihm angetan, und als Vater Xanfij in leisem Flüsterton endlos mit dem Abte tuschelte, hatte sich Bruder Kostja lautlos davongestohlen.
Vater Polykarp zuckte bei seinem unerwarteten Anblick zusammen, fuhr den Novizen an:
»Was willst du?«
Kostjas magere Hände hoben sich zum Schutz vor dem flammenden Blick, streckten sich zitternd dem Mönch entgegen; Kostja sank auf die Knie und flüsterte mit tonloser Stimme:
»Vater Xanfij und der Abt wollen den Vater verraten, vernichten …«
»Wen?«
»Unseren demütigen Meister …«
Ein Blick des Mönches, aus dem herbes Mitleid sprach, traf den Knieenden.
»Steh auf!«
Der Novize richtete sich auf, seine kurzsichtigen Augen haschten nach dem Blick des Mönches.
»Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen!«
Bruder Kostja verneigte sich wieder, mit der Hand den Boden berührend.
»Geh. Ich fürchte nichts! Ohne den Willen des Herrn fällt auch nicht ein Haar von dem Haupte des Menschen. Große Tage sind gekommen …«
Unhörbar entfernte sich der wortkarge Novize, der zum ersten Male im Leben so viel gesprochen hatte. Er schritt durch das Dunkel und flüsterte vor sich hin:
»Große Tage, große …«
Bruder Boris trat zurückkehrend durch die offene Tür; er hatte stürmisch die herbstlich kühle Luft in sich gesogen, die nach welkenden Fichtennadeln und Waldkräutern roch. In seinen Ohren klang noch die Stimme des Lehrers; in dieser Nacht hatte er ihn in flammender Begeisterung gesehen. Er konnte es nicht fassen: in einem Augenblick war der Glaube seiner Kindheit zusammengebrochen, das Neue aber, das aus dem Wahnsinnstraum des Meisters sprach, war noch nicht sein geworden. Und ein Gedanke quälte ihn …
»Frage! Ich will dir auf alles Antwort geben.«
Boris sagte nur ein Wort:
»Ein Wunder um des kommenden Reiches willen …«
»Ein Wunder? …«
»Da nun aber die Tage seiner Wiederkehr, die großen Tage des kommenden Reiches angebrochen sind, wird dieses Reich selber zum größten der Wunder, vor dem alle anderen Wunder der Menschen verblassen, und der Mensch wird das letzte Wunder, das Wunder seiner Wiederkehr verwirklichen – die Weltrevolution.«
»Er wird wiederkehren? …«
»Ja. Er ist mitten unter uns, unsichtbar, er hat die ersten Vorläufer unserer Tage begeistert – Fourier, Saint-Simon –, die die ersten Steine des kommenden Reiches legten …«
»Eine Utopie …«
»Gleich der, die in den Tagen nach Christi Auferstehung anhub.«
»Der nur geschlummert hatte?!«
»Sein lethargischer Schlaf hätte wochenlang oder bloß einen Tag währen können, um des Wunders willen dauerte er drei Tage, wie Jesus es verkündet hatte. Die Jünger aber vernahmen keines der Worte, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was da gesagt war. So begriffen sie auch nicht des Lazarus' Auferweckung, der gleichfalls nach drei Tagen auferstanden war.«
Bis tief in die Nacht hinein fielen Vater Polykarps Worte in Boris' von Aufruhr erfaßte Seele. Ein neues Bild erstand vor ihm, das Bild des Führers und Meisters, der Wunder wirkte um des kommenden Reiches willen.
Er trat auf die Treppe hinaus, lauschte auf das dunkle Rauschen des Waldes, das dem Anbruch des Morgens vorangeht, glaubte aus dem Erdreich aufsteigende Stimmen zu hören, denen er entgegenstrebte, kehrte wieder in die Zelle zurück.
»In Blut wird der Mensch empfangen, in Blut geboren; auch seine Wiedergeburt zum neuen Leben führt durch Blut, durch das Blut und die Leiden der Revolution zum kommenden Reich, das die Jünger des Meisters errichten.«
Die schlaflose Nacht wich einem feuchten trüben Morgen.
Jetzt war keine Zeit mehr zu Gesprächen und Gedanken; Vater Polykarp war mit Boris und den ihm ergebenen Mönchen auf den Gemüsefeldern am Fluß beschäftigt.
Pralle Kohlköpfe fielen knirschend auf den Wagen.
Vater Polykarp sprach:
»Lehnt euch nicht auf, bleibt ruhig, hört nicht auf törichte und erregende Reden von Menschen, die die Wahrheit versuchen. Denn alles solches muß geschehen.«
»Sollen wir unsere Zellen nicht verlassen? …«
»Versammelt euch nicht in Gruppen, erregt durch eure Mienen keinen Anstoß. Auf Fragen antwortet: Wir arbeiten!«
Durch die Zellen der alten Mönche ging vom frühen Morgen an ein dumpfes Geflüster:
»Wir lassen das Heiligtum des Herrn nicht schänden …«
»Wir sterben zu Füßen des Heiligenschreins …«
»Er wird ein Wunder wirken, ein gewaltiges Wunder … Achtet der Zeichen …«
Vater Xanfij schloß sich mit Vater Akindin, dem Verwalter des Verkaufsladens im Kloster, in dessen Zelle ein.
»Bei Anbruch der Nacht … Nur ganz zuverlässige Väter … Einen Eid müssen sie ablegen, Schweigen geloben …«
Vater Akindin rieb sich die Hände, zupfte an seinem weißen Spitzbärtchen.
»Zum Herrn hat er sich hier gemacht, herrscht, wie es ihm beliebt, führt die Bruderschaft in Versuchung … Ha, die Kleingläubigen werden entsetzt auseinanderstieben … Dann ist's aus und zu Ende mit dem Antichrist, aus und zu Ende …«
Die Starezen versammelten sich vor der Waldeinsiedelei des greisen Vaters Akakij, um seinen Rat einzuholen.
Vor der Tür warteten sie auf sein Erscheinen.
Der Wind strich mit herbstlichem Brummen durch den Wald, dicht über den Fichten hingen Fetzen trüber Wolken, schlängelten sich in feuchten Nebelschwaden an den Stämmen herab. Ein Windstoß fuhr dazwischen, und zerfetzte Wolkenballen, die sich aus dem Walddickicht, aus dem zottigen Wurzelgewirr zu lösen schienen, jagten in grauen Rauchwirbeln dahin.
Die Starezen murmelten und flüsterten.
»Den Heiligen muß man in die alte Kirche bringen und in sein früheres Grab legen …«
»Im Grabgewölbe einmauern! …«
»Die Helfer des Schwarzen werden das nicht zulassen!«
»Sie werden nicht wagen, dazwischenzutreten! Der Zorn des Heiligen würde wie eine Feuersäule über sie stürzen …«
Der greise Vater Doßifej, auf seinen knorrigen Krückstock gestützt, schnarrte, mit seinem Buckel wackelnd:
»Man musch ihn in den Wald tragen – an einen geheimen Ort – nachtsch, – mit Pschalmengeschang – mit brennenden Kertschen – die gantsche Bruderschaft.«
Mühsam erhob sich Vater Akakij von seiner Holzbank. Hoch und hager, mit den gestickten weißen Totenschädeln, dem langen weißen Bart in Form eines Handtuchs, trat er auf die Treppe hinaus, hörte die Erklärungen der Starezen an, den Blick über die hohen schwarzen Kappen der Mönche hinweg auf die niedrigen zerwühlten Wolken gerichtet, lauschte auf den brummenden Wind im Walde, und sagte schließlich in klar hörbarem Flüsterton, zwei Reihen großer gelber Zähne entblößend:
»Versuchet den Herrn nicht! …«
Ein allgemeines unzufriedenes Gemurmel erhob sich, einer fiel dem anderen ins Wort. Stimmen, schnarrend wie knarrende Fichten, entgegneten dem Starez.
»Den Antichristen zu Hohn und Schändung sollen wir den Heiligen überlassen! …«
»Unseren heiligen Simeon …«
»Entweihung der heiligen Stätte … der Bruderschaft …«
Der greise Vater Doßifej zwängte sich humpelnd durch die Gruppe der Mönche und zischelte, mit seinem Krückstock auf den Boden klopfend:
»Habt ihr gehört, Schtaretschen, habt ihr gehört? … Verschuchet den Herrn nicht, die Wahrheit hat der Schtaretsch geschagt, die Wahrheit …«
Die Runzeln in seinem Gesicht wogten vor Erbitterung hin und her.
Vater Akakij stand lange reglos da, lauschte dem Schelten und Streiten der Greise untereinander und antwortete auf keine der an ihn gerichteten Fragen. Dann sah er den alten Vater Doßifej streng an und reichte ihm die Hand. Die Bruderschaft verstummte. Vater Doßifejs Blicke huschten geschäftig und unruhig über die Mönche, seine Augen weiteten sich erregt, die Hand mit dem Krückstock zuckte, und die Eisenspitze seines Stockes fuhr auf einer Steinfliese kreischend hin und her.
Der greise Vater Akakij sammelte alle seine Kräfte und sagte, ohne Vater Doßifejs Hand frei zu geben:
»Versuchet den Herrn nicht, denn alles im Leben des Menschen ist eitel und ein Jammer.«
Er verstummte.
Die Mönche gerieten wieder in Erregung.
»Man muß den Vater Abt holen …«
Ein hagerer, knochiger Greis eilte fort und kehrte mit der Nachricht zurück, daß Abt Gerwaßij nicht zu finden sei.
»Ich habe nachgefragt, wo er wohl sein mag, aber niemand wußte es. Der Pförtner hat ihn nicht gesehen. Auf dem Viehhof aber lachen sie. Eine große Heimsuchung schickt uns der Herr.«
»Bruder Kostja muß es wissen, Bruder Kostja!«
»Der Wortlose bleibt stumm, blinzelt nur mit den Augen.«
Doßifej zischelte:
»Holt den Schwartschen herbei, den Schwartschen …«
»Den Antichrist?!«
»Er ischt an allem schuld, er musch auch wischen, wasch tun … Den Demütig-weischen fragt! …«
Verwirrt und murrend schlichen die Starezen mißmutig auseinander.
Vater Akakij war wie erstarrt auf der Treppe stehengeblieben und sah den Greisen nach, bis der letzte Mönch hinter der Pforte der Einsiedelei verschwunden war; müde hob er den Kopf, wandte sich um und flüsterte, in seine Zelle tretend:
»Alles unter der Sonne ist eitel und Jammer.«
Er legte sich auf die Bank, streckte sich lang aus, lag dünn und dürr da, kreuzte die Hände über der Brust und bewegte in stillem Gebet stumm die blutlosen Lippen. Sein Blick blieb an einem Punkt hängen und wurde reglos …
Waßja der Blöde – zottelhaarig, in verschossener Kutte – lief seit dem frühen Morgen aufgeregt im Kloster hin und her, fing jedes Wort auf und murmelte vor sich hin.
»Ich rufe zu dir, Herr! Herr, erhöre mich, deinen unwürdigen Knecht! Das Ende dieser Welt bricht an – so komme denn der Sohn in himmlischem Glanz und schlage den Antichrist, zertrete der Schlange den Kopf … Herr, mein Herr! …«
Zusammen mit den Mönchen verließ er die Einsiedelei, schlug einen Bogen um das Kloster, erblickte Vater Polykarp, der von den Gemüsefeldern kam, fuchtelte mit den Armen in der Luft umher und stürzte zurück in den Wald.
»Der Antichrist kommt, der Antichrist! …«
Er drang in die Einsiedelei ein und verbarg sich, verstörte Blicke um sich werfend, in der Zelle des greisen Vaters Akakij. Mit offenem Munde blieb er im Zimmer stehen, erschreckt über die Reglosigkeit des Greises. Ein trübes Häutchen hatte die starren Augen des Mönches überzogen, reglose Fältchen und Runzeln bedeckten die über der Brust gefalteten Hände, an den Fingernägeln hatten sich bläuliche Halbkreise gebildet.
Waßja riß die Augen auf, sank vor der Eichenbank auf die Knie und rief:
»Vater Akakij, sprich, belehre mich, hilf!«
Der Starez schwieg, durch das geöffnete Luftfensterchen drang ein Windhauch und bewegte die Spitze des handtuchförmigen weißen Bartes.
Der Blöde schlug mit der Stirn gegen die Bank, der Leichnam erzitterte hilflos und erstarb wieder.
Waßja stürzte wie gehetzt aus der Zelle. Als hätte Vater Akakijs Tod ihm das Recht zurückgegeben wie in früheren Jahren zu schreien und zu toben, murmelte er nicht mehr halblaut vor sich hin, sondern schrie jedem ungestüm ins Gesicht:
»Der Starez ist zu Gott eingegangen! … Zu Gott!«
Schwarze Schatten huschten durch das Dunkel.
Bei Vater Akindin hatten sich die alten Mönche versammelt und warteten auf den rothaarigen Vater Xanfij.
In der neuen Kathedrale wurden ununterbrochen Messen gelesen; es herrschte ein trübes Halbdunkel, das Lesen der verschnörkelten Schriftzeichen griff die Augen schmerzlich an, doch mußte jetzt mit jedem Kerzenstümpfchen gerechnet werden. Über dem Schrein des Heiligen brannten drei ewige Lämpchen, das reliefierte Silber des Sarkophags schimmerte matt in kargem Glanz, über die schwarze verhüllte Gestalt war eine Brokatdecke gestreift, die gestickten. Schädel auf der hohen Kappe glommen weißlich. Aus der Kuppel hallten Flüsterworte zurück und schlüpften als Lautschatten in alle dunklen Winkel. Mönche gingen, andere kamen. In einiger Entfernung blickten sie auf den Heiligenschrein und beteten um ein Wunder.
Vater Xanfij kam mit dem Abt zu Vater Akindin, zufällig hatte er ihn gefunden.
Nikolka hatte in der Nacht nach der Ankunft des rothaarigen Vaters Xanfij nicht einschlafen können. Bis zum Morgen raschelte und klang leise Geld unter seinen zählenden Fingern.
Seit der Kanonisierung des Heiligen und während des Krieges hatte er Goldstücke gesammelt, hatte Kaufleute um solche gebeten, seine Hundertrubelscheine gegen Goldstücke gewechselt, die Sammelbüchsen auf Gold hin geprüft und aus dem Erwerb schmale Rollen gewickelt.
Durch das Schlüsselloch drang ein feiner Lichtstreifen in das Empfangszimmer, in dem Vater Xanfij, sich unruhig auf dem Diwan hin und her werfend, knurrend schnarchte.
Kostja kehrte lautlos von Vater Polykarp zurück, blickte ins Empfangszimmer – aus einem dünnen Lichtstreifen hallte ein leises Klingen. Er trat zur Tür, horchte – ein goldhelles Tönen drang klar durch die Stille.
Kurz und schnell klopfte er mehrmals gegen die Tür und murmelte das Eintrittsgebet vor sich hin.
Der Abt zuckte zusammen, stieß gegen den Tisch, eine hoch aufgeschichtete Säule aus goldnen Fünfrubelmünzen schwankte, kippte um, die Münzen rollten kichernd über den Fußboden in alle Ecken und Winkel. Nikolka schoß das Blut heiß ins Gesicht, er sprang empor, riß die Tür auf.
»Wer ist da? Was gibt's!«
Kostja blinzelte mit den weißlichen Augen, trat schweigend ein, blieb an der Tür stehen.
Der Abt stellte sich dicht vor ihn, um den Tisch seinen Blicken zu entziehen.
»Was willst du?«
Der weißlich-blonde Novize beugte den Kopf vor und flüsterte:
»Sie haben mich gerufen …«
»Ich habe dich nicht gerufen, keineswegs …«
»Mir schien …«
Es war besser, gute Miene zum bösen Spiel zu machen; der Abt trat an den Tisch.
»Hilf mir beim Sammeln.«
Auf allen Vieren krochen sie zusammen auf dem Fußboden herum; trübe flackerte ein Wachskerzenstummel in Nikolkas Hand. Er sammelte die Goldstücke vom Boden auf und sprach im Flüsterton:
»Die Antichristen kommen und nehmen's weg, dann kriegen's die Juden … Man muß es vergraben, im Walde verbergen – für die Bruderschaft …«
Kostja hob schweigend die goldnen Scheibchen auf und legte sie auf den Tisch. Alle Ecken waren abgesucht.
»Geh, Junge, leg' dich schlafen! … Ich hatte dich aber nicht gerufen.«
Der wortkarge Novize ging. Nikolka schüttete das Gold in kleine Ledertäschchen, wog sie auf der flachen Hand, lächelte unruhig bei dem Gedanken: »Das reicht für das ganze Leben … für mich … und für Soßja.«
Durchs Fenster brach die fahle Dämmerung, Glockengeläut rief zur Frühmesse. Abt Gerwaßij steckte die kleinen Lederbeutel in die Hosentaschen, die Blechbüchse – es war eine alte Teebüchse – mit den Zarenscheinen in die Kutte und trat ins Vorzimmer. Bruder Kostja sprang von der Truhe auf.
»Schließ die Tür, ich gehe zur Messe …«
Schwarze Schatten zogen sich zur Kathedrale. Nikolka schritt geschäftig in der Richtung nach dem Speisesaal. Die mit Münzen vollgepfropften Taschen erschwerten das Gehen. Er bog nach dem Viehhof ab, schloß klirrend die kleine Nebenpforte am hinteren Tor auf und trat ins Freie. Sein Herz pochte unruhig. Sich im Nebel verbergend, eilte er über die Wiese, überschritt die Brücke, schlug, sich am Waldrand haltend, einen Bogen um den Viehhof und die Ziegelbrennerei und ging eilig auf die Landhäuschen zu. Die Fichten rauschten dumpf, kalt umschlich ihn der Nebel. Er kletterte über den Gartenzaun; die Landhäuschen, außer einem, standen leer, die Flüchtlinge aus der Kampfzone hatten anderweitig Unterkunft gefunden. Leise und gleichmäßig klopfte er an den Fensterrahmen und blickte, das Gesicht an die Scheibe gepreßt, ins Dunkel, bis ein Flämmchen aufzuckte; es ging aus, leuchtete aufs neue auf – die Streichhölzer erloschen erschreckt. Im Nachthemd, in dem noch die Wärme des Schlafes hing, drückte Soßja den Mund gegen den Fensterrahmen und fragte erschrocken:
»Wer ist da?«
»Soßja, Soßenka, ich bin's, öffne schnell!«
Er blieb am Fenster stehen, sah, wie sie den Schlafrock ihrer Mutter anzog, Morgenschuhe über die nackten Füße streifte.
»Was willst du? Was ist geschehen?«
Sie flüsterten im dunklen Gang, erregt, abgerissen.
»Sie kommen, um den Reliquienschrein des Heiligen zu öffnen – wir müssen fliehen, gleich, heute noch … Ich bringe dir … hier, hebe es bei dir auf. Vielleicht durchsuchen sie unsere Zellen.«
Er zog die Säckchen aus den Taschen, fand im Dunkel ihre Hand.
»Hier, Gold – verbirg es gut … Es reicht für unser ganzes Leben …«
Erfreut hüllte sie ihn in eine Wolke von Wärme und Zärtlichkeit.
»Wann kommst du uns holen? …«
»Gegen Abend, sobald es dunkel geworden ist … Wir gehen durch den Wald bis zur Nachbarstation …«
Mit der freien Hand umschlang sie seinen Hals, drückte ihren Mund auf den seinen, flüsterte:
»Liebster, komm bald … Ich erwarte dich.«
Er holte die Blechbüchse hervor.
»Hier … Ich muß den ganzen Tag im Kloster bleiben, damit niemand Verdacht schöpft … Am Abend also! …«
Er verschwand in der Dunkelheit, lief wieder hinten herum ins Kloster. Der nebelumwogte Morgen schlich langsam heran. Abt Gerwaßij zelebrierte in der neuen Kathedrale die Messe vor der versammelten Bruderschaft.
Soßja stand eine Weile unbeweglich im dunklen Gang, ein Kälteschauer durchrieselte sie, da erwachte sie aus ihrer Versunkenheit, spürte die Last in ihrer Hand und lief ihre Mutter wecken.
Hastig machten sich Mutter und Tochter daran, ihre Sachen zu packen, plötzlich aber fiel es Soßja ein, daß sie ja zu Fuß gehen müßten.
»Lassen Sie all den Krimskrams! Wir müssen unbemerkt entschwinden, zu Fuß …«
»Was? Was sagst du da, Soßja? Du bist wohl verrückt geworden … Zu Fuß?! Und meine Sachen? …«
»Dann bleiben Sie eben auf Ihren Sachen sitzen, ich komme auch allein fort …«
»Er wird uns doch abholen …«
»Ja, meinen Sie denn, ich hätte diesen Bären umsonst geküßt! Das hätte gerade noch gefehlt, daß wir auf ihn warten! Sie haben doch selbst immer von seinem Gelde gesprochen, haben mich selbst auf ihn aufmerksam gemacht, und jetzt sollen wir ihn noch mitnehmen?! …«
»Das geht doch nicht, Soßja … Er hat uns das Leben gerettet …«
»Auf Ihre alten Tage haben Sie sich wohl in ihn verliebt?«
»Ach, Himmel, Soßja, was redest du da! … Ich meinte, du liebtest ihn …«
»Meinetwegen können Sie hier Reden halten, ich gehe! Für das Geld kann ich mir alles kaufen, was ich haben will – es sind Goldstücke!«
Den ganzen Tag lief der Abt im Kloster ruhelos hin und her, ging in die Klosterbäckerei, saß eine Weile in sich versunken da. Plötzlich fuhr ihm etwas durch den Sinn, er sprang auf, eilte zu Vater Akindin, dem Verwalter des Ladens, ohne zu wissen, warum. Er lebte nur in dem Gedanken an den Abend – da sollte ein neues Leben beginnen, ein ganz neues Leben.
So war Vater Xanfij seiner erst habhaft geworden, als die Dämmerung anbrach, und hatte ihn wieder zu Vater Akindin geführt.
»Ohne Abt ist die Bruderschaft wie eine Herde ohne Hirt …«
Der rothaarige Mönch, durch die Wassersucht gedunsen, blickte die versammelten Starezen mit einem gerührten Lächeln an.
»Väter, gestattet einem Unwürdigen …«
Er sprach in halb singendem Tonfall, langsam, mit schmelzender Stimme, wobei er sich die kalten, schweißnassen Hände rieb.
»In den Sarkophag legen wir den jüngst zu Gott eingegangenen Starezen Akakij, den Heiligen aber verbergen wir im Walde …«
Hilflos klammerten sich die alten Mönche an jedes Wort, das Hoffnung zu verheißen schien.
In Vater Akakijs Zelle trafen sie den Hieromonach Polykarp und die jungen Mönche.
In Erwartung der Überführung der Leiche in die neue Kathedrale las Boris vor dem Sarge den Psalter.
Seelenmessen wurden ohne Unterbrechung gelesen, die Mönche lösten sich dabei der Reihe nach ab.
Dem Abt gelang es nicht, sich von Vater Xanfij zu befreien; der Sendling des Bischofs suchte unermüdlich nach einem Ausweg und hielt sich an Gerwaßijs Seite. Der Abt gab zerstreute Antworten, suchte zu entkommen, und konnte doch nicht fort. Unablässig, bohrend, quälte ihn der Gedanke: »Sie erwartet mich, Soßja wartet … Ein neues Leben …«
Vorhin, als sie Vater Akindins Zelle verließen, hatte Vater Xanfij dem Abt zugeflüstert:
»Vier sind hingegangen … mit Vater Mißail …«
Nikolka hatte ihn verständnislos angestarrt und war wieder in sein Brüten versunken. Er schob sich die hohe Kappe bald in die Stirn, bald in den Nacken, zupfte an seiner Kutte, steckte die rechte Hand in die Tasche, wo das Geld gelegen hatte, seufzte schwer und wußte nicht, wie er sich von Vater Xanfij befreien könnte. Das Blut pochte in seinen Schläfen: Sie wartet, wartet auf mich, ich muß fort, zu ihr!
Aus dem Walde hallte der schwache Widerhall eines langgezogenen Pfiffs …
»Der Abendzug! … Aber der Nachtzug bleibt uns noch …« Beruhigend sprach er leise auf sich ein:
»Das ist so noch besser … Mit dem Nachtzug kommen wir eher unbemerkt fort …«
Der Leichenzug kam durch die heilige Pforte langsam ins Kloster gezogen, die Flämmchen der Kerzen schimmerten wie goldene Pünktchen. Schwer schwankte der starke Eichensarg auf den Schultern der Mönche. Kräftige Stimmen sangen gedehnt: Der Herr sei seiner Seele gnädig …
Da drang aus dem Walde ein Dröhnen; ein Gurgeln und Plätschern strich über die Erde.
Vater Polykarp schrak zusammen, neigte lauschend den Kopf.
Der Lärm kam näher, brummend und heulend.
Schwarze Schatten hatten sich auf den Staudamm der Mühle geschlichen, die Bolzen gelöst und ins Wasser geworfen. Durch den Wald eilten sie zurück ins Kloster. Schwer wie Lava brachen die Fluten durch die Schleuse. Wasserwirbel kreisten um die Pfähle. Vater Mawrikij stürzte mit seinen Söhnen auf den Damm und schrie wie besessen:
»Hilfe! Hilfe! …«
Dann stürmte er nach Polpenki, um die Bauern aus dem Dorf herbeizuholen.
Die Wasserwirbel untergruben die Pfähle des Wehrs. Die lawinenartig hereinbrechenden Fluten spülten das Geländer weg, rissen die Pfähle auseinander, stürzten über den Damm. Schnatternd stießen Scharen von Wildenten, auf dem Wanderzug begriffen, aus dem See in die Luft; durch das Schilf rann ein Rauschen.
Mit Schaufeln und Laternen kamen die Bauern gelaufen. Schreie ertönten:
»Die Elenden! … Feuer ins Kloster … Wir verbrennen sie bei lebendigem Leibe!«
Sie kamen nicht mehr an den Damm, ein Krachen ging durch den Wald, der Damm war durchbrochen, die Eichenpfähle knickten unter dem Anprall des Wassers wie Strohhalme.
Bruder Alexej, müde von der Arbeit, lag in tiefem Schlaf in seiner Laubhütte auf den Gemüsefeldern. Das Wasser ergoß sich über die niederen Überschwemmungswiesen. Durchnäßt sprang er auf, stürzte aus der Hütte und jagte ins Kloster. Die Hütte erzitterte und schwamm schaukelnd langsam davon, Stroh und Reisig lösten sich aus dem Ballen, der langsam auseinanderfiel und in der Dunkelheit verschwand.
Der Sarg mit dem Leichnam des Vaters Akakij wurde gerade in die Kathedrale getragen, als vom Fluß her das Gurgeln und Glucksen erschallte; der offene Sarg auf den Schultern der Mönche geriet ins Schwanken. Vater Polykarp schrie: »Haltet ihn!« Arme fuhren hoch, stützten den Sarg, die Leiche erzitterte unter den Stößen, die über der Brust gefalteten Hände lösten sich, fielen schwer herab, baumelten hilflos hin und her.
Die Tragenden beschleunigten ihre Schritte, der Sarg wurde niedergesetzt, die Mönche umringten Vater Polykarp.
In seine Stirn hatte sich über dem Nasenrücken eine Furche, scharf wie ein Pfeil, gegraben, die schwarzen Brauen flossen ineinander. Er hob die Stimme, sprach barsch und herrisch, zwingend hielt sein Auge die Blicke gefesselt.
»Brüder, die Frucht unserer Arbeit können wir nicht mehr retten – Naturgewalten kennen kein Mitleid. In der Dunkelheit sind wir hilflos. Werdet nicht kleinmütig! Die uns vernichten wollten, haben falsch gerechnet. Bei der Einsiedelei macht der Fluß eine Biegung nach rechts. Der Ansturm der Flut wird das steile Ufer unterspülen, dann stürzen die Fichten ins Wasser und bilden einen Staudamm. Nur die nahe am Ufer liegenden Beete werden fortgeschwemmt werden. Jetzt aber lasset uns beten, und vergeßt nicht: der weise Mönch strebt nach Gelassenheit und Zuversicht. Große Tage der Heimsuchung geben dem Gläubigen auch große Kräfte.«
Die alten Mönche versammelten sich vor der Kirchentür.
Vater Doßifej stieß mit der Krückstockspitze auf die Steinfliesen und schnarrte:
»Der Schtaretsch Akakij liegt nun im Tempel, wir aber, Brüder, wir müschen … Meidet den Antichrischt, dasch ihr nicht in Verschuchung fallet … Laschet unsch Loblieder schingen … Der Herr weischt unsch den rechten Pfad … Scheine Hand hat die abtrünnigen Mönche geschlagen, ihr Mühen schieht der Herr nicht gnädiglich an. Unscher Heiliger Schimeon hat ein groschesch Wunder vollbracht – er hat die Brunnen der Tiefe geöffnet, dasch ein groschesch Wascher ward und dasch Werk desch Schatanasch unterging …«
Vater Xanfij rieb sich die Hände, zwinkerte mit den Augen, flüsterte:
»Die Unwürdigen sollte man aus dem Tempel jagen, die Abtrünnigen!«
Vater Doßifej fuhr fort, und sein Buckel wackelte.
»Unscher Heiliger hat ein Wunder vollbracht, ein groschesch Wunder – ein Tscheischen gegeben, dasch er die Unwürdigen in scheinem Tschorn vernichten wird im feurigen Ofen … Insch höllische Feuer mit den Dienern der Hölle! …«
In die Kapelle im Kellergewölbe der alten Kathedrale, wo ein ewiges Lämpchen über dem Grabstein des Heiligen Simeon brannte, schlich sich Waßja, stürzte zu Boden und stotterte, in Angst und Schrecken vor Gottes Zorn und der Verwirrung der Mönche, Gebete, bald murmelnd, bald schreiend. Zufällig berührten seine Hände die alten eisernen Bußketten des Heiligen. Einen Augenblick erstarrte er, zuckte zusammen, riß die Ketten an sich, streckte die Füße, die mageren Hände durch die verrosteten Ringe und lief, sich in Kette und Kutte verfangend, die Hände zum Himmel erhoben, klirrend durch den Klosterhof nach der neuen Kathedrale. Unterwegs traf er Vater Ionikij. Der Glöckner irrte den ganzen Tag, finster und stumm, wie gestört umher, lauschte fassungslos den Gesprächen, starrte die aufgeregten Mönche verständnislos an.
Waßja schrie ihm zu:
»Glöckner, verkünde den Ruhm des Herrn – der Sohn des Menschen kommt mit einer Engelsschar, um die Unwürdigen zu richten mit höllischem Feuer. Verkünde das den Mönchen.«
Wild stierte er Vater Ionikij an und rasselte mit den Ketten.
Erschrocken über die Botschaft von der nahenden Stunde des Gerichts stieg der Glöckner eilig auf den Glockenturm und zog die Stränge, um es der Bruderschaft zu verkünden.
Gebeugt unter der Last der Eisenketten lief Waßja auf die vor der Kirchentür versammelten Starezen zu und fuchtelte kettenklirrend mit den Händen. Er griff Vater Doßifejs letzte Worte auf und rief:
»In den feurigen Ofen! … Und er schrie mit gewaltiger Stimme … Vater, warum hast du mich verlassen, warum hast du mich in das Fegefeuer gestoßen zusammen mit den Ungläubigen … Vater, warum hast du mich verlassen! …«
Die Greise flüsterten:
»Vater, warum hast du uns verlassen?! Schlage sie mit dem Zorn des gerechten Gerichts – wirf sie in den feurigen Ofen! …«
Vater Doßifej hob seinen Krückstock und schüttelte ihn vor Waßjas Gesicht, der seine Ketten rasseln ließ.
»Schlage schie mit deinem gerechten Tschorn, schlage schie, Waschja, Liebschter – auf deine Worte werden schie acht geben!«
Der Blöde stieg hastig die Stufen hinauf.
Vater Doßifej klopfte mit dem Krückstock und rief:
»Mit dem Munde scholcher Geringen weischt unsch der Herr scheine Wege …«
Auch er humpelte die Stufen empor, dem Blöden folgend. Durch die Reihen der Mönche ging eine Bewegung; sie schritten den beiden nach.
Der Blöde hatte aber kaum die Hälfte der Freitreppe erklommen, als aus dem rötlichen Halbdunkel der Kirche der schwarze Mönch hervortrat – groß, hager, gestreng.
Bei seinem Anblick wankte Waßja, wandte sich ab und floh die Stufen hinab.
Im gleichen Augenblick begann die große Glocke, von Vater Ionikijs Hand geschwungen, abgerissen zu läuten; es zog wie ein Klagen durch die Luft, und im Widerhall aus dem Walde vermischten sich Glockengeläut und Rauschen des Wassers mit dem Dröhnen der fallenden Fichten; die knorrigen Wurzeln barsten, und krachend stürzten die Stämme in das Flußbett.
Erschrocken wichen die Mönche vor Vater Polykarp zurück.
Der Blöde schrie:
»Der Antichrist, der Antichrist kommt! …«
Vater Polykarp schritt die halbe Treppe herab, blieb stehen und hob den Arm.
»Brüder, versuchet den Herrn nicht! Lästert nicht! Wendet euch dem Gebet zu in diesen Tagen der Wiederkehr Christi!«
Er verstummte und wartete. In einiger Entfernung rasselten dumpf die Ketten des Blöden. Erschöpft und zerquält, durch den Tod des greisen Starez Akakij erschüttert, warf sich Waßja am Fuß des Glockenturmes zu Boden und brach in ein hilfloses Schluchzen aus, den wirren Zottelkopf auf die blutiggeriebenen Hände gebettet; die kalten Steinstufen kühlten allmählich seine heiße Stirn.
»Gehet in eure Zellen …«
Verzagt lösten sich einige Gestalten aus der Gruppe und verschwanden im Dunkel.
Vater Xanfij zwinkerte mit den Augen, atmete schwer unter der Last seines gedunsenen Bauches, stieß die Mönche in die Seite.
»Schlaget ihn mit gerechtem Zorn!«
Stumm stieg Vater Polykarp noch einige Stufen herab, die Mönche wichen auseinander.
Er blickte mit schwarzen glühenden Augen in die Gesichter, den Willen lähmend – er wollte siegen, um die Untergehenden zu retten. Er dachte: Nicht Opfer will ich – Begnadigung!
Und als er die letzten Stufen herabschritt, verschwanden die Greise stumm in der Dunkelheit. Der schwarze Mönch hatte gesiegt.
Ihren Abt hatten sie vergessen; von dem alten Doßifej geführt, hatten sie sich zusammengetan gegen den schwarzen Vater Polykarp, um ihn niederzuringen; gedemütigt schlichen sie in ihre Zellen zurück.
Während die Starezen sich vor der Kathedrale versammelten und die jungen Mönche den Sarg mit dem Verschiedenen in die Kirche trugen, war der Abt zu seinem Hause geeilt. Er pochte lange, sein Dienstbruder Kostja gab keine Antwort; Abt Gerwaßij lief um das Haus herum und pochte an der Hintertür, doch der wortkarge Novize blieb unsichtbar. Er hatte die Türen verschlossen und war fortgegangen, um an der Überführung der Leiche des verstorbenen Vaters Akakij teilzunehmen. Der Abt lief verstört von einem Eingang zum anderen; er mußte ins Haus, um die hohe Kappe abzulegen und Talar und Kutte gegen einen warmen Mantel zu vertauschen.
Er klopfte und schimpfte; schließlich gab er es auf und eilte durch die Nacht nach den Landhäuschen.
Die wohlbekannten Fenster waren dunkel; er trat durch die Gartenpforte, stieß die Tür zu dem dunklen Gang auf.
»Soßja! …«
Die Klosterglocke läutete klagend. In den Zimmern herrschte Finsternis.
»Soßja, wo bist du?«
Er schritt weiter, stieß gegen einen Korb, gelangte an einen Tisch, tastete nach Streichhölzern, zündete eine Wachskerze an – er selbst hatte Soßja mit beidem versorgt.
»Sie sind gerade beim Packen …«
Er dachte, Mutter und Tochter seien zu Arischa nach Milch gegangen. Setzte sich. Sein schwarzer Schatten wogte vor Erregung hin und her, die Silhouette der hohen Kappe torkelte über die Zimmerdecke.
Das Pendel der Wanduhr tickte; die Messingkette knirschte unter der Last der Gewichte; Nikolka meinte, die Tür habe sich geöffnet, und sah sich um.
»Soßja! …«
Sein Blick glitt über die herumliegenden Sachen, und plötzlich kam ihm der Gedanke:
»Wie, wenn sie abgereist sind? …«
Er konnte es nicht glauben und sprach beruhigend auf sich ein:
»Sie liebt mich, ist leidenschaftlich; die läßt ihre Liebe nicht im Stich.«
Und wieder durchfuhr es ihn:
»Ich habe ihr all mein Geld gegeben – mein ganzes Geld.«
Immer bohrender wurde der Gedanke:
»Am Ende sind sie wirklich abgereist, geflohen, mit meinem Gelde – den Ersparnissen meines ganzen Lebens!«
Der Schweiß brach ihm aus allen Poren. Er nahm die hohe Kappe ab.
»Ich will bei Arischa nachfragen …«
Er ließ die Kappe liegen, zog auch den faltigen Abtsmantel aus; in der Kutte schritt er durch den Wald.
Klopfte; Arischa fragte erregt:
»Wer ist da? …«
»Mach' auf, ich bin's, der Abt …«
»Was willst du?«
Wütend fuhr er auf:
»Mach' schnell, ich habe keine Zeit, es ist dringend.«
Er zerrte zornig an der Pforte. Sie öffnete.
»Du erkennst nicht mal mehr meine Stimme!«
»Deine Stimme klang fremd …«
»Sind die Kartschevskij hier?«
»Sie waren hier, gegen Mittag.«
»Nach Milch?«
»Um Abschied zu nehmen.«
»Abschied zu nehmen? Von dir? So sprich doch!«
Aufgeregt stieß er die Worte hervor; Arischas Stimme war sicherer geworden, ruhig sagte sie:
»Sie sind wohl abgereist …«
Nikolka griff sich an den Kopf, er schrie fast:
»Und mein Geld, mein Geld! … All mein Gold!«
Arischa senkte den Kopf, blickte ihn unter den Brauen hervor an.
»Warum schweigst du? Du steckst mit ihnen unter einer Decke! Bestohlen habt ihr mich! Beraubt! … Sprich, wo hast du das Geld versteckt? Rede!«
Ruhig, voller Verachtung, voll dumpfem Haß antwortete die Nonne:
»Frage deine Geliebte! Ich beschmutze mich nicht mit deinem Gelde, auch so schon hast du mit deinem Gelde mein ganzes Leben vergiftet.«
Vor Erbitterung zitterten seine Hände; hilflose Verzweiflung würgte ihn. Er konnte kaum sprechen, mühsam stotterte er, die Finger in ihre Schultern gekrallt:
»Gib mir mein Geld zurück, mein Geld! Hörst du!«
Sie stieß ihn von sich, wich zurück.
»Du hast's verdient, Nikolai, du hast es wahrlich verdient. Auch mich hast du mit deinem Gelde gequält, als ob ich käuflich wäre wie deine Polin … Ein dummes Schaf war ich … Rühr' mich nicht an, ich schreie! Entehrt hast du mich. Jetzt fürchte ich dich nicht mehr. Geh lieber, sonst schreie ich.«
Sie rang mit ihm in der Dunkelheit, stieß ihn von sich, suchte sich loszureißen. Er hatte ihre Hände gepackt, seine blutunterlaufenen Augen glühten, heiser flüsterte er:
»Gib mir mein Geld zurück, mein Gold! Gib es heraus oder ich erwürge dich!«
Über das Dach des Häuschens glitt roter Flammenschein und erlosch wieder, einen Augenblick später flammte er aufs neue braunrot auf.
»Was ist das? Sieh hin!«
Er ließ sie los, warf den Kopf in den Nacken.
Arischa lief zur Gartenpforte hinaus, kehrte gleich wieder zurück, ihre Stimme zitterte vor Schreck, Arme und Beine schlotterten, hastig rief sie dem Abt im Flüsterton zu:
»Sie kommen … sie …«
»Wer?«
»Die aus der Stadt … Um den Reliquienschrein des Heiligen zu öffnen.«
Abt Gerwaßij trat vor die Pforte, das Schloß schnappte zu, Arischa lief in ihre Zelle; sie atmete schwer und heftig.
In rauchig rotem Fackelschein blitzten Reihen von Bajonetten. Wie von Flammen erfaßt, glommen die Fichtenstämme in der Dunkelheit auf, schwarz wogten Gestalten in dem qualmenden Feuerschein.
An der Spitze des Zuges schritt hinkend ein rothaariger Hüne; weit ausholend schlenkerten seine Arme.
Abt Gerwaßij starrte ihn an, ächzte, und verschwand, abgerissene Worte vor sich hin murmelnd, in der Dunkelheit.
»Mein Leben, mein Leben haben sie mir geraubt … Mein Gold! …«
Er begann zu laufen und brachte dem Pförtner als erster die Nachricht; Verzweiflung, Hilflosigkeit klang aus seinem heiseren Geflüster.
»Sie sind da! … Schließ' das Tor.«
Sein wortkarger Dienstbruder öffnete ihm; Kostja sah den Abt mit leeren Augen an, starrte auf seine verwühlten Haare, die rotumränderten Augen, bemerkte seinen fiebrig brennenden Blick, die zuckende Gestalt in der Kutte, ohne den Abtsmantel, ohne Kappe, schloß schweigend die Tür und legte sich auf die Eichentruhe.
Von der alten Klosterherberge her glitten dunkelrote Feuerflecke – der Widerschein lohender Fackeln – zuckend über die Klosterwände; die Mönche tuschelten aufgeregt untereinander:
»Sie sind da … zahllose Heerscharen des Satans. In der Nacht sind sie gekommen – lasset uns wachen, Brüder!«
Aufgeregt schlossen sie sich in ihren Zellen ein.