Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9. Buch.
Im feurigen Ofen


1

Wenn Petrowskij das Haus verließ, war es noch dunkel; er bewohnte ein Zimmer im Innern der Stadt. Die ersten, verschlafenen Wagen der Straßenbahn kamen in schwankender Hast aus dem Wagenpark herangepoltert, der Schaffner in hohen Filzstiefeln auf der Plattform tänzelte hopsend hin und her, um sich zu erwärmen; Streckenarbeiter säuberten die Geleise, denn der Wind wirbelte den weißen trockenen Schneestaub durcheinander, überschüttete einem damit Gesicht und Bart, der Atem erstarrte zu kleinen Eiszapfen und überzog die Haare mit Rauhreif.

Petrowskij stieg in die Straßenbahn und fuhr nach den Militärbaracken draußen vor der Stadt; der ganze Wagen füllte sich allmählich mit Fähnrichen. Er horchte auf die Gespräche; der Krieg schien weit entfernt und unbestimmt, das eigene entwurzelte Leben und der laufende Tag nahmen alle Gedanken in Anspruch.

Im Gebäude des geistlichen Seminars war ein Lazarett eingerichtet worden. Krüppel mit verbundenen Armen oder auf Krücken und Krankenschwestern mit weißen Häubchen und Ringellöckchen an den Schläfen wurden sichtbar. Hier in der Vorstadt wohnten in möblierten Zimmern viele Fähnriche neuformierter Reserveregimenter; des Abends sah man zärtliche Pärchen und hörte heißes Lachen, das von Küssen erstickt wurde. Das Heute gehört dem Fähnrich und der Krankenschwester, morgen kommen Laufgräben und Tod, und Tränen der jungen Witwe, der Braut, der Geliebten.

Hinter dem Seminar beim Nonnenkloster hielt die Straßenbahn. Endhaltestelle. Die Fähnriche sprangen aus dem Wagen; über die Überführungsbrücke der Eisenbahn ging's nach den Baracken.

»Na, was macht deine Kleine?«

»Ich bin der Feldkompanie zugeteilt worden – sie wird sich mit einem anderen trösten!«

Kläglich schluchzte die Klosterglocke, und aus den Zellen schlüpften die Mäuschen in schwarzen Kutten hervor, um für die siegreiche Heerschar zu beten, des Abends aber verbargen sie in ihren Zellen die genesenden Vaterlandsverteidiger, die über den Zaun zwischen Kloster und Seminar kletterten, wie ehemals die Seminaristen.

An frostkalten Morgen knirschte der harte Schnee unter den Füßen; bis zu den Baracken mußte man noch eine Werst laufen. Weitausholend schritt Petrowskij, auf die Gespräche seiner Kameraden lauschend, über das Feld, die hohe Mütze aus Schafsfell über die Ohren gezogen.

»Es ist eine Niedertracht, daß wir jetzt flüchtige Soldaten abfangen sollen, meine Herren! Wir sind doch schließlich keine Schutzleute!«

»Der Kompanieführer ist total verrückt …«

Petrowskij ging allein, an die neuen Kameraden noch nicht gewöhnt. Er gab sich nicht mit Krankenschwestern und Schulmädchen ab, kletterte nicht über den Zaun zu den Nonnen, lief nicht auf die Straße unten am Fluß zu den Mädels; man mied ihn darum und begegnete ihm mit Schweigen.

In einem kleinen Zimmer warteten die Fähnriche auf den Kompanieführer.

»Ob sie wohl auch heute die Leute in den Frost hinausjagen?«

»Mit Bastsandalen an den Füßen!«

Der Hauptmann, in der Etappe hängengeblieben, trat händereibend ein, grüßte und befahl, die Leute in Zügen zum Fußexerzieren hinauszuführen.

Bärtige Bauern und achtzehnjährige, schnurrbartlose Burschen stellten sich vor den Baracken in Reih und Glied auf. Der Feldwebel rief:

»Antre-e-ten!« Und warf dem Gliede, in dem ein endloses Gestoße vor sich ging, barsch zu: »Richt' euch! Stillgestanden!«

Petrowskij trat aus der Baracke, band die Schnüre der Ohrenklappen unter dem Kinn zu und begrüßte seine Leute. Alle antworteten mißtönig durcheinander. Petrowskij hob die Hand, der Feldwebel kommandierte:

»Rechts um!«

Petrowskij fiel ein:

»Rechts um! Abteilung ma-arsch!«

Bauern und Burschen – in Stiefeln, Filzstiefeln, Bastsandalen – liefen über das weiße Feld, marschierten in geschlängelten, brechenden Reihen hin und her. Der Feldwebel schrie sich vor Aufregung heiser.

»Richtung, wo ist denn die Richtung – die reinen Hammel!«

Halb ärgerlich, halb gleichgültig folgte Petrowskij der Übung, merkte sich die Worte des Feldwebels und kommandierte auch selbst – bei der hastigen Absolvierung der Militärschule war er nicht zum Kommandieren gekommen, für Exerzierdienst hatte er mit Mühe »genügend« bekommen; bloß wegen des »Ausgezeichnet« in allen übrigen Fächern war er bei der Prüfung nicht durchgefallen. Die Fähnriche lugten nach der Uhr, stellten das Fußexerzieren ein, befahlen andere Übungen, wobei auf Befehl des Regimentskommandeurs gesungen werden mußte: die Leute sollten fesch und munter aussehen.

Petrowskij merkte, wenn die Bauern vom Üben und Laufen müde wurden und rief dann:

»Rührt euch! … Dürft rauchen.«

Die Soldaten, die bemüht waren, die Kommandoworte richtig aufzufangen, rechtzeitig zu schwenken, in Gliedern, in Gruppen aufzumarschieren oder abzubrechen, horchten auf; in die ausdruckslosen Gesichter kam Leben; steife frosterstarrte Finger drehten Zigaretten aus Zeitungspapier und billigem Tabak, und ein undeutliches Stimmengewirr erhob sich. Petrowskij trat heran.

»Na, Karassew, hast du einen Brief von Hause erhalten?«

»Zu Befehl, nein, Euer Wohlgeboren! … Wenn ich bloß selbst hinkönnte … Ein Unglück das mit den Weibern, wenn der Bauer nicht da ist, sind sie nicht mehr zu halten! …«

Die Soldaten lachten über den schwarzseherischen Landsmann.

»Du solltest sie an die Kette legen!«

»Würde auch nichts helfen! …«

Die Gesichter der verheirateten Bauern blickten besorgt und nachdenklich; es zog sie nach Hause, ins Dorf zurück.

Andere Leute traten an den Fähnrich heran.

»Euer Wohlgeboren, Sie wollten mir einen Brief nach Hause schreiben …«

»Morgen habe ich Innendienst bei der Kompanie – da schreib ich, wenn's jemand braucht …«

Die Übungen begannen aufs neue. Die Bauern bemühten sich, Schritt zu halten, ihre Kameraden nicht aus dem Konzept zu bringen, das Kommando rechtzeitig auszuführen. Ihren Fähnrich hatten sie gern und sprachen über ihn des Abends auf den Pritschen.

»Wenn alle so wären wie unserer, so hätten wir den Deutschen wohl längst bewältigt.«

Die Vorgesetzten begannen, Petrowskij schiefe Blicke zuzuwerfen, und sein Kompanieführer machte ihm in aller Gegenwart Bemerkungen.

»Fähnrich Petrowskij, Sie erlauben Ihren Leuten, sich gehen zu lassen, Sie behandeln die Soldaten wie Ihresgleichen – es ist eine Entwürdigung der Offiziersehre der russischen Armee. Wenn das weitergeht, werde ich genötigt sein, dem Herrn Regimentskommandeur Meldung zu machen.«

In Petrowskij stieg es heiß auf, er errötete und antwortete, mit Mühe an sich haltend:

»Herr Hauptmann, ich bemühe mich, an Leben und Leiden meiner Untergebenen teilzunehmen, das widerspricht dem Reglement nicht.«

»Statt des Unterrichts führen Sie Unterhaltungen mit den Soldaten, das ist nicht zulässig.«

Es blieb ihm keine Zeit für sich selbst übrig. Vom frühen Morgen bis fünf Uhr war Petrowskij in seiner Kompanie beschäftigt, am Abend im Kasino gab's Ausbildungskurse und taktische Aufgaben für die Offiziere unter Beteiligung des Kompanie- und des Bataillonführers – die Sache war sinnlos und langweilig, man mußte aber mitmachen. Einmal wöchentlich hatte man Wachtdienst bei der Kompanie. Auf Veranlassung des Garnisonskommandanten pflegte der Kompanieführer in der Nacht plötzlich in den Baracken aufzutauchen, um die Leute zu kontrollieren. Durch die halb dunklen, kalten Baracken schritten dann der wachthabende Offizier mit einer Laterne, der Kompanieführer und der Feldwebel; verschlafene Gesichter fuhren empor, riefen: »Hier!« und sanken wieder wie tot zurück. Wenn Petrowskij, der gutmütige Fähnrich, Dienst hatte, gab's die meisten Ausrücker.

»Naumenko, schreib an!«

Der Feldwebel kritzelte mit einem Bleistiftendchen mühsam die Namen der Fehlenden hin. Auf Befehl des Kompanieführers erhielten die Schuldigen Arrest und Fähnrich Petrowskij nach Abschluß der Ronde einen Verweis.

»Wenn Sie Dienst haben, Fähnrich Petrowskij, gibt es die meisten unerlaubten Entfernungen – Sie gehen morgen außerhalb der Reihe an die Straßenbahn.«

An freien und Festtagen zog Petrowskij seinen alten Studentenmantel an, setzte die Studentenmütze auf, schlug den Kragen hoch und ging – die Hände in die Manteltaschen versenkt, um sich durch das Schlenkern der Arme nicht zu verraten – nach der Vorstadt Penji zum Ingenieur Drakin …

Niemand hatte den Schuß gehört, noch das Aufschlagen von Rasputins Körper auf das Wasser im Newa-Kanal, aber ein Flüstern, ein Widerhall eilte durch das Land – es sei längst an der Zeit gewesen, von dem Manne befreit, würde Rußland wieder aufatmen. Der Widerhall zog durch die Städte, die zuckten zusammen, lächelten und harrten stumm, bloß die Vorgesetzten in den Kasernen wurden strenger und untersagten jede Beurlaubung der Eingezogenen aufs Dorf.

Als Petrowskij sich von dem Ingenieur Drakin verabschiedete, sagte er freudig erregt:

»Die erste Kugel hat ihr Ziel gefunden, es werden weitere folgen – das reinigt die Luft.«

Der Ingenieur drückte Petrowskij kräftig die Hand, sein glattrasiertes Gesicht zuckte, die Pfeife glitt in den anderen Mundwinkel, und Drakin sagte:

»Es geht nicht anders. Mit einer solchen Regierung siegen wir nie! … Eigentlich haben wir den Krieg bereits verloren und brauchen Frieden! …«

Nach Frau Kostizinas tragischem Tod lebte der Ingenieur als Asket, sein Gesicht sah noch vertrockneter aus, in den Augen blühte kein Lächeln mehr, unter den rasierten Wangen zuckten die Muskeln, und nur selten fing die Pfeife im Munde lustig an zu hüpfen.

Die Riesenfabrik stand beinahe ganz, die Kriegsaufträge wurden bei einschichtiger Arbeit erledigt, und Drakin wartete ungeduldig auf den Augenblick, da Arbeiter wieder in Scharen beschäftigt sein, Taue und Stricke heranwachsen würden; über den Schuß in der Hauptstadt freute er sich.

Die Flüchtlinge in den Baracken, die ohne Urlaub auf nächtliche Abenteuer auszogen, wickelten auf den Pritschen Matratzen und Kissen in ihre Mäntel, um ihre Anwesenheit vorzutäuschen, und der Kommandeur befahl daher, bei Beginn der Kontrolle die Leute zu wecken und in Reih und Glied vor den Pritschen aufzustellen, um so alle Anwesenden nach den Listen feststellen zu können. Legten sich die Soldaten wieder hin, so murrten sie finster:

»Selbst des Nachts lassen sie einen nicht mehr in Ruhe …«

»Menschen kann man nicht an die Kette legen.«

Im Februar 1917 erhielt Fähnrich Petrowskij für Verletzung der Disziplin Stubenarrest und wurde der Feldkompanie zugeteilt.

Über den Stubenarrest freute sich Petrowskij – sein unbeendeter Brief an Sina kam ihm in den Sinn, er las ihn durch, begann einen neuen. Des Abends kam, hinkend und mit dem knorrigen Stock gegen den Boden klopfend, der Werkmeister Ignat zu ihm von der Fabrik.

»Das ist schlimm, daß Sie an die Front müssen, Nikodim Alexandrowitsch.«

»Kämpfen werde ich ja doch nicht. Im übrigen gibt's an der Front Arbeit genug, und viele haben schon damit begonnen! In Moskau halten sich in den Museen und Bildergalerien immer Studenten in Bereitschaft, um den Soldaten die Bilder zu erklären – dabei agitieren sie gegen den Krieg.«

Schneegestöber fegten dahin, verschütteten die Vorstädte der Gouvernementsstadt, die Züge blieben stecken, Truppenabteilungen wurden zur Freilegung der Bahngleise hinausgeschickt, aufjauchzend summten die Telegraphendrähte: Ein Telegramm, von unbekannter Hand aus Petrograd abgesandt, wand sich schlangengleich auf die Rolle im Telegraphenamt, und mit dem Schneesturm und dem Summen der Telegraphendrähte drang eines Nachts das Gerücht in die Stadt – woher stammte es, von wem kam es? – daß die Reichsduma sich aufgelöst habe, die Arbeiter durch die Straßen zögen, die Truppen zu den Revolutionären übergingen.

Ignat humpelte über die Schneehaufen, klopfte beim Gehen mit seinem knorrigen Stock gegen den Boden und kam nach Mitternacht atemlos bei Petrowskij an; lange donnerte er gegen die Haustür. Erschrocken führte die Zimmerwirtin den Mann im Soldatenmantel zu Petrowskij ins Zimmer.

Er brachte Kälte mit sich, Schnee und Unternehmungslust. Erregt weckte er den Fähnrich.

»Nikodim Alexandrowitsch! Nikodim Alexandrowitsch! …«

Beim Anblick des Soldatenmantels wußte Petrowskij nicht gleich, wer es sei und was man von ihm wolle.

»Stehen Sie doch endlich auf! … Die Revolution ist da! …«

In der gleichen Nacht eilte, blindlings durch den Schnee tappend, der Gendarmerie-Rittmeister in Zivil zum Vorsitzenden des Bundes »Erzengel Michael«, dem privaten Rechtsanwalt Iwan Matwejewitsch Lossew, in dessen eigenes Haus, das fünf Fenster zur Straße hinaus hatte. Er schlug lange dröhnend gegen die Fensterläden, was im Torweg wütendes Hundegekläff weckte. Schließlich glitt ein Lichtschein durch die Ladenspalte, eilig schlürften Pantoffel heran, eine erschrockene Mädchenstimme fragte:

»Wer ist denn da?!«

»Ich muß Iwan Matwejewitsch sprechen – sofort.«

Das junge Mädchen lief ihn wecken, dann knarrte eine verschlafene Stimme mißmutig, böse:

»Wer ist da?«

Die antwortende Stimme wurde gleich erkannt, die Tür ging auf.

Das junge Mädchen hatte einen Pelzmantel übergeworfen, in der einen Hand hielt sie eine Kerze, mit der anderen zupfte sie immerfort am Mantel über der Brust, die runden schwarzen Augen blickten zu Boden; der Schnauzbart des Eintretenden zuckte, aber dann erinnerte sich der Rittmeister an den Zweck seines Besuches.

»Ein Unglück – Revolution ist ausgebrochen! In der Hauptstadt meutern die Soldaten!«

Lossew zwinkerte mit den Äuglein, er war fassungslos, gab sich aber gleich einen Ruck und sagte, mit den übergestreiften Galoschen unter dem Tisch hin und her rückend, zum Rittmeister:

»Die Beschützer von Thron und Vaterland werden das nicht zulassen … Wir müssen das besprechen, Iwan Karlowitsch, sofort besprechen …«

Im dunklen Arbeitszimmer Lossews, bei Kerzenlicht, begann ein Geflüster.

»Streng vertraulich, Ihnen … als wirklich treuergebenem Untertan Seiner Kaiserlichen Majestät … Ich habe ein chiffriertes Telegramm erhalten – an alle völlig Zuverlässigen … auf ihren Treueid hin … Es wird uns befohlen, in alle radikalen Revolutionsparteien einzutreten, um ihre Tätigkeit zu diskreditieren, so zu paralysieren – und dadurch die Revolution zu untergraben …«

Ein glucksendes Kichern …

»Hä-hä-hä-hä! Eine weise Verordnung, genial ist das …«

»Ist Ihnen klar, was zu tun ist?!«

»Also, Iwan Karlowitsch – von innen her soll die Sache untergraben, in die Luft gesprengt werden … Zuerst sozusagen ein kleiner Wurmstich – Innengänge – und wenn dann alles vorbereitet ist, genügt ein Knips – und alles bricht zusammen! Wenn unser Herrgott uns über die ersten Tage hinweghelfen wollte, Iwan Karlowitsch, nachher, da tauchen wir schon wieder empor, tauchen von unter der Erde hervor … mit sieghaften Truppen … Da können Sie ganz ruhig sein! …«

Papiere raschelten, im Ofen flammte ein Feuer, dünner Rauch kräuselte über schwarzer Asche.

Der Rittmeister riet, alles bis zum kleinsten Fetzen zu verbrennen.

»Das geht nicht, Iwan Karlowitsch, das geht wirklich nicht; man weiß dann nicht mehr genau, wer drin war, man braucht plötzlich jemand, und weiß nicht recht, wer dazu am besten taugt … Und alles ist verbrannt! Hat man aber die Listen da, so braucht man nur einen Blick hinzuwerfen und weiß gleich, wer und was … mit allem drum und dran …«

»Vergessen Sie nicht, daß der schlimmste Feind der Regierung die Intellektuellen sind, gegen die muß vor allem vorgegangen werden …«

»Die Herren Ingenieurchen … und Rechtsanwältlein … und all die lieben Liberalen … Hä-hä-hä!«

Lossews schwarzäugige Tochter Manja – das junge Mädchen, das die Tür geöffnet hatte – trat ein.

»Papa, im Eßzimmer ist Tee serviert …«

Lossew winkte erschrocken mit der Hand ab und schob seine Tochter zur Tür hinaus.

»Nachher, nachher, jetzt haben wir keine Zeit, warte dort! …«

Am Frühmorgen bewirtete Lossew den Rittmeister mit Tee und flüsterte im Gang, während er ihm das Geleit gab:

»Also sehen wir uns wohl so bald nicht wieder! … In einer anderen Stadt werden Sie bestimmt ruhiger leben … Da erkennt man Sie nicht … Mir aber stehen Prüfungen bevor … Nichts zu machen – habe Familie – das ist wie eine Schlinge um den Hals: man kommt nicht mehr los …«

Lange noch machte er sich in seinem Arbeitszimmer zu schaffen, verbarg in seinem türkischen Diwan ein kleines Päckchen Papiere und blickte sich händereibend im Zimmer um.

»Mit der eigenen Brust will ich die verteidigen, mit der eigenen Brust! Als Köder aber … ist auch was da, bitte schön! …«

Beim Morgentee sprach er besorgt auf Frau und Tochter ein:

»Paßt mir gut auf, verschnappt euch nicht, das würde euch und Vater das Leben kosten. Niemand war in der Nacht bei uns. Von meinen Angelegenheiten wißt ihr nichts, ihr habt genug eigene Sorgen, Weibersorgen!«

Den ganzen Morgen rollte die rundliche Frau Lossewa wie eine Kugel hinter ihrem Gatten her, seufzte und murmelte:

»Zugrunde hast du uns gerichtet, Wanja … Was sollen wir denn jetzt tun? … Und wenn dir plötzlich was zustößt …«

»Gar nichts wird mir zustoßen, ich weiß schon, was ich tue … Ich bin also krank, verstanden? Ich lege mich in meinem Zimmer zu Bett. Manja aber mag ruhig in ihre Semstwo gehen und auf der Maschine tippen, sie soll aber gut auf die Gespräche achtgeben.«

»Manja, hörst du, was Vater sagt!?«

Eine unzufriedene Stimme antwortete aus dem Nebenzimmer:

»Ja doch! Ich bin doch kein Kind! …«

»Tschapygin macht dir den Hof – stoß ihn nicht vor den Kopf – ein nützlicher Mann das, Liberaler, großer Herr, jetzt wird er hier wohl die erste Geige spielen …«

Um den zottigen Wuschelkopf wand er sich ein rotes Tuch, zog einen verschlissenen Schlafrock an, befahl seiner Frau, ihm auf dem türkischen Diwan ein Bett zu richten und begann durch alle Zimmer zu wandern; er schritt ruhelos von Ecke zu Ecke und blickte oft durch die Fenster auf die Straße hinaus.

»So leg' dich doch hin, Wanja – vor Aufregung wirst du nur noch nervöser – geh, leg dich hin!«

Er schritt auf und ab, rieb sich die Hände …

»Was schaust du denn immer zum Fenster hinaus? …«

»Ich erwarte Gäste, Mascha, lie-be Gäste …«

Während des Mittagessens sagte Manja zum Vater:

»Wir hatten heute in der Semstwo eine Versammlung!«

Lossew fuhr auf, blinzelte mit den Augen.

»Na, na, so sprich doch endlich, quäle mich nicht, ich sitze hier wie die Maus in der Falle – sprich.«

»Tschapygin hat eine Rede gehalten, er ist als Vertreter der Semstwo in den Ausschuß gewählt worden.«

»Ausschuß? Was für ein Ausschuß?«

»Der öffentlichen Sicherheit!«

»So, so, so … Der Sicherheit … Tja!«

»Er nimmt mich als Typistin zu sich.«

»Dafür küß' ich dich ab, mein Töchterchen – bist mir ein gescheites Mädel! … Ein blitzsauberes Mädel dazu! … Halte dich an diese Stellung, halte sie fest, mit beiden Händen klammere dich an, meine kleine Manja, und die Durchschläge der Schriftstücke, die bringst du deinem Vater zur Einsichtnahme …«

In den Sicherheitsausschuß waren gewählt worden: Korenew, Rechtsanwalt und Schwätzer; Drakin, Ingenieur; Tschapygin, Gutsbesitzer mit sozialrevolutionären Bestrebungen.

In jungen Jahren, als Student, wurde Tschapygin der Anteilnahme an revolutionären Umtrieben überführt, kam aber glimpflich davon: seine Mutter bürgte für ihn und durfte ihn zu sich aufs Gut nehmen. Als er schließlich sein Universitätsdiplom doch noch erhielt, glaubte Tschapygin nicht mehr an Revolution, sondern an Evolution und wurde zu einem jungen Liberalen mit sozial-revolutionären Sympathien. Er lebte auf großem Fuß und war bereit, seinen stark belasteten Grundbesitz an die Bauern abzutreten – gegen eine angemessene Entschädigung. Das Leben des Junggesellen ist ja so eine Art Spatzendasein – Tschapygin flatterte hin und her, trillerte vergnügt, entwickelte sich zu einem großen Mädchenjäger, und als er ein rundliches Bäuchlein bekam, ließ er sich einen Bart stehen, und sein breites Gesicht eines großen Herrn wurde noch gutmütiger. Um seines Lächelns und seiner freundlichen Augen willen wurde er in die Semstwo gewählt; sein verpfändetes Gut hatte er zu jenem Zeitpunkt von Schulden befreit. Zwei Neffen, Söhne seiner verwitweten Schwester, ließ er in der Technischen Hochschule für Eisenbahnbau studieren und war verschämt stolz auf sein gutes Herz; während des Krieges traten die beiden jungen Leute auf seinen Rat freiwillig in die Kavallerieschule ein. Bei der Wahl seiner Privatsekretärin waren naiver Augenaufschlag und himbeerfarbenes Mündchen der Bewerberin bestimmend, und bei der Niederschrift seiner Vorträge machte sein beständig auf ihr ruhender Blick die Sekretärin verlegen. Als man im Klub von Fräulein Manja Lossewas Ernennung hörte, riet man ihm ab.

»Der können Sie doch nicht trauen, sie ist doch Lossews Tochter!«

»Bei mir wird sie bald zur Demokratin. Sie dürfen nicht vergessen, daß Väter und Kinder sich immer bekämpfen – die junge Generation wird durch die eigene Umwelt erzogen.«

Sein gutmütiges Lachen rollte sanft durch die Räume der Semstwo; für jeden hatte er einen Scherz, jedem drückte er die Hand, mit dem kleinsten Schreiber konnte er freundschaftlich verkehren, jedem Antragsteller versprach er, seine Lage zu berücksichtigen, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen, nur daß es nachher niemals zur Ausführung kam – Semstwo-, Klub- und Herzensangelegenheiten traten immer dazwischen, er vergaß seelenvergnügt seine Versprechungen und rief bei einer Begegnung mit dem Betroffenen bedauernd aus:

»Ach Gott, Iwan Iwanowitsch! Warum haben Sie mich nicht rechtzeitig an die Sache erinnert! … Sie wissen doch, wie sehr beschäftigt ich bin – zuweilen vergißt man selbst das Essen darüber.«

Der Gendameriewachtmeister hatte denn auch zum Diener des Herrn Tschapygin ein Mitglied des Bundes »Erzengel Michael« bestellt, der spionieren und Bericht erstatten mußte. (Die Berichterstattung bestand zwar meist in der Mitteilung, der Betreffende habe am Abend ein Mägdelein oder ein kleines Frauchen in sein Junggesellenheim gebracht und mit ihr bis zum Morgen Liebe erörtert.)

Nach seiner im Jahre 1905 vor einer Angestelltenversammlung im Sitzungssaale der Semstwo gehaltenen Rede über die »angefaulte Regierung und Staatsform« und darüber, daß die Intellektuellen die einzige Rettung des Landes seien, war Tschapygin zum drittenmal in die Semstwo gewählt worden.

Zu seinem Diener Akim sagte er, aus dem Sicherheitsausschuß nach Hause zurückgekehrt, freudig – ja, er küßte ihn sogar –:

»Hast du gehört, mein Lieber, in Petrograd ist Revolution?! …«

Akim spreizte vor Verwunderung bloß alle seine Finger.

Im Sicherheitsausschuß beglückwünschten die Mitglieder einander zum »Fest der Revolution«, hielten freiheitliche Reden, und als der Ingenieur Drakin, dessen Pfeife im Mundwinkel ungeduldig auf und ab kippte, den Vorsitzenden Tschapygin fragte:

»Was gedenkt der Ausschuß zu allererst zu tun?« antwortete Tschapygin ohne Zögern:

»Wir erlassen einen Aufruf an die Bevölkerung über Innehaltung von Ruhe und Ordnung und restlose Hingabe an das Gemeinwohl in dieser Zeit schwerer Prüfungen – um den Krieg zu dem ersehnten siegreichen Ende zu führen.«

Drakin zog den Rauch noch tiefer ein, blies eine blaue Wolke vor sich hin und fragte aufs neue:

»Was gedenkt der Ausschuß Reales zu tun?«

Der Rechtsanwalt Korenew blickte Drakin verblüfft an:

»Was verstehen Sie unter etwas Realem?«

In Drakins Gesicht zuckte es, seine Pfeife hopste.

»Wenn ihr die Gendarmerieverwaltung nicht verhaftet, kann es zum Lynchgericht kommen.«

Korenew hub an zu reden; Worte über Macht und Verantwortlichkeit, über bürgerliche und staatsmännische Pflichten sprudelten hervor, die verhafteten Minister wurden mit beißenden Bemerkungen bedacht, und zu guter Letzt stellte er den Antrag, der Ausschuß solle, um die neue Macht zu konsolidieren, beschließen, die Gendarmerieverwaltung zu verhaften.

Man wußte nicht recht, wen man mit der Ausführung dieses Beschlusses betrauen sollte. Die Gymnasiasten der oberen Klassen, die in gedrängten Haufen im Rathaus umherstanden, rote Schleifen an der Brust und rote Milizbinden um den Arm, boten ihre Dienste an, verhafteten sie doch die Schutzleute auf den Straßen und bewachten die Verhafteten. Tschapygin ging begeistert zu ihnen hinaus, umarmte alle der Reihe nach, feuerte sie an, redete von staatsbürgerlichen Pflichten und schlug, in den Ausschuß zurückgekehrt, an den Ingenieur gewandt, strahlend vor:

»Senden wir unsere Jugend hin. Welche Begeisterung sie beseelt!«

Darauf richtete Drakin wieder eine Frage an Tschapygin.

»Sie meinen also, daß Gymnasiasten befähigt sind, Haussuchungen vorzunehmen?«

»Haussuchungen?! Wieso? Im freien Rußland soll es also wieder Gendarmen, Gefängnisse, Haussuchungen geben? …«

»Bei den Mitgliedern des Bundes ›Erzengel Michael‹! Haben Sie vergessen, wie das Käseblättchen dieser Leute uns alle beständig mit Unflätigkeiten übergoß? Werden jetzt diese Gesellen nicht aus allen Kräften bemüht sein, unserer Arbeit entgegenzuwirken? Wissen Sie nicht, daß unsere Stadt ein Brutherd der ›Schwarzen Hundertschaft‹ war?«

Man stritt, geriet in Erregung, fürchtete, durch Verhaftungen die lichten Tage der Revolution zu beflecken. Es war wieder Drakin, der dem Gerede schließlich ein Ende machte:

»Meine Herren, ich bürge nicht dafür, daß die Flachsschwinger von meiner Fabrik nicht schließlich Abrechnung halten, falls wir den Feind von gestern in Freiheit lassen. Würden Sie es denn vorziehen, daß Blut fließt?«

Tschapygin blickte den Rechtsanwalt Korenew verwirrt an und fuhr sich vor Aufregung mit dem Taschentuch über die breite Stirn in der Erwartung, daß der Jurist einen Ausweg aus dieser schwierigen Lage finden würde. Doch der Rechtsanwalt, mit allem einverstanden und zu allem bereit, was der Ingenieur vorschlug, nickte diesem bloß befriedigt zu.

»Wir haben drei Reserveregimenter in der Stadt liegen, die Offiziere sind meist Studenten, und ich weiß, daß sich Sozialisten unter ihnen befinden. Die erschrockenen Schutzleute zu verhaften, war keine Kunst, das haben auch Kinder tun können …«

Der Garnisonskommandant, Oberst Dubinin, erschien in Galauniform, mit allen seinen Orden geschmückt, um sich der neuen Macht vorzustellen. Der Ingenieur ersuchte ihn im Namen des Ausschusses, der sein Einverständnis durch Schweigen ausdrückte, der neuen Macht den Fähnrich Petrowskij und eine Handvoll Soldaten zur Verfügung zu stellen, möglichst unverzüglich. Dubinin rief in Drakins Gegenwart bei Petrowskijs Regiment an, mußte lange auf die Antwort des Kompanieführers warten, teilte sie mit gesenkter Stirn dem Ingenieur mit:

»Fähnrich Petrowskij hat Stubenarrest, gestatten Sie jemand anders zu senden.«

Der Ingenieur dachte an die Ursache der Stubenhaft und gab nicht nach.

»Fähnrich Petrowskij ist den Mitgliedern des Ausschusses persönlich bekannt.«

Telephonisch wurde angeordnet, daß Fähnrich Petrowskij auf Befehl des Garnisonskommandanten unverzüglich in Freiheit zu setzen sei und sofort in den Sicherheitsausschuß zu kommen habe. Die Stimme des Kompanieführers schnarrte aus dem Hörer: »Zu Befehl.«

Ein Gefreiter aus der Kompanie eilte zu Petrowskij. Zusammen mit ihm begab sich der Fähnrich zum Kompanieführer. Ohne ihm die Hand zu reichen, teilte ihm dieser den Befehl des Kommandanten mit, sich sofort im Rathause zu melden, und schloß giftig:

»Obwohl ›persönlich bekannt‹, kommen Sie doch an die Front!«

Petrowskij antwortete darauf nicht und dachte bei sich, daß seine Dienste jetzt wohl überall erwünscht wären.

Drakin sprach kurz wie immer und saugte an seiner Pfeife. Nach der schlaflosen Nacht und dem ziellosen Hin und Her des Tages war seine Stimme schroffer, das Gesicht spitziger geworden, und die Augen blickten hart und spöttisch. Petrowskij antwortete zurückhaltend; der Auftrag erregte ihn. Er entwarf selbst die Verordnung des Ausschusses, und Tschapygins schwarzäugige Typistin tippte den ersten Erlaß der neuen Gewalthaber ab. In einer Droschke holte sich Petrowskij die Unterschrift des Kommandanten, übergab den Befehl dem diensttuenden Offizier im Regiment und führte am Nachmittage eine Abteilung Soldaten aus der Baracke, um die Haussuchungen und Verhaftungen vorzunehmen. Unterwegs erklärte er dem Gefreiten, weshalb das nötig sei. Ein Gedanke quälte ihn: er, ein Sozialist, sollte Haussuchungen vornehmen – in fremden Sachen, fremdem Leben herumstöbern, als wäre er ein Gendarm! Er suchte Rechtfertigung in der Überlegung, daß es sich um Feinde der Freiheit und Revolution handele und daß ja doch jemand die Sache machen müsse, wenn nicht heute, so morgen. Ein Wort aus der Zeitung – »unsere ›blutlose‹ Revolution« – hatte in ihm einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen; er gedachte der Sansculotten, lächelte – hier war er der erste. Ein Zeitungsjunge stürmte heran, schwenkte eine Zeitung in der Hand, schrie schrill: »Thronentsagung des Zaren! Abendblatt!« Petrowskij kaufte die Riesenfahne des »Russkoje Slowo«. Es ging sich jetzt leichter, zuversichtlicher. Die Eishäutchen über den Wasserrillen im Boden klirrten hell, darunter glucksend das Wasser unter den Absätzen. –

Lossew, sein rotes Tuch um den Kopf gebunden, irrte durch das Haus. Seine Tochter hatte ihm erzählt, daß es Gymnasiasten seien, die Schutzleute verhaftet hatten, und da war es Lossew wieder fröhlich ums Herz geworden; er wartete auf weitere Neuigkeiten, hatte keine Furcht vor einer Verhaftung, hing seinen Gedanken nach …

»Ich zeige ihnen alles selbst … Hier … Nehmt das man ruhig mit, Kinderchen …«

Seine Augen funkelten böse auf, er schloß:

»Säuglinge, junge Hunde! …«

Im Flur schrillte die Glocke scharf und kurz und zuckte krampfhaft. Lossew sprang mit einem Satz vom Fenster zurück – »sie« waren von der anderen Seite gekommen, er hatte es gar nicht bemerkt – lief in sein Arbeitszimmer, rief seiner Frau im Vorbeieilen zu: »Halte sie auf mit Erzählen!« zündete die Kerze auf dem vor den Diwan gerückten Nachttischchen an, das mit Arzneiflaschen und Moosbeerlimonade überladen war, zog die Steppdecke bis ans Kinn hinauf und machte ein klägliches, weinerliches Krankengesicht. Er lauschte – die Klingel schrillte aufs neue, das Schloß schnarrte. Im Gang dröhnten schwere Stiefel – Frau Lossewa riß beim Anblick der Soldaten den Mund auf, erblaßte und lief aufgeregt hinter dem Fähnrich her. Sie hatten doch bloß Gymnasiasten mit roten Schleifen erwartet!

Petrowskij hatte Wachtposten mit Gewehren an die Pforte und Haustür gestellt – in der ganzen Straße hingen Augen an den Fenstern, neugierige Gesichter; Torriegel wurden überall krachend vorgeschoben.

»Soldaten, seht Soldaten! …«

»Sie wollen ihn verhaften …«

»Das hat er reichlich verdient, der Schnüffler! Man war ja seines Lebens nicht mehr sicher …«

Vorgereckte Köpfe wiesen mit fröhlichem Nicken auf Lossews Pforte, Augen zwinkerten, Münder weiteten sich zu vergnügtem Grinsen.

»Niemand wird herein- oder hinausgelassen!«

»Zu Befehl!«

Ohne die hohe Pelzmütze abzunehmen, trat Petrowskij ins Zimmer. Frau Lossewa wies auf das Arbeitszimmer ihres Gatten und bat im Flüsterton, die Hände flehend auf die Brust gepreßt:

»Er ist todkrank, todkrank … Erschrecken Sie ihn nicht, rühren Sie ihn nicht an! …«

Vor Schreck bebte ihre Stimme – sie log, glaubte aber im Augenblick selbst an ihre Worte.

»Er ist herzleidend, schwer herzleidend. Der Schlag könnte ihn rühren …«

»Auf Befehl des Ausschusses der öffentlichen Sicherheit habe ich hier eine Haussuchung vorzunehmen. Lassen Sie mich Herrn Lossews Papiere sehen.«

Aufgeregt führte sie ihn ins Arbeitszimmer ihres Mannes. In dem dunklen Zimmer, dessen Fenster auf den Garten blickten, roch es nach Kirschlorbeertropfen, Arzneien; Lossew, in eine alte Steppdecke gewickelt, funkelte die Eintretenden mit seinen kleinen Äuglein an und schloß sie dann stöhnend. Im Schreibtisch stak ein Schlüsselbund, die Stearinkerze qualmte flackernd, und das dunkle Zimmer, der türkische Diwan, das rote Tuch mit den Hasenohren um Lossews Kopf – das alles machte einen widrigen, klebrigen Eindruck; der Arzneigeruch weckte Übelkeit. Der bärtige Soldat mit dem Gewehr an der Tür ließ seine Augen im Zimmer umherschweifen, der Gefreite blickte neugierig bald auf den Kranken, bald auf den Fähnrich.

Lossew stöhnte, öffnete die Augen, kniff die Lider zusammen, erkannte in dem Fähnrich den Studenten Petrowskij und fragte wehleidig mit knarrender Stimme:

»Sie wollen eine Haussuchung bei mir vornehmen?«

Und er wiederholte wie abwesend:

»Eine Haussuchung?!«

»Wo sind Ihre Papiere?«

»In meinem Tisch, im Schreibtisch … Herr Fähnrich!«

Petrowskij machte sich daran, die Schubläden herauszuziehen, häufte alles kunterbunt auf den Tisch, alte Briefumschläge ohne Inhalt, verdorbene Briefbogen des Bundes »Erzengel Michael«, unausgefüllte Mitgliedskarten, einige Bundesabzeichen aus Aluminium – es war ihm unangenehm, in den Sachen herumzustöbern, die Papiere zu berühren, als bliebe etwas Unsauberes an seinen Händen haften. Er spürte, daß sowieso nichts Verfängliches mehr vorhanden war, das war verbrannt oder versteckt worden. Die unteren Schubläden enthielten Werbeschriften. Petrowskij trat an den alten niedrigen Bücherschrank.

Lossew stieß hervor:

»Es sind nur Bücher drin …«

Auf den unteren Simsen lagen Bündel von Papieren und Zeitungen.

»Redaktionsmaterial …«

Den Fähnrich irritierte Lossews Stimme, er unterbrach ihn dumpf:

»Da befinden sich wohl auch die Adressen Ihrer Zeitungsabonnenten?«

Lossew zuckte vor Überraschung zusammen – in der Hoffnung, daß niemand an die Abonnenten denken würde, hatte er es unterlassen, die Listen zu verbrennen. Er warf sich unruhig auf seinem Lager hin und her, bekam sogar einen Hustenanfall.

»Es ist nichts drin!« Er hustete. »Nichts, nichts …«

»Kowaltschuk, bitte die Hausfrau um einen Sack für die Papiere.«

Der Gefreite kehrte in gehobener Stimmung mit einem Sack zurück, kniete vor dem Bücherschrank nieder und begann die Papiere in den Sack zu stopfen.

Petrowskij stand am Tisch und wartete. Lossews Stimme knarrte:

»Ich glaube, wir sind bekannt? So also gestaltet sich unser Wiedersehen, Nikodim Alexandrowitsch …«

Wieder hüstelte er kläglich. »Sozusagen … machen Sie … eine Haussuchung bei mir! Tja, tja …« Ein neuer Hustenanfall.

»Die wichtigen Papiere haben Sie verbrannt?«

»Habe sie nie bei mir gehalten … Also auf Befehl des Sicherheitsausschusses?! Des Herrn Ingenieur Drakin … Tja, tja …«

Den Fähnrich ekelte es vor dem beständigen Hüsteln, der heiseren Stimme – er fühlte, daß Lossew nicht krank war, und der türkische Diwan, riesig und schwarz wie ein Sarg, irritierte ihn, er hätte ihn von der Wand wegschieben, öffnen mögen, aber dann sah und spürte er wieder das Schleimtier da unter der roten Decke, wandte sich angewidert ab und antwortete Lossew nicht.

»Kowaltschuk, bist du endlich fertig?«

»Gleich, noch die letzten Bündel.«

Ohne sich zu verabschieden, verließ Petrowskij das Zimmer, warf noch einen letzten Blick auf den Diwan, war plötzlich beinahe sicher, daß dort alles versteckt lag.

»Kowaltschuk, hole den Posten aus der Küche.«

An der Haustür im Flur fragte er den Posten:

»Kalt, was?«

»Zu Befehl, nein, Euer Wohlgeboren!«

Fuselgeruch schlug dem Fähnrich ins Gesicht; Petrowskij fuhr zusammen, fragte – seine Stimme klang jetzt barsch –:

»Wie kommt es, daß du nach Branntwein riechst?«

In seiner Verwirrung antwortete der Soldat die Wahrheit.

»Die Hausfrau hat uns allen ein Gläschen gespendet …«

Das Dienstmädchen hatte einen Vierteleimer verdünnten Holzsprits aus der Vorratskammer im Hofe geholt – in Anbetracht der bevorstehenden Bewirtung hatte der Posten sie durchgelassen.

»Sagt bloß eurem Offizier nichts davon …«

Frau Lossewa handelte unter der Hand mit Holzsprit, tauschte ihn gegen Weizenmehl an die Bauern aus, um nicht mit der Brot- und Mehlkarte vor dem Bäckerladen anstehen zu müssen.

Petrowskijs Herz machte einen Sprung, eine heiße Blutwelle stieg in ihm auf.

»Kowaltschuk, mit zwei Mann mir nach!«

Lossew riß die Augen auf – eine Rückkehr kam ihm unerwartet; er hatte sein Kranksein bereits vergessen, faßte sich aber schnell und begann wieder zu stöhnen.

»Sind Sie imstande, vom Diwan aufzustehen?«

»Oh, oh, mein Herz … mein He … e … rz!«

»Hebt ihn auf, Leute – vorsichtig! Tragt ihn ins Schlafzimmer hinüber.«

Frau Lossewa brach in Tränen aus.

»Mein Wanja, was tut man dir an! Mein Wanja!«

Lossew schüttelte erschrocken den Kopf.

»Rührt mich nicht an … Oh, oh, rührt mich nicht an.«

»Kowaltschuk, tut, was ich befohlen habe.«

Zwei Soldaten traten auf Lossew zu.

»Packt ihn unter die Achseln, das geht leichter.«

»Ich will … oh … selbst … auf-stehen …«

»Laßt ihn, er steht selbst auf …«

Lossew setzte sich, in die Decke gewickelt, in den Sessel am Schreibtisch und beobachtete den Fähnrich mit weitaufgerissenen Augen. Petroswkij befahl, die Polsterrollen abzunehmen und den Diwan zu öffnen. Kowaltschuk holte ein Päckchen Papiere und in einer kleinen Holzkiste mehrere Pistolen und Patronen hervor. Frau Lossewa war aus dem Zimmer entfernt worden; ihr Weinen, mit krampfhaftem Schlucken verbunden, drang aus dem Nebenzimmer.

»Na, fühlen Sie sich jetzt wohler, Herr Lossew? Vielleicht versuchen Sie mal, schnell ganz gesund zu werden?«

Die Tuchzipfel über Lossews Kopf bewegten sich, seine Augen blinzelten eilig, er zog die Decke fester an.

»Verstellen Sie sich nicht. Auf Befehl des Sicherheitsausschusses sind Sie verhaftet. Wenn Sie sich nicht allein ankleiden können, werden Ihnen meine Soldaten behilflich sein.«

Einen Augenblick verlor Lossew die Fassung, stand auf, machte ein paar kurze Schritte, sank wieder auf seinen Sitz zurück, stöhnte, stand wieder auf. Petrowskij hatte schließlich genug von dem Komödienspiel.

»Wer hat Ihre Gattin veranlaßt, meine Soldaten mit Fusel betrunken zu machen?«

Lossew ächzte, schluckte vor Wut und Ärger, aber nicht über den Fähnrich oder die Haussuchung, sondern über seine Frau, und ging, zuerst langsam, dann schneller, sich ankleiden.

Petrowskij nahm die Pistolen an sich, zündete sich eine Zigarette an und schritt auf den Flur hinaus, um hier zu warten. Vom Schlafzimmer her klang durch die halboffene Tür:

»Du bist schuld daran, du hast mich zugrunde gerichtet … Deinetwegen komm ich jetzt ins Gefängnis. Verdammte! …«

Petrowskij lächelte; der war schnell gesund geworden.

Der Fähnrich fühlte sich plötzlich müde und abgespannt.

Als Lossew abgeführt wurde, flüsterten die Nachbarn an den Gartenpforten hinter ihm her:

»Wohin bringen sie ihn wohl?«

»Gewiß ins Gefängnis … Jetzt hat er, was er wollte, das Lästermaul! …«

Gleichgültig übergab Petrowskij den Verhafteten dem Gefängnisaufseher gegen eine Empfangsbescheinigung und kehrte mit seinen Soldaten und dem Sack in das Rathaus zurück; hier steckte er zwei der Pistolen, einen funkelnden Smith und einen Browning, zu sich; eine der Waffen wollte er dem Werkmeister Ignat schenken.

Es war schon nach Mitternacht, als Michail Iwanowitsch Tschapygin sich schließlich aus dem Sicherheitsausschuß rettete und in den Stadtklub zum Abendessen ging. Dem Klub war nur die Hälfte seiner Räumlichkeiten und das Lesezimmer belassen worden, in der anderen Hälfte war ein Lazarett untergebracht. Tschapygin fand noch einige Freunde vor, die, Zeitungen in der Hand, die Lage erörterten. Als Tschapygin nach dem Abendessen nach Hause aufbrach, um wenigstens ein paar Stunden zu schlafen, sagte er jovial und zufrieden:

»Meine Herren, obwohl ich nicht zur Partei gehöre, bin ich doch ein alter Sozialrevolutionär, ein Volksfreund. Immer habe ich gesagt, unsere Rettung liege in der Revolution; jetzt kriegen wir die Deutschen nieder!«

 


 << zurück weiter >>