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10

Afonka wußte nicht, weshalb er in einem Zuge war und wohin man ihn brachte. Fiebernd, halb bewußtlos, öffnete er die Augen, ließ seine Blicke verständnislos umherschweifen – zuerst in einem Eisenbahnwagen, nachher in einem kleinen, hellen Krankenzimmer.

Lange lag er in schweren Fieberdelirien. Wie in weiter Ferne erstand zuweilen in seinem Bewußtsein und zerstob wieder in wirren Reden das Gesicht einer Frau oder eines jungen Mädchens, das er im Unterbewußtsein treu bewahrte, das aber aus seiner Vorstellungswelt entschwunden war. Diese drang ungestüm auf ihn ein. Er sah sich windende Würmer herankriechen, den Schützengraben füllen – groß, dick, ölig glänzend, als wären sie in Fett getaucht oder in etwas Schweißähnliches, das scharf und übelerregend roch, so daß ihm schwindlig wurde und er wieder in einen Dämmerzustand versank. Die Würmer kamen von hinten her, aus der Rückseite des Schützengrabens gekrochen, nicht von drüben, vom Feinde her, und er mußte sie zertreten, versuchte, sie mit seinen schmutzigen Füßen zu zerstampfen; die Würmer aber wanden sich unter seinem Stiefel hervor, glitschriger Schmutz haftete an ihnen. In rasender Wut stürzte er mit dem Gewehr über sie her, spießte sie auf sein Bajonett; eine Jauche, die rot wie Blut aussah, aber ekelhaft roch, spritzte aus den glitschrigen Würmern. Er drehte das Gewehr um und schlug mit dem Kolben auf sie ein, sie in Stücke zerfetzend, doch diese Fetzen krochen aufeinander zu, wuchsen zusammen und. bildeten ein riesiges, einem Lindwurm ähnliches Ungetüm, dessen fettig glänzender Schlangenleib sich im Schützengraben hin und her wand, sein Bein umschlang, an ihm heraufglitt, ihm Arme und Hände umspann, die, durch langen Kampf und vergeblichen Widerstand ermattet, in der Umklammerung des Ungetüms das Gewehr fallen ließen; er stürzte, sank auf den Grund des Grabens, unter und über ihm und um ihn ringelte sich das Gewürm, würgte ihn, und er schrie auf, wild, röchelnd:

»Zertretet die Würmer, zertretet sie, zertretet sie! Das Gewürm, die Würmer, zerstampft sie! Erwürgt das Untier! Ah-ah–ah!«

Ein weißes Häubchen neigte sich über ihn, hob seinen hinabgeglittenen Kopf empor, richtete das Kissen; einen Augenblick lang traf ihn der Blick zweier ruhiger, freundlicher Augen, und dann begann er sogleich von etwas anderem zu reden. Ihm war, als stehe er am Rande eines großen Waldes und lausche und spähe in die Dunkelheit; allmählich begann er ein leises Geräusch zu unterscheiden, etwas, das an das ferne Rascheln von trockenem Laub erinnerte, wenn der Wind darüber streicht und sich klingend in den eingerollten Blättern verfängt. Er blickte gespannt in das Dunkel und sah einen anfangs noch blaß, langsam aber immer heller aufleuchtenden Stern, der sich ihm näherte und die Umrisse einer Frauengestalt in Weiß annahm, und nun fühlte er, daß das Licht von ihr ausging; da wurde es wieder dunkel vor seinen Augen, er stürzte, stürzte hilflos in eine schwarze Tiefe und schrie auf, schrie …

»Mein Stern geht auf! Mein Stern von Bethlehem … Stille da, stille … Mein Stern!«

Und einmal, als er in der Fieberhitze wieder irr redete, neigte sich das weiße Häubchen über ihn, und zwei Augen schauten ihn an. Er erschauerte, starrte einen Augenblick auf die Erscheinung, wie ein Blitz durchzuckte es ihn, er schloß schnell die Augen und rief:

»Fenitschka!«

Nach einer Weile kam er wieder zu sich und spürte einen stumpfen Schmerz im Bein; er wollte es bequemer ausstrecken, schrie plötzlich auf und begann leise zu stöhnen. Eine Schwester trat an sein Bett, und eine fast fremd klingende Stimme sagte:

»Sie dürfen sich nicht bewegen! Liegen Sie still.«

Sie rückte behutsam die Bruchschiene zurecht.

Während sie sich an seinem Bett zu schaffen machte, blickte er wie erstarrt auf ihr Profil, und als Fenjas Bild nun bewußt vor ihm erstand, hätte er fast wieder aufgeschrien, doch vor Erregung brach seine Stimme, flüsternd fragte er:

»Fjokla Timofejewna, sind Sie es wirklich?«

Sie nickte stumm mit dem Kopf.

Ihre Gegenwart gab ihm die Kraft zu sprechen.

»Das ist Schicksal!«

Die kleine Fenja antwortete leise, mit einem Blick auf die Schlafenden:

»Ja, Kaljabin, Schicksal.«

»Alle meine Hoffnung hatte ich auf das Schicksal gesetzt … Und nun hat es Sie mir wirklich wieder zugeführt!«

»Um Sie vor dem Tode zu retten, Kaljabin, darum!«

»Wie das, vor dem Tode?«

»Schweigen Sie jetzt, vor allem aber rühren Sie sich nicht!«

Sie verbesserte noch einmal die Lage seines Beines, ging dann aber nicht fort, sondern setzte sich zu ihm auf den Bettrand.

»Einst haben Sie mir das Leben gerettet, nun hat das Schicksal es so gefügt, daß ich das gleiche an Ihnen tun durfte …«

Sie stand auf und wollte gehen, ihn aber überkam plötzlich eine furchtbare Angst, ihm schien, daß er sie niemals mehr wiedersehen würde, wenn sie jetzt von ihm ginge, und er rief ihr nach:

»Fjokla Timofejewna!«

»Was wollen Sie, Kaljabin?«

»Ich möchte trinken …«

Sie trat an das Tischchen, goß ein wenig Wasser in ein Glas und hielt es an seine Lippen. Er hatte eigentlich nur um Wasser gebeten, um sie noch eine Weile zurückzuhalten, und als er mit seinen Fingern ihre Hand berührte, lächelte er, glücklich darüber, daß sie zurückgekehrt, bei ihm geblieben war, und die Hoffnung erwachte in ihm, daß er sie auch weiterhin sehen würde.

Die kleine Fenja stellte das Glas an seinen Platz, nickte ihm im Gehen noch einmal zu und sagte:

»Sie dürfen sich nicht rühren, Kaljabin, darauf kommt es an – und jetzt schlafen Sie …«

Und wirklich sank er gleich in Schlaf, und es war der ruhige, tiefe Schlaf der beginnenden Genesung, der Seele und Körper erquickt und kräftigt.

 

Zusammen mit dem Bewußtsein und den wiedererwachenden Kräften kehrten auch seine früheren Gedanken zurück. Wie immer war er schweigsam, blickte finster um sich und verzog vor Schmerz oft das Gesicht, was ihn noch häßlicher und abstoßender machte – um seine zertrümmerte Nase bildeten sich Fältchen, tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn, infolge des wochenlangen Liegens klebten die roten Haare, lang geworden, zu filzigen Strähnen zusammen und hingen ihm wirr ins Gesicht. Die ganze Zeit über lag er ruhig da, sobald aber die kleine Fenja Dienst hatte, suchte er immer, sich aufzurichten, sie zu sehen, bewegte das wunde Bein und stöhnte vor Schmerz. Wenn Fenja ihn stöhnen hörte, trat sie an sein Bett, rückte sein Bein zurecht – vielleicht bewegte er es auch nur, um diesen unerträglich heftigen Schmerz hervorzurufen, der ihm ein Stöhnen abzwang und die kleine Fenja an sein Lager eilen ließ. Er spürte ihre Nähe, spürte ihre Berührung und war bereit, alles zu ertragen, wenn er nur ihre Augen, ihr leises, ruhiges Lächeln sehen dürfe. Er hätte der Stunde fluchen können, da er sich an die Gendarmen verkauft hatte, und jener, da er betrunken zu den beiden Schwestern gegangen war und Chljupin hinausgeworfen hatte. Leuchtend erstand die Erinnerung an den Tag vor ihm, da er mit seinem Leibe die kleine Fenja vor der herabsausenden Kosakenpeitsche gedeckt und sie ihn gerührt geküßt hatte.

Dieser schwesterliche Kuß war in seiner reinen Menschlichkeit jener leuchtende Tropfen eines höheren, würdigeren Lebens, der auch in ihm ein Stück tieferen Menschentums bewahrt hatte. Derb, grausam, war er hemmungslos in Freude und Zorn, doch immer, auch im tiefsten Fall, war ein inneres Erzittern bei dem bloßen Gedanken über ihn gekommen, daß sie, sein Stern von Bethlehem, auf Erden lebte, sein ewiger Leitstern, der ihm ein besseres Leben wies, wenn er auch vom Wege abgeirrt war und im Dunkel verkam …

Und eine würgende Angst erfaßte ihn bei der Vorstellung, daß sein Stern wieder entschwinden könnte und er in seiner Verzweiflung dann aufs neue im Schmutz der Straße versinken würde. Vor niemandem streckte er die Waffen, war jedem gegenüber der rauhe, hemmungslose Afonka, stets bereit, das Messer zu ziehen; trat aber Fenja auf ihn zu, so wurde er hilflos wie ein kleines Kind, wurde verlegen und scheu, wußte nicht, wie er mit ihr sprechen sollte, was er ihr sagen könnte, und wiederholte endlos, daß das Schicksal sie ihm wieder zugeführt habe. An dieses wohlwollende Schicksal glaubte er unerschütterlich und baute darauf all seine Hoffnung auf. Die kleine Fenja war wieder in sein Leben getreten, nicht mehr als unselbständiges junges Mädchen – etwas Neues spürte er an ihr, sie schien ihm fast eine junge Frau. Er blickte forschend auf ihre Hände und war beglückt, als er keinen Trauring an ihrem Finger bemerkte. Das bestärkte ihn noch in seiner Hoffnung, daß sie nicht wieder verschwinden würde. Nie durfte er sie aus dem Auge verlieren! Er wußte genau, daß sie kein junges Mädchen mehr war, aber das brauchte er eigentlich auch nicht – sie nur einmal, nur einmal im Leben besitzen! … Jedes Mädchen, jede Frau, die nicht wie eine Bäuerin oder Arbeiterin gekleidet war, hielt er für Blutsauger und Parasiten, für »Würmer«, wie er es nannte, nur die kleine Fenja war in seinen Augen eine Ausnahme: ein Mensch, der mit so klaren, freundlich lächelnden Augen jeden anblickte, aus dem eine solche innere Ruhe und solche Lebensfreude sprach, konnte nicht von Fäulnis ergriffen, konnte kein »Wurm« sein! Er betrachtete ihr Gesicht, wenn sie mit Verwundeten, Offizieren, Ärzten sprach, und ballte wütend die Fäuste, sobald er begehrende Blicke auf sie gerichtet sah. Vor Haß knirschte er mit den Zähnen, stöhnte und murmelte vor sich hin:

»Zertreten müßte man dieses Gewürm, zertreten!«

Des Nachts, wenn Fenja Dienst hatte und die Kranken schliefen, täuschte er heftige Schmerzen vor; dann setzte sich die kleine Fenja zu ihm aufs Bett und sprach beruhigend auf ihn ein.

Früher war bei dem Gedanken an den rothaarigen Mönch eine unsagbare Angst über sie gekommen, die sich bis zum Entsetzen steigerte, wenn sie ihm begegnete, hatte er sie doch bis nach Petersburg verfolgt und um ihretwillen, wie sie erriet, es zuwege gebracht, daß Petrowskij nach Sibirien verschickt wurde. Seit ihrer inneren Wandlung durch ihre Liebe zu Boris stand sie dem Leben ruhig und innerlich gefestigt gegenüber, und all das Leiden und Sterben, das sie als Krankenschwester während des Krieges täglich vor Augen sah, hatte ihre Zuversicht nicht erschüttert, sondern sie innerlich noch mehr geklärt. Als der Krieg ausbrach, hatte sie gerade in einem Krankenhause gearbeitet, um praktische Erfahrungen zu sammeln; und als die ersten Züge mit Verwundeten eintrafen, war sie Krankenschwester geworden.

Der Chefarzt des Krankenhauses hatte ihr Vorstellungen gemacht:

»Sie täten besser daran, Ihr Studium fortzusetzen; als Arzt können Sie mehr Nutzen bringen denn als Krankenschwester.«

»Ich würde jetzt keine Befriedigung in meinem Studium finden. Und die Kranken und Verwundeten haben oft einen mitfühlenden Menschen, Aufmerksamkeit und Freundlichkeit nötiger als Arzneien; sie müssen vor allem wieder seelisch zur Ruhe kommen. Mit dem Kurieren aber werden Sie auch ohne mich fertig.«

Als Kaljabin in ihr Lazarett gebracht wurde, berührte sie das anfangs nicht näher, und erst als es hieß, daß seine Lage fast hoffnungslos sei, daß jeden Augenblick Blutvergiftung eintreten könnte, wurde sie aufmerksam, verbrachte die Nacht, in der die Krise erwartet wurde, in unablässiger Wachsamkeit an seinem Lager. Zuweilen glitten ihre Blicke über das Täfelchen zu Häupten seines Bettes, sie las seinen Namen, und die Vergangenheit erstand wieder vor ihrem inneren Auge, doch durch den dazwischen liegenden Lebensabschnitt gedämpft und entrückt, gleichsam wie hinter einem matten Glase. Diese durchwachte Nacht an seinem Krankenlager hatte Kaljabin das Leben gerettet.

 

Als Kaljabin allmählich wieder zu Kräften kam, hätte Fenja ihn gern gefragt, ob es wahr sei, daß er Petrowskij verraten und weshalb er das getan habe, doch aus Zartgefühl gegen den Kranken konnte sie sich nicht dazu entschließen.

Afonka selbst kam darauf zu sprechen.

Er hatte sich den ganzen Tag mit der Frage abgequält, was aus Petrowskij geworden sei und wie es ihm jetzt wohl gehe. Am Abend, als die übrigen Kranken eingeschlafen waren, stöhnte er. Die kleine Fenja richtete sein Bein zurecht und setzte sich zu ihm auf den Bettrand.

Er sagte in heiserem Flüsterton:

»Fjokla Timofejewna?«

»Was ist, Kaljabin?«

»Wo ist jetzt wohl Nikodim Alexandrowitsch?«

Fenja zuckte zusammen, furchte einen Augenblick die Brauen, dann aber glättete sich ihre Stirn wieder.

»Er war eine Zeitlang auf der Fabrik meines Onkels beschäftigt …«

»Also hat man ihm die Rückkehr aus Sibirien gestattet?«

»Ja …«

Wohl eine Minute lang schwieg Afonka, dann fragte er:

»Und wissen Sie nicht, wo er jetzt ist?«

»Auf einer Kriegsschule …«

Aus seiner eigenen Vorstellungswelt heraus bemerkte Afonka:

»Warum ist er dahin gegangen? Das hätte er nicht tun sollen.«

»Er ist einberufen worden.«

Wieder herrschte eine Weile Schweigen. Afonka machte eine Bewegung, stöhnte.

»Liegen Sie still!«

Diese nichtssagenden Worte ermutigten ihn, das auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte.

»Fjokla Timofejewna, ich war es, der ihn damals verraten hat, ich …«

Wie ein Echo aus seinem Innern klang ihm ihre Frage:

»Warum haben Sie das getan, Kaljabin?«

»Wissen Sie das wirklich nicht? …«

Die kleine Fenja erschrak. Also trafen ihre Befürchtungen zu! Afonka aber konnte nicht länger an sich halten und fuhr fort:

»Wenn es sich nicht um Sie gehandelt hätte, wäre es niemals geschehen … Es hat mich um mein eigenes Leben gebracht, lange Zeit … Ich wußte ja wohl damals schon, daß ich nichts damit erreichen würde, aber es war stärker als ich. Ich war ja damals auf einem ganz anderen Wege, ich strebte nach Wahrheit, suchte nach Wahrheit, und die lag für mich damals vielleicht bei Ihnen. Da traf ich Nikodim Alexandrowitsch, hoffte bei ihm Aufklärung und Belehrung zu finden, suchte in Schenken nach ihm, einen ganzen Monat lang, fragte ihn: ›Was ist Wahrheit?‹ Das Wahre für mich aber waren Sie, in Ihnen lag meine Wahrheit. Durch Petrowskij hoffte ich dann, auch Ihnen näher zu kommen, und kam mir da nicht wieder das Schicksal zu Hilfe? Erinnern Sie sich an den Januar 1905? Nie werde ich das vergessen, auch nicht auf dem Sterbebette …«

»Was werden Sie nie vergessen?«

»Nun, Ihren Kuß! Ich fühle ihn immer noch und werde ihn fühlen mein Leben lang … Vielleicht verdanke ich es diesem Kuß, daß ich nicht ganz zugrunde ging, obwohl ich am äußersten Rande des Abgrundes menschlicher Versuchung dahinschritt, wie ein Dieb in der Nacht. Ihr Kuß aber hat mich behütet auf meinen Irrfahrten. Wie zu einem Stern blickte ich auf zu Ihnen, sein Leuchten erlosch niemals ganz, leitete mich in der Finsternis – Sie sind dieser Stern, mein Stern von Bethlehem …«

Er schwieg, dann fügte er hinzu:

»Ich möchte ihn gern sehen …«

»Wen möchten Sie sehen?«

»Petrowskij … Besuchen Sie ihn?«

»Nur selten einmal …«

»Vielleicht käme er her?«

»Wozu?«

»Ich hätte auch ihm einige Worte zu sagen … Wir sind vom gleichen Schlage …«

 

Langsam heilte das Bein, und als Afonka zum ersten Male, von Fenja gestützt, einen Gehversuch auf Krücken machte und ein paar Schritte durch die Zimmer humpelte, freute er sich wie ein Kind.

»Fjokla Timofejewna, werde ich denn wirklich wieder gehen können?«

»Jetzt haben Sie nichts mehr zu fürchten.«

»Und Sie werden mich auch auf die Straße hinauslassen? Da bin ich nun schon so lange in Petersburg und habe doch gar keine Ahnung, was draußen in der Welt vor sich geht! … Ich brauche mir nur ein bißchen die Menschen anzugucken …«

»Wozu?«

»Ich würde es gleich sehen, ich brauche nur hinzugucken … Vielleicht ist es schon nahe …«

»Was meinen Sie damit?«

»Na, ich meine doch das, weswegen Nikodim Alexandrowitsch …«

Fenja unterbrach ihn kurz und ging fort. Am Abend, als alle schliefen, trat sie an sein Bett und sagte:

»Geben Sie acht, Kaljabin, wenn eine Schwester solche Reden hört, so wird es Ihnen schlecht ergehen.«

»Würde sie mich denn angeben?«

»Ja, sie muß, laut Dienstanweisung.«

»Mögen sie tun, was sie wollen! Ich habe vor niemandem Angst, ich bin jetzt ein anderer geworden. Dieses Gewürm aber müßte man zertreten!«

»Was für ein Gewürm?«

»Die Würmer, die sich da auf den Straßen im Schmutz wühlen, den Menschen das Blut aussaugen … Warum haben sie denn den ganzen Krieg eingebrockt? Um sich an Menschenblut zu mästen …«

Er sprach in leisem Flüsterton. Fenja, die sich vorgeneigt hatte, um ihn besser zu hören, blickte ihn verwundert an.

»Wer hat Sie auf solche Gedanken gebracht?«

»Ich bin selbst darauf gekommen. Im Schützengraben ist mir ein Licht aufgegangen. Meine Wahrheit habe ich gefunden … Jetzt möchte ich mir nur einmal die Menschen ansehen – ich werde es gleich spüren, wie die Sache steht. Hier gehe ich an meinen Krücken bloß im Gang hin und her, und die Fenster blicken auf den Hof. Auf die Straße möchte ich!«

»Bald werden Sie ja wieder ganz gesund sein und dann auch ausgehen dürfen …«

 

Und als eines Tages die diensthabende Schwester ihn zusammen mit anderen Rekonvaleszenten zu einem Spaziergang auf die Straße hinausführte, atmete Afonka die rauchdurchsetzte Vorstadtluft gierig ein und blickte scharf in die Gesichter der Menschen, die um Mehl, Brot, Zucker anstanden.

»Schwester, warum drängeln sich die Menschen in solchen Haufen vor den Läden?«

»Sie stehen an, um Lebensmittel zu erhalten …«

»Was ist denn los?«

»Es langt nicht mehr – alles geht an die Front, für euch Soldaten, für die übrigen reicht's nicht mehr …«

Afonka blickte in die finsteren Gesichter der Arbeiter, die, blaß und erschöpft, aus den Fabriken kamen oder zum Schichtwechsel eilten. Der Herbst hatte früh eingesetzt mit Nebel und Regen. Schon im September wurden die trüb brennenden Laternen um fünf angezündet, aus dem schwelenden Halbdunkel klangen unheimlich die Klingelzeichen der Straßenbahnen und das fette Grunzen der Autos, als schrillten die einen böse: »Brot – Brot – Brot!« während die anderen heiser schnarrten: »Nur Geduld! Nur Geduld! Nur Geduld!« In langen Reihen standen in der naßkalten Dämmerung die Menschen vor den Bäckereien an, finster und ungeduldig; daneben zuckten die flammenden Lichtreklamen der Kinos, und in hellerleuchtete Portale strömten scherzend und lachend Offiziere, Herren in Zivil, Damen, herausgeputzt oder in Schwesterntracht, von den mißgünstigen Blicken der anstehenden, blassen, ausgemergelten Gestalten verfolgt …

 

Ein anderes Mal schlug Fenja vor, ihre Genesenden in ein Museum zu führen. Afonka drängte sich an ihre Seite.

»Fjokla Timofejewna, wozu denn in ein Museum, was sollen wir da?«

»Was ihr da sollt? Euch Bilder ansehen, berühmte Meisterwerke; vielleicht haben viele unter euch sonst niemals Gelegenheit dazu …«

»Ach was, Meisterwerke! Bringen Sie uns lieber in die belebten Straßen, das ist auch ein Museum, aber ein lebendes; mögen die Soldaten sich das mal ansehen!«

Fenja verstand nicht, was er meinte, und willigte ein, ihnen die Stadt zu zeigen.

Vor einer menschenumlagerten Bäckerei von Philippow beschloß Fenja, ihren Verwundeten auf eigene Rechnung etwas vorzusetzen. Die glitzernde Spiegelglastür des Cafés öffnete sich lautlos, und die Soldaten und die Schwester traten in den hell erleuchteten Raum. Die harrende Menge vor dem Ladentisch ließ die Verwundeten vor, die ohne Verzug bedient wurden. Afonka starrte in den Saal des Cafés, wo an kleinen Tischen Herren und Damen langsam Kaffee schlürften; in zierlichen Körbchen standen Berge von Feingebäck, hohe Schalen voll Kuchen und Pastetchen vor ihnen.

»Fjokla Timofejewna, wie geht das denn zu – da stehen die Menschen stundenlang in Kälte und Regen nach einem Stück Brot an, und hier geht es hoch her bei Kuchen, Pfannkuchen, Gebäck und Schokolade! Es gibt keinen Zucker mehr im Handel, aber Bonbons und Pralinen stehen den Herrschaften in Haufen zur Verfügung?! … Wie soll man sich das zusammenreimen? …«

Fenja sah ihn verwundert an, mußte sich aber gestehen, daß Kaljabin recht hatte. Doch zugleich erschrak sie bei dem Gedanken, daß in seinen Worten etwas Drohendes und Unheimliches lag, das die übrigen Soldaten erregen mußte, etwas, worüber zu reden verboten war und was sie laut Dienstanweisung ihrer vorgesetzten Stelle zu melden hatte.

Sie trat mit Afonka ein wenig beiseite.

»Kaljabin, seien Sie vorsichtig …«

»Habe ich denn nicht recht? Diesen Leuten hier ist der Krieg von Nutzen« – er wies mit dem Kopf nach dem Tisch hin, – »zertreten sollte man das Gewürm!«

Fenja wandte sich schnell von ihm ab und trat wieder zu den übrigen Soldaten; ihre Gesichter blickten gleichgültig, doch in den Augen zuckte höhnisch ein listiges Flimmern …

 

Als Rasputin ermordet wurde, sagte Afonka zu Fenja:

»Na, Fjokla Timofejewna, jetzt geht's bald los …«

Sie wußte, was er meinte, fragte aber doch:

»Was soll bald losgehen? …«

»Einen fetten Wurm, der sich besonders breit machte, hat man zertreten – das ist der Anfang.«

Im Februar, nach der Thronentsagung des Zaren, wanderte Afonka allein durch die Straßen, berauschte sich an den Reden der Volksvertreter und der Menge. Wenn aber zur Fortsetzung des Krieges aufgefordert wurde, rief er dazwischen:

»Wie lange soll's denn noch dauern?! Schluß mit dem Krieg! Genug!«

Im Lazarett scharten sich des Abends die Verwundeten um ihn und er erklärte ihnen, wie er zu der Erkenntnis gekommen sei, daß der Krieg für sie keinen Sinn und Zweck habe, daß man nicht ebensolche Soldaten, wie sie es seien, totschlagen sollte, sondern jene, denen der Krieg Nutzen bringe. Und als im Frühjahr das dumpfe Gerücht auftauchte, die russischen Soldaten verließen die Schützengräben und schlössen Bruderschaft mit den deutschen, sagte er frohlockend:

»Das habe ich schon lange vorausgesagt, Kameraden – wenn der russische Soldat dem deutschen die Hand schüttelt, so ist der Krieg aus und zu Ende, und dann beginnt etwas anderes …«

»Was denn, Kaljabin?«

»Dann machen wir uns daran, unser Gewürm zu zertreten, und sie das ihrige! Wir haben unser Blut dieser Würmer wegen vergossen – jetzt soll ihr Blut fließen …«

»Richtig, Kaljabin!«

 

Die Schwestern und Ärzte blickten verstört, baten telephonisch um Entsendung eines Regierungsemissärs, der den Soldaten Vernunft predigen sollte. Ein Fähnrich, wohl ein früherer Student, wurde als Emissär ins Lazarett gesandt; doch lauschten die Soldaten seinen Vorstellungen nur widerwillig und mißtrauisch, und in den Augen, die unter den gefurchten Stirnen hervorblickten, war ein heimliches Glimmen. Wie ein Druck lag es über dem Lazarett und über ganz Petersburg.

Afonka humpelte des Morgens in den Soldatenrat, der die Leitung des Lazaretts an sich genommen hatte, schüttelte fröhlich seine rote Mähne, und aus seinen Augen sprachen ein hartnäckiger Wille und verbissene Kraft.

Fenja suchte ihm auszuweichen, doch einst hielt er sie zurück und sagte, ihr starr ins Gesicht blickend:

»Da ist es nun gekommen, worauf ich so lange gewartet habe, Fjokla Timofejewna – meine Zeit ist da! … Jetzt sind wir bald die Herren! …«

Die kleine Fenja wich erschrocken an die Wand zurück …

»Mein Stern ist aufgegangen und führt mich nach meinem Bethlehem …«

Aus weit geöffneten Augen sah Fenja ihn an.

Afonka fuhr fort:

»Sie, Fjokla Timofejewna, haben aber an meiner Seite nichts zu fürchten, denn Sie sind ja dieser Stern, und mein Bethlehem – das ist unsere kommende Stadt, die Revolution, meine ich! Sie aber können ganz ruhig sein! …«

 


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