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Vom frühen Morgen an klapperten Tippfräulein auf ihren Schreibmaschinen, Büroangestellte auf den Rechenmaschinen; der Buchhalter war schon oft mit Briefen und Rechnungen drinnen bei Drakin gewesen. Um halb elf verstummten Schreib- und Rechenmaschinen, und alle aßen hungrig ihre Stullen und tranken Tee dazu. Auch Kirill Kirillowitsch hatte sich erhoben, um zum Frühstück zu gehen.
Die Tür öffnete sich zögernd, und Petrowskij trat in seinem alten abgetragenen Studentenmantel und ebensolcher Mütze ins Kontor und sah sich finster um.
Ein Angestellter fragte:
»Was wünschen Sie?«
»Ich möchte Herrn Ingenieur Drakin sprechen.«
Drakins glattrasiertes hageres Gesicht erschien in der Tür zu seinem Arbeitszimmer; der Ingenieur, die Pfeife im Munde, ging Petrowskij ein paar Schritte entgegen, ihn mit einem kurzen, kaum merklichen Blick musternd, und drückte dem jungen Manne die Hand.
»Ich bin Nikodim Alexandrowitsch Petrowskij.«
»Freut mich. Kommen Sie mit nach oben. Wir frühstücken zusammen.«
Und ohne auf die Zustimmung des ihm nur flüchtig bekannten jungen Mannes zu warten, machte der Ingenieur an der Tür eine einladende Bewegung mit der Hand und ließ ihm den Vortritt.
Als Petrowskij die kleine Fenja zum Abiturium vorbereitete, hatte er den Ingenieur nur selten zu Gesicht bekommen, der sich bei ihren flüchtigen Begegnungen mit einem kurzen Handdruck begnügte; Petrowskijs Honorar wurde ihm von Fenjas Mutter ausgehändigt. Jetzt also würde er den vielgeliebten Onkel der kleinen Fenja näher kennenlernen!
»Nehmen Sie Platz! Was trinken Sie?«
»Danke, ich möchte nicht essen.«
»Der Mensch muß seine Körpermaschine genügend pflegen, sonst leidet seine Arbeitskraft. Ich habe eine Frühstückspause von zehn Minuten eingeführt, um zehn auf der Fabrik, um halb elf im Kontor. Der Zeitverlust wird durch intensivere Arbeitsfähigkeit nach der Stärkung ersetzt.«
Er legte Petrowskij ein Stück kalten Braten und Gemüse auf den Teller und goß ihm Wein ein.
»Ich ziehe Whisky vor … Erst wollen wir essen, nachher verhandeln wir.«
Drakin aß schnell, trank Whisky und Selters dazu, stopfte seine Pfeife, setzte sie in Brand und wartete, bis Petrowskij fertig war. Er führte ihn in sein Arbeitszimmer.
»Neben Ihnen stehen Zigaretten – bedienen Sie sich. Ich liebe es, nach dem Frühstück ein paar Minuten im Klubsessel zu sitzen und zu träumen.«
Petrowskij sah ihn erstaunt an.
»Weshalb wundert Sie das? Ja, ich träume zuweilen, spinne Zukunftspläne … Es wird Ihnen vielleicht wunderlich klingen, aber ich lese auch gern Zukunftsromane, Utopien; es steckt meist etwas von sich frei entfaltendem schöpferischem Geist in ihnen …«
Er zog tief den Rauch ein, in seine grauen Augen, die sonst stahlhart und kalt blickten, trat flüchtig ein nachdenklicher, warmer Ausdruck, erlosch aber gleich wieder.
Er warf einen Blick auf die Uhr, hob den Hörer des Fernsprechers.
»Hallo, ich komme zehn Minuten später.«
Er neigte sich leicht zu Petrowskij.
»Sie wollen zu mir auf die Fabrik?«
»Ich bin aus Petersburg ausgewiesen worden.«
»Aus welchem Grunde?«
»Ich weiß nicht recht, wohl wegen meiner früheren Tätigkeit; nach meiner Rückkehr aus Sibirien habe ich nicht mehr politisch gearbeitet.«
»Gleichviel. Sie können bleiben. Anfangsgehalt hundert Rubel monatlich. Nachher sehen wir weiter.«
Petrowskij sprang auf, setzte sich wieder und sagte erregt:
»Aber ich bin doch Sozialist!«
»Das ist mir bekannt.«
»Wir sind Gegner, und Sie – es sieht aus wie Hohn! – stellen mich bei sich ein, oder meinen Sie etwa, mich … dadurch zu kaufen? Daß sie mir hundert Rubel zahlen wollen, sieht aus wie eine Geste der Verachtung …«
»Ohne gebührenden Lohn arbeitet niemand bei mir, ich bin kein Ausbeuter.«
»Aber ich werde – ich sage es Ihnen offen – ich werde revolutionäre Propaganda unter Ihren Arbeitern betreiben.«
»Einen sinnlosen Aufstand lehne ich ab, aber eine Revolution, die unsere veralteten staatlichen Einrichtungen zeitgemäß erneuert, heiße ich willkommen. Natürlich kann eine Revolution nicht ohne Zerstörung abgehen, doch in dieser Zerstörung muß von Anfang an der Wille zum Aufbau vorherrschen. Wir werden ein anderes Mal eingehender darüber sprechen, fürs erste genügt es mir, wenn Sie meinen Vorschlag annehmen. Ich habe meinen Arbeitern eine sogenannte Teestube gebaut, wo sie sich ausruhen und zerstreuen können. Es ist eigentlich ein Arbeiterklub, aber um die Obrigkeit nicht vor den Kopf zu stoßen, mag es bei der Benennung Teestube bleiben. Sie werden, angegliedert an diese Teestube, Fortbildungskurse für meine Arbeiter einrichten; es wird Ihre Aufgabe sein, das allgemeine Bildungsniveau zu heben und den Arbeitern eine verständnisvolle, durchgeistigte Auffassung von der Arbeit und dem Fabrikationsorganismus, in dem sie beschäftigt sind, beizubringen. Wenn unsere Arbeiter geistig ebenso unentwickelt bleiben, wie sie es jetzt sind, so wird es tatsächlich einmal zu sinnloser Zerstörung kommen; dem möchte ich vorbeugen. Wie Sie Ihre Aufgabe praktisch angreifen, ist mir gleichgültig. – Ich muß jetzt gehen, bleiben Sie hier und überlegen Sie sich die Sache. Mittag essen Sie bei mir. Wenn Sie Lust haben, können Sie sich meine Bibliothek ansehen, Sie werden sie benutzen müssen; sie steht Ihnen zur Verfügung.«
Während der Ingenieur sprach, sah Petrowskij ihn mit wachsendem Erstaunen an; er hätte manches zu erwidern, manches zu fragen gehabt, aber er kam nicht dazu – Drakin sprach kurz und bestimmt und ging, als er geendet hatte, in die Fabrik, ohne sich von ihm zu verabschieden.
Im Büro warf Kirill Kirillowitsch im Vorübergehen kurz hin:
»Nikodim Alexandrowitsch Petrowskij, Fortbildungskurse, hundert Rubel, Wohnung und Verpflegung.«
Der Personalchef machte sich eine Notiz und trug dann Petrowskijs Name in das Angestelltenverzeichnis ein.
Petrowskij war indessen noch nicht mit sich ins reine gekommen und wußte nicht, ob er das Angebot des Ingenieurs annehmen sollte. Er machte sich einstweilen daran, die Bibliothek durchzusehen; es gab da endlose Reihen von russischen und ausländischen Fachwerken, Katalogen, Abhandlungen … und auf dem oberen Sims – Petrowskij war geradezu erstaunt: Böhm-Bawerk, Kautsky, Marx im Original und in der Übersetzung.
Petrowskij dachte:
»Gepanzert und gewappnet! Ja, gegen so einen ist der Kampf schwerer …«
Dieser Gedanke bestimmte ihn zu bleiben, doch fühlte er, daß er noch zu schwach sei, um den Kampf mit dem Ingenieur aufzunehmen, er selbst mußte sich zuerst weiter ausbilden, sich auch panzern und wappnen. In seinen ersten Studienjahren, vor der Verbannung, war er gewöhnlicher Parteiarbeiter gewesen, hatte Anweisungen empfangen und ausgeführt, zu einem gründlichen Studium des Sozialismus war ihm keine Zeit geblieben, und in der Verbannung hatte er sich nur wenige einschlägige Bücher verschaffen können und sie sorgsam vor fremden Blicken verbergen müssen. Seine Forderung einer ehernen Parteidisziplin war sein erster selbständiger Schritt gewesen; jetzt wollte er sich in die Sache vertiefen. Der Kampf und die Arbeit lockten ihn. Zu seinem Gedankengang über den Ingenieur zurückkehrend, schloß er:
»Aber gegen so einen ist der Kampf auch interessant – ich bleibe.«
Bis zum Mittagessen setzte er die Besichtigung der Bibliothek fort und notierte sich, welche Bücher ihm nützlich sein könnten; auf der festen, bequemen Leiter stehend, holte er die einzelnen Bände sorgsam hervor und stellte sie dann ebenso sorgfältig wieder an ihren Platz zurück. Drakin fand ihn noch mit dieser Arbeit beschäftigt.
»Also Sie bleiben?«
»Ja, ich bleibe.«
»Kommen Sie zu Tisch. Wir besprechen dann auch die technischen Einzelheiten …«
Nach dem Essen, das der Ingenieur mit einem Apfel und mit einem Glase Selters beschloß, sagte er:
»Nun wollen wir unseren Plan besprechen. Wohnung und Verpflegung haben Sie frei. Im Hause der Badeanstalt sind zwei Zimmer leer, die werden für Sie eingerichtet, morgen sind sie fertig. Mittag- und Abendessen teilen Sie mit mir, dabei unterhalten wir uns dann auch über die laufenden Fragen.«
Drakin sprach noch in seinem trockenen Geschäftston; als er dann aber zur Erläuterung seiner Arbeitsauffassung überging, belebten sich seine Augen, seine Ausführungen wurden bildhaft, ja farbig, und Petrowskij kam der Gedanke, daß dieser Ingenieur wirklich ein höchst eigenartiger Kapitalist sei, dessen Anschauungen – falls sie nicht ein verfeinertes Ausbeutungssystem zum Zwecke hatten – dem Sozialismus verteufelt ähnlich sahen. Drakin sagte dann weiter:
»Ich bin von der grundlegenden Bedeutung der Statistik überzeugt. Alles muß aufs genaueste in Zahlen erfaßt und errechnet werden. Die Höchstleistung der Arbeit kann nur dann erreicht werden, wenn man eine genaue Zusammenstellung der angewandten Energie und der resultierenden Ergebnisse in der Hand hat. Jede Bewegung muß möglichst zweckentsprechend sein und darf keinen erschöpfenden Kraftaufwand erfordern. Vielleicht ist es lächerlich, doch ich habe überall Uhren anbringen lassen, und jede Stunde haben die Arbeiter eine fünf Minuten lange Pause, die bei uns Rauchpause genannt wird. Ich habe in einigen Werkstätten die Sache zuerst praktisch ausprobiert. Die Leistung jedes einzelnen Arbeiters wurde streng kontrolliert – zuerst ohne, dann mit solchen Rauchpausen. Man muß in Betracht ziehen, daß die Arbeitsfähigkeit bei unserem zehnstündigen Arbeitstag mit jeder Stunde fortschreitend nachläßt und der Arbeiter darum Zeit mit Gesprächen und heimlichem Rauchen vertrödelt, ohne sich wirklich zu erholen, da er dabei wegen der Disziplinverletzung innerlich nicht ruhig ist, nicht ausspannt, wodurch seine Leistung noch mehr beeinträchtigt wird. Hingegen bieten ihm die Fünfminutenpausen wirklich Erholung, er darf ruhig rauchen und plaudern, er spannt wirklich aus, was bei der Maschinenarbeit, die unablässige Aufmerksamkeit fordert, von ungeheurer Wichtigkeit ist. Es ergibt sich so zwar statt des zehnstündigen ein neunstündiger Arbeitstag, aber ich habe mit dem Bleistift und der Uhr in der Hand festgestellt, daß trotz des Verlustes der einen Stunde die Produktion nicht gesunken, sondern im Gegenteil gestiegen ist. Und wenn wir dann einmal den Achtstundentag bekommen sollten, würde ich die Rauchpausen trotzdem beibehalten und nichts dabei verlieren.«
»Warum führen Sie dann den Achtstundentag nicht ein?«
»Sie wissen ja, das würde mir nicht nur Feinde und Unannehmlichkeiten schaffen, es würde auch zu Beanstandungen Veranlassung geben.«
»Wohin soll Ihrer Meinung nach Ihre Arbeitstheorie führen, was bezwecken Sie damit im weiteren Sinne?«
»Was ich damit bezwecke? Ich bin überzeugt, daß es zwischen der vereinigten Produktion und der vereinigten Arbeit über kurz oder lang zu Zusammenstößen kommen wird, und wenn ich mich und meinen Betrieb schon jetzt darauf vorbereite, so wird der Übergang sich schmerzlos und reibungslos vollziehen, da die Anpassungsmöglichkeit bereits gegeben ist. Ich denke, der Staat wird sich mit der Zeit gezwungen sehen, Produktion und Arbeit zu regulieren, nicht wegen irgendwelcher besonderer wirtschaftlicher Katastrophen, sondern infolge der Gesamtentwicklung, die es mit sich bringt, daß mit der wachsenden Dichte der Bevölkerung eine allgemeine Regelung von Produktion und Arbeit sich als unabwendbar erweisen muß. Gerät der Staat in immer größere Abhängigkeit von der Produktion, vom Kapital, so sind weitere Kriege und Revolutionen die unabwendbare Folge davon. Wir brauchen nur eine Revolution, eine Revolution, die Produktion und Arbeit in der ganzen Welt zu einem zweckentsprechenden, der Allgemeinheit am besten dienlichen Zusammenschluß bringt. Darauf müssen wir in Rußland besonders bedacht sein, und bei Ihrer kulturellen Arbeit hier sollten Sie das im Auge haben, doch habe ich nichts dagegen, wenn Sie Ihre Arbeit durch eine leichter faßliche Idee wirkungsvoller gestalten.«
Petrowskij empfand die Atmosphäre, die Fenja in diesem Hause umgab, und verstand jetzt ihre klare und einfache Lebensauffassung besser als vorher. Dieser Ingenieur schien wirklich ein ganzer Kerl zu sein, gegen den zu kämpfen, falls sich das als nötig erweisen sollte, sich der Mühe lohnen würde.
Pünktlich wie ein Uhrwerk kam Petrowskij zum Mittag- und Abendessen, vertiefte sich zu Hause und in der Teestube in Bücher, veranstaltete unter Hinzuziehung von Gymnasiallehrern Vorlesungen, gesellige Abende, Konzerte, trug sich mit dem Gedanken, einen Arbeitersportverein zu gründen. Ebenso eifrig aber betrieb er auch revolutionäre Propaganda; Flugschriften, sozialistische Bücher tauchten auf, und auch mündlich trug er den Arbeitern im vertrauten Gespräch zwischen den Vorlesungen seine Ansichten vor. Drakin war genau im Bilde und ließ ihn ruhig gewähren. Geradezu verblüfft aber war Petrowskij, als ihm der Ingenieur eines Tages eine größere Geldsumme mit der Bitte übergab, sie auf konspirativem Wege den aus Rußland verbannten Revolutionären ins Ausland zu schicken.
»Sie unterstützen Sozialisten und Revolutionäre?«
»Warum nicht? Ich bin nicht der einzige. Unsere Regierung wirkt hemmend auf die freie Entwicklung der Industrie ein, wir können uns nicht so entfalten, wie es die wirtschaftlichen Verhältnisse verlangen. Um da Abhilfe zu schaffen, müssen wir so handeln, wie ich handele. Ich weiß, was ich tue.«
Während dieser ganzen Zeit schrieb Petrowskij nur einmal an Sina und Fenja, und der Inhalt der beiden Briefe war fast gleich; er gab sich seiner Arbeit mit großem Eifer hin, studierte, hielt Vorträge, ihm blieb gar keine Zeit übrig, an seine persönlichen Angelegenheiten zu denken.
Er schrieb kurz:
»Liebe Sina, der Ingenieur ist wirklich ein wunderbarer Mann. Vieles an ihm kann ich zwar noch nicht recht verstehen, aber ich glaube, er ist ein ungewöhnlicher Mensch. Meine Arbeit, die mich sehr interessiert, nimmt mich eben so in Anspruch, daß ich keine freie Minute übrig habe. Wenn Sie doch bei mir wären! Selbst nur wenige Zeilen von Ihnen würden mich unsagbar freuen …«
Fenja antwortete unter anderem:
»Siehst du, Nikodim, ich habe dir gesagt, Onkel Kirja ist wunderbar! Im Frühjahr sehen wir uns wieder.«
Sinas Brief enthielt nur wenige Worte:
»Liebster, ich denke immer an Sie. Bald sehen wir uns wieder. Aber Sie müssen mir schreiben, müssen mir viel schreiben! Sina.«
Auf Sinas Antwort hatte er sehnsüchtig gewartet, und als ihr Brief eintraf – langer schmaler Umschlag aus dickem rauhem Papier mit glatten Rändern und ebensolchein Bogen – fühlte er sich beglückt.
Nach dem Mittagessen pflegte er in die Teestube zu gehen, um mit den Arbeitern zu plaudern, auf Fragen zu antworten, laufende Angelegenheiten zu besprechen.
Er saß in der Teestube an einem kleinen Tischchen am Fenster und studierte Sinas Handschrift, eine nervöse, ungleichmäßige, abgerissene Handschrift – die Worte sprangen zuweilen ein wenig nach oben –, aber fest und mit starkem Druck, die Feder mußte wohl eine stumpfe Spitze gehabt haben, die Buchstaben waren schwarz und struppig wie ihre Wimpern.
Erschrocken blickte er auf; ein Mann war leise an sein Tischchen getreten.
»Gestatten Sie, mein junger Herr, daß ich an Ihrem Tische Platz nehme … Ihre Verbindung mit dem Herrn Ingenieur erscheint mir so überraschend, daß sie mein ganz besonderes Interesse erregt … Privater Rechtsanwalt Iwan Matwejewitsch Lossew …«
»Sie sind der Herausgeber jener Zeitung?! …«
»Ganz richtig, tja …Herausgeber jener Zeitung … Belieben Sie sie zu lesen? …«
»Dergleichen Zeitungen lese ich nicht!«
Damit wandte Petrowskij sich ab und nahm wieder Sinas Brief in die Hand; ihm war, als ginge von ihrem Schreiben ein besonderer, kaum wahrnehmbarer Duft aus, ein Etwas, das wie ein leichter Hauch ihrer Seele, ihrer Berührung, ihres Blickes war, der auf dem Papier geruht hatte …
Lossew ließ sich nicht abschrecken.
»Ein Brieflein haben Sie bekommen?! Wohl ein Geschäftsbrief – oder ein rein persönliches Schreiben? …«
»Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Ich habe das besondere Verlangen, mit Ihnen bekannt zu werden, Nikodim Alexandrowitsch – so heißen Sie doch wohl?! Er ist eine so außergewöhnliche Erscheinung in unserer russischen Wirklichkeit, Ihr Herr Chef – finden Sie nicht? Eins aber kann ich nicht verstehen! Wie ein Mann mit gesundem Menschenverstand den Boden unter seinen Füßen, die Grundlage seines Wohlstandes und seiner Wohlfahrt selbst untergraben kann …«
»Wieso?«
»Seine Flachsschwinger da werden ihm eigenhändig eines schönen Tages den Garaus machen, und seine Fabrik wird gemütlich in die Luft fliegen, so, wissen Sie …«
Und Lossew machte eine unbestimmte Bewegung mit den Händen.
»Dabei wird sie einen niedlichen Purzelbaum schlagen, tja … Ich glaube, Sie sind bei ihm angestellt? Um die dunkle Masse zu bilden? … Also, Sie bilden sie, tja! … Sozusagen eine ganz besondere Ausbildung für einen längeren Aufenthalt in Sibirien …«
»Was meinen Sie damit!«
»Wenn ich nicht irre, sind Sie doch ein sogenannter politischer Sträfling, tja? … Na, natürlich, ein kranker Mann, das ist ja auch so eine Modekrankheit unseres Zeitalters, diese Sucht, die Grundlagen von Thron und Staat zu erschüttern, zu untergraben, so von unten her in aller Heimlichkeit, denn zum offenen Kampf langt es nicht an Willenskraft bei Ihnen und Ihrem Herrn Chef, und so befassen wir uns denn mit der Bildung der Massen, tja … Nun, für Sie ist das ja sozusagen gefundenes Fressen, stammen ja selbst aus diesen Kreisen, aber Ihren Herrn Chef, verzeihen Sie, den kann ich hier nicht verstehen, das übersteigt einfach mein Fassungsvermögen! Ein ganz rätselhafter Mann, tja, hilft sozusagen eigenhändig die Revolution herbeizuführen, einen allgemeinen Kuddelmuddel … Inzwischen aber legen wir unsere Kapitalien sicher im Auslande an, tja …«
»Was reden Sie da!«
»Nur was der Wahrheit entspricht – in England … Man zieht also allerhand in Betracht, Vorsicht nennt man das ja wohl, weise Voraussicht kommender Ereignisse … Die Revolution ist unvermeidlich? Schön, dann mache ich halt mit, mit Vergnügen! Bloß mein Geld bringe ich einstweilen doch lieber im Auslande unter, sicher ist sicher, wissen Sie, tja … Verstehen Sie, wie fein das gesponnen ist? Eine pfiffige Politik, sage ich Ihnen! … Wenn es denn schon sein muß, so mache ich halt auch den ganzen Sozialistenrummel mit, lasse mich sogar so weit herab, daß ich Sozialisten freundschaftlich die Hand drücke, da kenne ich gar keine Vorurteile, ich fürchte sie nämlich nicht, verachte unsere hausbackenen Sozialisten auch dermaßen, daß ich mir sogar einen von ihnen in Dienst nehme, ich zähme ihn mir sozusagen, damit er mir nachher aus der Hand frißt, tja … Eine pfiffige Politik, besonders bei diesem kleinen und sicheren Hinterhalt in England, tja …«
»Wissen Sie auch, was Sie reden, können Sie das verantworten?«
»Hä-hä-hä, Sie sind mir ein sonderbarer junger Mann, der wahre ungläubige Thomas! Sie wissen ja nicht, daß dem Lossew hier, dem Herausgeber jener Zeitung, das Herz schmerzt und blutet, wenn er sieht, wie unsere russische Jugend auf Irrwege geleitet wird … Bei uns, bei der russischen Jugend, da herrscht Geradlinigkeit, Aufrichtigkeit, treuherziges Ungestüm, wir sind bereit, uns um jeder beliebigen kleinen Idee willen zu opfern, Leib und Leben hinzugeben um unseres Nächsten willen, unbedingt um des Nächsten willen, billiger machen wir's nicht, tja … Die Herren Ingenieure aber, die suchen solche jungen Sturmköpfe einzufangen, und wie es dann so geht, ist bald nichts mehr von den jungen Weltverbesserern übrig; sie machen ja wohl ihren Radau und halten ihre kindlichen Reden, müssen ja auch ihr Vergnügen haben, in Wirklichkeit aber spazieren sie ganz brav Arm in Arm mit ihren umsichtigen Erziehern durch die staunende Welt – oh, in aller Freundschaft, bloß aus selbstloser Freundschaft, tja … Und so schicken wir denn auch kleine runde Sümmchen an die verbannten Herren Genossen ins Ausland. Hier im Lande, da kommt unsere liebe revolutionäre Jugend schon durch, die Herren Ingenieure sorgen schon dafür, daß die Genossen ihr hübsches Auskommen haben, Zimmer und Verpflegung, die großen Bonzen aber, die obersten Leiter der Bewegung, tja … da ist eine harmlose Vorsicht wohl erst recht am Platze … Es könnte ja doch einmal so kommen, daß es mit ihrer Revolution ernst wird und die großen Bonzen dann plötzlich an der Macht stehen, tja … Da wäre es dann ganz vorteilhaft, tja, recht vorteilhaft, wenn sich unversehens erweist, daß die hochverehrten neuen Machthaber ja unsere lieben, alten Busenfreunde sind, die uns zu allergrößtem Dank verpflichtet sind, haben wir doch nicht nur, in aller Heimlichkeit und gegen das Gesetz verstoßend, für ihr sozialistisches leibliches Wohl in der ungastlichen Fremde gesorgt, sondern – hi-hi-hi! – durch unsere freiwilligen großmütigen Spenden selbst mitgeholfen, die niedliche Revolution herbeizuführen und dadurch unseren lieben Busenfreunden zu Macht und Ansehen zu verhelfen … Erweisen sich unsere Befürchtungen aber schließlich doch als grundlos, nun so haben wir eben ein bißchen Geld verloren, und das können wir uns ja leisten, tja … Ich sagen Ihnen, Ihr Herr Chef, der ist geradezu eine geschichtliche Persönlichkeit: Stockrusse, not made in Russia … Eine pfiffige Politik, tja …«
Petrowskij hatte zuerst voll Verachtung auf Lossew hinabgeblickt, seine Verachtung verwandelte sich allmählich in Verwunderung und zuletzt hörte er ihm mit stummem Entsetzen und Abscheu zu.
»Woher wissen Sie das alles?«
»Es ist nun mal unsere Pflicht, alles zu hören, alles zu sehen, alles zu wissen … Für jene Zeitung suche ich mir sozusagen das Material zusammen, zum Nutzen von Thron und Vaterland. Sie, mein Herr Sozialist, haben ja kein Vaterland, und den Thron betrachten Sie als persönliches Ärgernis, was nicht ganz stimmt; Sie behelfen sich mit Ideechen, das ist ja alles, was Sie haben, es sind zwar fremde kleine Ideen, aber mit fremdem Eigentum nehmen wir Sozialisten es nicht so genau, nicht wahr? … Diese fremden Ideen aber sind der Ruin unserer Jugend. Und solchen Lossews wie ich, denen blutet das Herz bei diesem Anblick, sie leiden, wenn sie die jungen Leute in ihr Verderben rennen sehen, und sie beten zu Gott, der Herr möge wenigstens die irregeführten Seelen retten vor den Fängen des Antichrist. Und das, mein verehrter Nikodim Alexandrowitsch, ist auch der einzige und alleinige Grund, weshalb ich an Sie herangetreten bin … Haben Sie denn nicht schon genug gelitten damals in der Verbannung, in der ungastlichen Fremde? Und viele Ihresgleichen schmachten noch immer in dem fernen Sibirien. Dabei werden diese Opfer ganz unnütz gebracht, sie machen sich gar nicht bezahlt, und vielleicht sind sie auch noch gar nicht zu Ende … Das ist es eben, sie sind vielleicht noch gar nicht zu Ende, tja … Und ein Mensch kann doch schließlich nicht allein darauf ausgehen, sein Lebenlang nutzlos zu leiden! Ich weiß, oh, ich weiß ja sehr wohl, daß unsere Jugend immer bereit ist, alles Leid der Welt auf sich zu nehmen, bloß … Sehen Sie mal her: wir Jungen leiden also und quälen uns, die Herren Ingenieure aber, die gehen seelenvergnügt Arm in Arm mit uns spazieren oder retten sich im Notfall ins Ausland, wo vorgesorgt ist … Die Leidenden sind immer die jungen Leute, die anderen lachen sich eins ins Fäustchen … Ich möchte Ihnen da etwas sagen, Nikodim Alexandrowitsch, bloß ich traue mich nicht recht …«
»Reden Sie …«
»Der rechte Weg für jung und alt, das ist der, den uns die Liebe zum Vaterland weist. Rußland, das ist unsere große Mutter, unsere liebende Mutter, keine Stiefmutter, bloß daß sie um unserer selbst willen streng ist – sie will nämlich nicht bloß hochtrabende Redensarten von ihren Söhnen hören, sondern nützliche Taten sehen, wir aber ergehen uns in schönen Worten und bilden uns ein, darum Helden zu sein … Dabei könnten auch Sie sich durch die Tat als nützlich erweisen, Nutzen bringen für Vaterland und Thron. Wundern Sie sich nicht, daß ich auch Thron sage, der Thron ist nämlich kein persönliches Ärgernis, sondern die Spitze des Staates, die Verkörperung unseres Vaterlandes in höchster Potenz; mit ihm sind Land und Leute verwachsen, ihm sollte unser bestes Können gehören, mit ihm sind alle unsere Zukunftshoffnungen verknüpft … Durch ihn spricht unser Vaterland zu uns, und dieses Vaterland ruft Sie, es braucht Ihre Liebe und Ihre Dienste, Sie hören es bloß nicht, weil man Ihnen die Ohren mit weicher Watte zugestopft hat. Die Herren Ingenieure nämlich haben das getan, und nicht mit Watte allein, und nicht die Ohren allein, auch den Mund hat man Ihnen zugestopft … Ich sage nicht womit, nein, nein! … Und das ausländische Gift hat man Ihnen eingeimpft …«
Erst nach diesen Worten kam Petrowskij zur Besinnung.
»Nein, Lossew, an Ihre Tränen glaubt niemand, es sind giftige Tränen …«
»Hä-hä-hä! So ein kleiner Schäker … Und ich hatte solche Hoffnungen auf Sie gesetzt, Nikodim Alexandrowitsch, solche Hoffnungen! Ach, die Jugend, die Jugend! Wie doch solche Ideechen einen Menschen bezaubern können, und vielleicht nicht nur Ideechen allein … Aber ich schweige, Nikodim Alexandrowitsch, hier verstumme ich respektvoll. Das sind ja schon süße Herzensangelegenheiten …«
Während er sprach, tasteten Lossews Blicke die ganze Zeit Petrowskijs Gesicht ab, den wechselnden Ausdruck seiner Züge belauernd, und sobald es ihm geboten schien, schwächte er seine Anspielungen ab. Zuweilen huschten seine Augen über den vor Petrowskij liegenden Brief, er hatte wohl gar darin gelesen, mußte wohl ein paar Worte gelesen haben, sonst wäre er nicht darauf zu sprechen gekommen, daß Petrowskij bezaubert worden sei. Lossew kam sogar der Gedanke, daß Petrowskijs Ideen hier gewissermaßen eine Kapitalsanlage seien, während die Nichte des Ingenieurs – er nahm an, daß der Brief von ihr stammte – der eigentliche Schlüssel zu allem sei, und das beruhigte ihn. Wenn die Sache auf eine Heirat hinauslief – daß Fenja ein Kind hatte, wußte er auch –, so würde von Petrowskijs Ideen bald nichts mehr übrig sein, der junge Mann würde sich gründlich ändern, sobald er die reiche Mitgift eingesackt hätte und Geschäftsteilhaber des Ingenieurs geworden sei – dann könnte er ja noch einmal mit ihm reden …
Als Petrowskij schwieg, wagte Lossew es noch einmal, auf seine letzte Anspielung zurückzukommen:
»Heben Sie den Brief nur ja schön auf – er kommt ja wohl von dem gnädigen Fräulein Nichte – ein bildschönes Mädel haben Sie sich da erobert und eine Zauberin dazu! …«
Damit stand er schleunigst auf, drückte seine Aktenmappe an die Brust und fiel Petrowskij, der die Lippen öffnete, hastig ins Wort:
»Nichts für ungut, Nikodim Alexandrowitsch, und entschuldigen Sie, daß ich Sie in Ihren Betrachtungen, Ihren süßen Träumen gestört habe … Ich verschwinde, ich verschwinde, mein Teurer …«
Er machte eine tauchende Verbeugung und schritt eilig zur Tür hinaus.
Petrowskij stand auf, blickte um sich – vor seinen Augen drehten sich dunkle Kreise.
»Welch ein Schleimtier!« dachte er angewidert.
Von dem ganzen Geschwätz war nichts an ihm haften geblieben, als die Behauptung, der Ingenieur bringe sein Geld im Auslande in Sicherheit, und auch dieser Zweifel war wohl nur darauf zurückzuführen, daß Lossews Worte wie Gift ins Ohr drangen und das Bewußtsein trübten.
Der Schwinger Ignat trat auf Petrowskij zu:
»Der hat wohl so einen schwelenden Qualm vor Ihnen aufsteigen lassen, Nikodim Alexandrowitsch?«
»Tatsächlich, es war schwelender Qualm.«
»Er steckt überall seine Nase hinein, der Schleicher schnüffelt, verleumdet … Wir waren schon mal dran, ihm gehörig eins … Na, aufgeschoben ist nicht aufgehoben …«