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[8]

Ein weißes zellenartiges Zimmer; weiße Klostermauern und das trübselige Läuten der Totenglocke in den Wald hinaus; der Wald, der kleine Bahnhof, der Weg in die Stadt, zu den Fabriken mit den rauchenden Schloten; und jeden Tag in einem Kiefernsarg der verstümmelte Körper eines Soldaten, der nach dem Klosterfriedhof bei der Einsiedelei gebracht wird. Und Mönche, schwarz wie Tote, die eintönig und langgezogen wie das Grabgeläut, das ewige Seelenheil singen. Feuchte Erde, die in Klumpen von den Spaten der Mönche in die offene Gruft fällt und gleichmäßig und hohl aufschlägt; und in geraden Reihen Grabhügel, Glied an Glied – zur himmlischen Heerschau.

Ein weißes Zimmer, ein weißer Tisch, ein eisernes Bett, ein Korb mit Sachen, und alles so fremd – und auch das junge Mädchen sieht fremd aus in dem weißen Häubchen, die struppigen Augen scheinen noch größer und tiefer, noch sinnender und träumerischer geworden.

Vom frühen Morgen an hört man die Stimme der Oberschwester.

»Schwester Belopolskaja, zählen Sie die Milchrationen für die Kranken mit besonderer Kost zusammen.«

Mit dem Notizbuch in der Hand geht Schwester Belopolskaja in den zum Lazarett verwandelten Herbergen von Stube zu Stube und läuft dann nach dem Vorwerk zu Mutter Arischa, der Vorsteherin des Viehhofes.

Die junge Nonne begrüßt Sina in singendem Tonfall:

»Grüß Gott, liebe Schwester …«

 

In dem unteren Stockwerk der neuen Klosterherberge, wo Ärzte und Schwestern wohnen, liegt neben der Kammer für die Samoware die Zelle des Vaters Boris-Jewtichij; neben dem Kopfende des Bettes steht ein Telephon, das ihn mit dem Bahnhof verbindet, und um Mitternacht oder in dämmernder Morgenfrühe wird angerufen: »Bitte die Wagen, ein Transport Verwundeter …«

Vater Jewtichij läuft zu den Pferdeställen, treibt die Mönche zur Eile an, fährt mit den Sanitätsbrüdern und dem diensthabenden Arzt auf den Bahnhof, um die Verwundeten abzuholen. Er hilft mit, die Kranken aus dem Wagen zu heben, läßt an klaren Tagen die Schwerverwundeten auf Tragbahren durch den Wald ins Lazarett tragen. Am Abend tritt Schwester Belopolskaja mit ihrem Notizbuch in seine Zelle, bestellt: Brot für fünfzehnhundert Mann, für die Schwachen Weihbrot, übergibt ihm den Küchenzettel für den nächsten Tag.

Ohne die Augen zu der Schwester zu erheben, schreibt Vater Jewtichij das Angeforderte in die Listen, während die struppigen Augen des jungen Mädchens forschend auf ihn blicken.

»Sie sind Boris Smoljaninow, ich erinnere mich Ihrer gut …«

Der Mönch zuckt zusammen – Barmanskijs Ohrfeige ist wieder da, und seine Tränen, und die Tränen des jungen Mädchens.

Er antwortet nicht; sein Kopf sinkt noch tiefer auf das Papier.

 

Unerwartet trat der schwarze Mönch ein, hoch und hager; unter seinem durchdringenden Blick schauerten die beiden wie ertappt zusammen. Sina stand rasch auf und wollte gehen. Vater Polykarp sagte:

»Ich komme nur auf einen Augenblick, ich will nicht stören. Hafer für die Pferde muß angefordert werden.«

Er nickte stumm und ging.

Boris war rot und verlegen geworden, er fürchtete, der Lehrer könnte an ihm zweifeln. Sina sagte beim Fortgehen:

»Ich fürchte mich vor seinem Blick, er denkt …«

 

In ihrem weißen Zimmer mit der Aussicht auf die wie ein Leichentuch weißen Klostermauern schritt Sina auf und ab, dachte an einen Brief Petrowskijs, las in ihm:

»Ich will mich nicht in Unschuldsbeteuerungen über meine Beziehungen zu Fenja Grakina ergehen. Wir sind einander ganz fremd, sind bloß Kameraden, sie und Kirill Kirillowitsch haben mich aus der Verbannung befreit. Ihr Kind ist nicht von mir. Sein Vater ist der Student Smoljaninow, der vor ihr geflohen ist …«

 

Wieder kam ihr der Gedanke, Boris dem Kloster zu entreißen, um ihn ins Leben zurückzuführen; an der Wahrheit von Petrowskijs Worten zweifelte sie nicht.

Ein Klingelzeichen ertönte im Gang, sie verbarg eilig ein paar Ringellöckchen, die unter dem weißen Häubchen hervorlugten, rückte das Häubchen zurecht und ging ins Eßzimmer.

Ihr Platz bei Tisch war neben dem des Chefarztes, der, süßlich liebenswürdig, ihr aufdringlich den Hof machte. Ihr gegenüber saß Soßja Karcevskaja, mit geschminkten Lippen und Lidern, kokett unter dem Häubchen hervorguckenden Goldlöckchen, und lachte ausgelassen über jeden Scherz der Ärzte.

Am Abend suchte der Chefarzt Schwester Belopolskaja im Dienstzimmer auf, in dem Halbdunkel und lauschende Stille herrschte. Das Weiße seiner Augen glänzte, mit gedämpfter Stimme, die ihr widerlich und klebrig schien, girrte er:

»Sinaida Nikolajewna, Sinotschka, sagen Sie mir nur ein kurzes Ja, nur dies kurze Wörtchen! Und ich lasse Sie in Ruhe! Ich will nichts von Ihnen als nur dieses eine kleine Wörtchen …«

Das junge Mädchen wich erschrocken in eine Ecke zurück und erwiderte schroff:

»Herr Doktor, Sie vergessen sich. Ich bin Krankenschwester; flößt Ihnen der Dienst am Nächsten so wenig Achtung ein?«

Wütend über die Zurechtweisung zischte der Arzt:

»Vater Jewtichij scheint sich größerer Gunst zu erfreuen als ich – es ist ja auch so romantisch, einen Mönch zu verführen!«

»Verlassen Sie sofort das Zimmer, oder ich lasse alles im Stich und reise fort – so wie ich hier stehe.«

Der Arzt warf zornig die Tür hinter sich zu und dachte beim Auskleiden: Mir machst du nichts weis, ich glaube deiner hoheitsvollen Unnahbarkeit nicht – alles Theater, Fräulein Rührmichnichtan! So'n kleines Luder … Beim Einschlafen, die Zigarette im Munde, träumte er von ihr. Dann beschrieb der glimmende Stummel einen Bogen, fiel zischend in die Waschschüssel; Schnarchen setzte ein.

 

Die dunkle Treppe mit qualmender Nachtlampe, der Geruch von Kampfer, Karbol; unten am Treppenabsatz die schwarze Silhouette des im Dunkel versteckten Herbergsvaters Mißail. Gierige Hände umklammerten Sina und ziehen sie ins Dunkel der Ecke.

»Schwesterchen, erlösen Sie mich von der Versuchung, von der teuflischen Versuchung! … Ich sende Ihnen ein gebratenes Hähnchen, ein zartes, knuspriges Hähnchen! Retten Sie einen gequälten Mönch aus dieser Not …«

Seine Augen glänzen ölig, aus seinem Gesicht schlägt ihr ein Geruch von Zwiebeln und Buchweizengrütze mit ranzig gewordener Butter entgegen.

Vor Empörung zitternd, löst sie sich aus seiner Umklammerung, stößt seine Hände zurück. Ein Flüstern gurgelt ihr nach:

»Zu Jewtichij, dem Lüstling, gehen Sie …«

Tränen in den Augen, sucht sie Zuflucht in ihrem Zimmer. Hinter der dünnen Zwischenwand im Nebenzimmer klingt das girrende Lachen der kleinen Soßja, Getümmel, dumpfe Geräusche, dann ihre brechende Stimme:

»Nicht mehr, nicht mehr! Ich kann nicht mehr, ich sterbe, so hör' doch – ich sterbe bestimmt!«

Aufs neue Geraschel, girrendes Lachen, Getümmel, dann das behutsame Knarren der Tür, ein Schlürfen von Lazarettpantoffeln in der Richtung nach den Zimmern der Offiziere.

Am nächsten Morgen hatte die Nachtschwester, Schwester Soßja aber an jedem Morgen tiefe Schatten unter den Augen.

 

Die Soldaten, die zu gesunden begannen, wurden in die Kathedrale geführt, um sich vor den Reliquien des Heiligen zu verneigen; Messen wurden zelebriert; die Mönche redeten auf die Verwundeten ein: »Ohne daß man es sieht, ganz im stillen, wirkt der Starez unablässig Wunder; wie viele Verwundete und Kranke, die hoffnungslos daniederlagen, hat er nicht schon gesunden lassen, dem Tode entrissen. Betet zu ihm, betet eifrig zu unserem Heiligen!«

Der Abt sprach im Lazarett vor und bat, man möchte die rechtgläubigen Krieger veranlassen, regelmäßig zu den Andachten in die Kirche zu kommen.

»Wir haben da Bänke an den Wänden, wer sich noch siech und schwach fühlt, kann sich hinsetzen – der Herr wird seinen kranken Kriegern darob nicht zürnen …«

Wenn die Oberschwester in die Krankenstuben kam und die Soldaten, die bereits aufstehen durften, nachdrücklich, im Befehlstone, aufforderte, sich in die Kirche zu begeben, murrten die Ermahnten:

»Aber warum denn? Wir sind doch keine Mönche! Sind schon mal in der Kirche gewesen, haben gebetet – das reicht doch aus für einige Zeit! … Wozu soll man jeden Tag in die Kirche gehen … Die haben nichts zu tun, da denken sie sich was aus!«

»Nicht mal an der Front haben wir gebetet, da vergißt man den lieben Gott, und nun sollen wir hier andauernd auf den Knien liegen und mit der Stirn gegen den Boden schlagen!«

Beim Verlassen der Kirche flüsterten sie:

»Den Heiligen da möchte ich mal mit den Händen berühren – weiß der Himmel, was da in dem Sarge steckt …«

Die Mönche beklagten sich beim Abt über den Unglauben der Soldaten. Vater Gerwaßij ging zum schwarzen Mönch, um sich Rat zu holen. Vater Polykarp saß am Schreibtisch, hatte Rechnungen vor sich und klapperte auf der Rechenmaschine. Er hörte den Abt schweigend an und begann über den Bäcker und Müller zu reden.

»Statt die Bruderschaft auf müßige Gedanken zu bringen, sollten Sie sich der Wirtschaft eifriger annehmen: bei Vater Mawrikij ergibt sich ein beim Mahlen ungebührlicher Fehlbetrag.«

Der Abt fuhr auf, errötete, wagte zum ersten Mal einen Widerspruch:

»Wollen Sie damit vielleicht sagen, er stehle? … Über zwanzig Jahre ist Vater Mawrikij auf der Mühle.«

»Kontrollieren Sie ihn. – Das Brot wird nicht gut ausgebacken, der Bäcker liefert unausgebackenes Brot an das Lazarett – es wiegt schwerer.«

 

Durch die kleine Nebenpforte bei den Pferdeställen schlichen sich des Abends aus den Zellen des Haushalters und des Bäckers Bäuerinnen aus Polpenki, deren Männer eingezogen waren, Säckchen mit Mehl und Brotendchen auf dem Rücken.

»Umsonst geben sie uns kein Krümchen, zuerst muß man ihnen den Fußboden der Zelle aufwischen …«

»Mußt es wohl sehr oft tun, wenn du dich darüber beklagst! … Gib acht, daß du da die Bohlen nicht durchscheuerst!«

Die erste Sprecherin antwortete zornig, indem sie den Weg nach der Mühle einschlug:

» Ihr seid wohl sündlos?!«

»Darüber haben wir uns nicht zu beklagen.«

Nikolka wußte und sah alles, fürchtete sich aber, der Bruderschaft ein Wort zu sagen – Getreide und Hafer kaufte er selbst ein, mit Hilfe eines vorgeschobenen Kaufmanns, der junge Krugwirt spielte den Strohmann. Und dann – der Schwarze hatte ihn in Soßjas Zimmer im Lazarett überrascht, als er auf einen Augenblick bei ihr eingekehrt war; der Schwarze hatte zwar nichts gesagt, aber finster die Stirn gefurcht.

 

Soßja war Krankenschwester geworden, in der Hoffnung, sich unter den verwundeten Offizieren einen Mann zu ergattern; als Krankenschwester hatte sie auf ihre Vorstellungen hin vom Chefarzt ein Zimmer im Lazarett zugewiesen erhalten. Ihre Mutter wohnte nach wie vor in dem Eckzimmer des Landhäuschens.

Der Abt besuchte oft das Lazarett und sprach gelegentlich auch bei Soßja vor, was er aber nur selten wagte.

 

Soßja leckte zusammen mit der Schokolade – Offiziere, ihre »Verlobten«, pflegten ihr Pralinen aus der Stadt mitzubringen – die Pomade von ihren Lippen ab und sagte:

»Bedienen Sie sich, Vater Abt – Schokoladenpralinen …«

Nikolka lehnte demütig ab.

»Wir fasten gerade, Schwester; Schokolade ist keine Fastenspeise.«

»Ach, das bißchen Milch, das darin ist … Und Milch dürfen Sie doch trinken.«

Mit zwei Fingern entnahm sie der Schachtel eine Praline, trat nahe an ihn heran, so daß ihr Busen ihn berührte, und steckte ihm mit der parfümierten Hand die Süßigkeit in den Mund. Unter der Berührung ihrer Finger begannen seine Lippen zu glühen, ihm wurde heiß, ein Beben strich durch seinen Körper.

Soßja sprang lachend beiseite.

»Nicht wahr, es schmeckt gut? Wollen Sie noch ein Stückchen? Aber verschlucken Sie mich nicht dabei – ich bin keine Fastenspeise …«

Nikolka schnaufte, erinnerte sich, daß er Abt sei, hatte Angst, daß jemand hereinkommen könnte, lehnte ab und verabschiedete sich fluchtartig; er fühlte, daß er nicht länger an sich halten könnte, sie aber spielte wohl nur mit ihm, würde am Ende gar schreien …

 

Vater Polykarps Bemerkungen über das Brot und Mehl hatten den Abt beunruhigt: ob der Schwarze wohl die Dienste von Angebern benutzte? Vielleicht steckte dieser Duckmäuser, Jewtichij, dahinter … Er ging wieder zu dem schwarzen Mönch.

»Die Soldaten zweifeln an der Heiligkeit des Starez und der Unversehrtheit der Reliquien …«

Vater Polykarp sagte mit einem Seitenblick auf Gerwaßij, ohne sich von der Durchsicht der Rechnungen ablenken zu lassen:

»Sie sind der Abt, Sie müssen selber wissen, was zu tun ist.«

»Ich werde die äußere Hülle zurückschlagen.«

Der schwarze Mönch sah ihn durchdringend an, und sein Gesicht blickte noch finsterer:

»Sie sind der Abt.«

 

Vor den Zweiflern und Spöttern wurde in Gegenwart der alten Mönche und der Krankenschwestern nach einer feierlichen Messe die äußere Hülle der Reliquien zurückgeschlagen. Unter der schwarzen Soutane mit den aufgenähten Totenschädeln ertastete der Blick etwas Plumpes, Ungefüges. Sina prallte zurück, und mehrere Nächte lang träumte sie von den Reliquien: ein weißes Skelett, in eine Soutane gehüllt, erschien ihr; auf Beinen, steif wie Stöcke, schwankte ein Knochenleib, ein schwarzer Totenschädel heran. Unter der Kutte eines jeden Mönches meinte sie nun solch ein Skelett zu sehen, und wähnte, sie sähe auch das schwarze Loch des klaffenden Mundes.

Wenn sie an Vater Jewtichijs Zelle vorüberging, blieb sie oft stehen und sah durch das kleine, unverhängte Guckfenster in der Tür; er betete, lag auf den Knien, machte tiefe Verneigungen, mit der Stirn den Boden berührend, und wenn sein Oberkörper sich wieder aufrichtete, blickten seine Augen, klar und entrückt, in die Ferne. Sie sah ihn bei ihrem Klopfen zusammenzucken, hastig wandte er sich ab, setzte das Käppchen auf, und dann schien er ihr wie ein Toter mit schwarzem Schädel.

Ihre struppigen Augen blickten ihn an, sie trat auf ihn zu, ergriff seine Hand, sagte bewegt, aus ihrem Gedankengang heraus:

»Warum sind Sie hier? Wollen Sie zu einem lebenden Leichnam werden? …«

Er schob ihre Hände ruhig zurück und fragte mit gleichmäßiger, tonloser Stimme:

»Wieviel Milch soll ich heute anfordern?«

Sina blätterte in ihrem Notizbuch, sah den Mönch an, dachte an Frau Kostizinas Tod, fragte:

»Sie waren Dienstbruder bei Vater Polykarp?«

Boris antwortete leise:

»Ja.«

»Sie haben Wera Alexejewna gesehen? Sie waren zugegen, als sie starb? Ich fühle mich schuldig an ihrem Tode, ich wollte nicht mitkommen; wenn ich dabei gewesen wäre, wäre das Fürchterliche nicht geschehen … Sagen Sie mir, wie ist sie gestorben?«

»Friedlich …«

»Worüber hat sie zuletzt gesprochen? Oder war sie bewußtlos?«

Der Mönch schwieg, furchte die Stirn, blickte über das weiße Häubchen hinweg in die Ferne.

»Erinnern Sie sich noch – damals wollten wir beide Sie von hier retten? … Lieben Sie Kinder?«

Verständnislos blickte der Mönch sie an; seine großen Augen schienen noch klarer.

»Was würden Sie sagen, wenn man ein Kind zu Ihnen brächte? …«

Und unerwartet entfuhr es ihr:

»... Ihr Kind!«

Eine Erinnerung schien den Mönch zu überkommen; er erschauerte, seine Knie wankten, er sank auf den Stuhl, schlug die Hände vor das Gesicht, lehnte die Stirn an die Tischkante. Nach einer kleinen Weile, noch immer vor Entsetzen und Erregung bebend, stieß er irren Auges hervor:

»Lassen Sie mich! Gehen Sie! Peinigen Sie mich nicht …«

Die ganze Nacht lag er betend auf den Knien; das schwanke, rötliche Flämmchen der Kerze war wie ein Zucken in seiner Seele, ein fahles Grau überzog sein verstörtes Gesicht.

»Herr, laß diesen Kelch an mir vorübergehen! Erleuchte mich, Allmächtiger! Ich fühle mich schuldlos am Leben dieses unschuldigen Wesens. Du siehst und weißt alles – strafe mich mit deinem Zorn und deinem gerechten Gericht!«

Die Kerze flackerte, und in dem Halbdunkel verklang sein Gebet, voll Bitterkeit und Weh, und fand keinen Widerhall. Er mühte sich, die Gestalt des verstorbenen jungen Mädchens, der einst so heiß Geliebten, in sich auferstehen zu lassen, lief an den Tisch, holte ihr Bild und die aschblonde Locke hervor, doch alles in ihm blieb stumm – das Bild schien ihm tot und fremd, die Haare, ein armseliges, lebloses Bündelchen, rochen nach staubigem Spinngeweb. Er brach aufs neue vor dem Gebetpult in die Knie, die heiße Stirn an den Pultrand gepreßt.

»Nur du, Herr, nur du allein bleibst mir! Auf immer bin ich dein!«

Aber auch dieser Schrei fand keinen Widerhall in seiner Seele. In ihr bebte und glühte ein anderes – der unablässige Gedanke an das Kind – sein Kind –, er wagte es nicht, es zu denken, und an sie, die andere, vor der er geflohen war, die er vergessen wollte und nicht konnte, so heiß er auch mit sich kämpfte und rang …

 

Ein grauer Morgen erwachte, malte auf die befrorenen Scheiben das flimmernde Farbenspiel eines Pfauenschweifs; durch den oberen klaren Teil des Fensters sah man kleine feine Schneeflocken herabrieseln. Da träumte er, das kristallene Gefieder an den Scheiben seien Flügel von Engeln, der Schnee darüber – der Heiligenschein um ihr Haupt …

Als der Morgen anbrach, erinnerte sich Vater Jewtichij, daß er gestern vergessen hatte, das Verzeichnis der vom Lazarett angeforderten Lebensmittel aufzunehmen, ja Schwester Sina geradezu hinausgeworfen hatte. Er ging an ihre Tür, sang mit schwacher Stimme das Eintrittsgebet:

»Um der Fürbitte unserer Heiligen willen sei uns gnädig, o Herre Jesu Christ!«

»Herein!«

Sina band gerade ihr Häubchen um, als sie Vater Jewtichijs todblasses, gelbfahles Gesicht erblickte; sie schrie auf und lief auf ihn zu.

»Gott, wie Sie das mitgenommen hat – und ich bin schuld!«

Das Häubchen war herabgeglitten, ihr Ringelhaar zitterte, Tränen traten in ihre struppigen Augen, sie ergriff seine Hand, und bevor er sie hätte zurückziehen können, hatte sie diese Hand geküßt und bat – wobei sie ihn unversehens bei seinem Kosenamen anredete –:

»Vergeben Sie mir, Borja, vergeben Sie mir! Ich weiß selbst nicht, wie ich darauf kam, es Ihnen zu sagen. Verzeihen Sie mir!«

Mit tonloser Stimme bat er um das Verzeichnis und ging, ohne die Augen zu ihr erhoben zu haben.

Die klare, frostkalte Luft und des Tages Last und Mühe wirkten erfrischend auf sein verstörtes Gemüt.

Draußen traf er Mutter Arischa, die auf die Herberge zuschritt, und erwiderte stumm ihren Gruß.

 

Ich konnte es heute nicht abwarten, Schwester, Sie Schöne, da bin ich herübergekommen«, sagte Arischa, als sie in Sinas Zimmer trat.

Sie sah das junge Mädchen an, ließ ihre Blicke durchs Zimmer schweifen, erzitterte plötzlich und griff sich mit der Hand ans Herz – über dem Bette hing der Wandteppich, den sie einst gestickt hatte: ein junger Held hoch zu Roß, vor einem Stein am Kreuzweg.

»Was haben Sie, Mutter?«

Sie faßte sich mit Mühe, sagte in singendem Tonfall:

»Es kommt wohl von dem vielen Hin- und Herlaufen; mir ist plötzlich schlecht geworden; es war so wie ein Stich ins Herz …«

Ihre Augen wanderten von der Schwester zum Teppich und wieder zurück, in der Kehle spürte sie ein trockenes Glühen … Das junge Mädchen war gewiß seine Braut. Seiner Braut hatte der Geliebte ihre Gabe geschenkt, an der sie einst unter heißen Tränen mit so viel Liebe und Zärtlichkeit gearbeitet hatte; an jedem Stich haftete ein Tropfen ihres Herzblutes! … Nun wußte sie wenigstens, wen ihr Wladimir erwählt hatte, wem die Liebe des Geliebten galt …

Je länger sie Sina ansah, desto zärtlicher und inniger wurde ihre Stimme. Er hatte sie gewiß geküßt, dieses schöne Fräulein, und da wollte auch Arischa sie küssen, aus Liebe zu dem Unvergeßlichen die Erwählte seines Herzen küssen, und sie auch lieben …

»Da bin ich denn; geben Sie mir die Ordre, Schwester, ich nehme sie gleich mit, dann brauchen Sie nicht erst auf das Vorwerk zu laufen.«

»Wie geht's dem Kleinen? Ist er wohl und munter?«

Die Frage nach dem Kinde tat Arischa in diesem Augenblick weh, entriß sie der Vergangenheit, führte sie wieder in die schmerzliche Gegenwart zurück. Teilnahmlos antwortete sie:

»Danke, Schwester, er springt herum, rodelt.«

Wieder fiel ihr Blick auf den Teppich.

»Sie brauchen sich hinfort nicht die Mühe zu machen, nach dem Viehhof zu kommen, Schwester. Bei dem gräßlichen Frost könnten Sie sich leicht erkälten. Mir macht das nichts aus. Sagen Sie mir nur, wann ich nach der Ordre kommen soll – am Abend oder am Morgen, was ist Ihnen lieber?«

Sie dachte bei sich: Vielleicht erfahre ich etwas über ihn, vielleicht erzählt sie mir von ihrem Verlobten, ihrem Erwählten …

»Warum wollen Sie sich so bemühen, Mutter Arischa, und herkommen? Das ist doch meine Pflicht.«

»Es fällt mir nicht schwer, Schwester, ich tue es gern; ich freue mich darauf, Sie hier in Ihrem Zimmer zu sehen, wo man doch ein paar Worte wechseln kann; bei uns auf dem Viehhof ist es ein ewiges Gerenne, man wird immer hin- und hergezerrt – Sie wissen es ja …«

»Gut denn, Mutter Arischa, wenn Sie durchaus wollen … Der Abend wäre mir lieber, damit Sie gleich am Morgen beginnen können. Aber vielleicht überlegen Sie sich's noch …«

Arischa ließ sie nicht zu Ende sprechen, trat auf Sina zu und küßte sie auf die Schulter.

»Gott, was machen Sie denn da, Arischa?!«

»Schwester, liebe Schwester, ich habe Sie lieb … Sie sind so freundlich zu mir.«

» Du bist freundlich, Arischa …«

Sina erwiderte mit einem Kuß auf Arischas Lippen. Die junge Nonne wurde ganz rot und brach eilig auf.

»Also heute abend komme ich vor, Schwesterchen! Und vielen Dank, Sie Liebe – ich bin so glücklich! Jetzt habe ich doch einen Menschen, mit dem man ein Wort sprechen kann – da wird's einem leichter ums Herz!«

 

An dienstfreien Tagen liebte es Sina, in den Dämmerstunden still dazusitzen; sie nahm das Häubchen ab, dessen festgeknüpfte Bänder auf den Kopf drückten, ihre Locken rieselten frei um Stirn und Gesicht, stiller wurden die Gedanken. Dann ließ sie den Fenstervorhang herunter, zündete eine Kerze an und holte Nikodims Briefe hervor, um ihn um sich, in sich zu fühlen, ganz nah und traut. Sie griff zur Feder, um sich die Seele frei zu reden, fand nicht die rechten Worte, zerriß die wenigen Zeilen, vertiefte sich wieder in seine Briefe; weit ausholend, aufrecht, gleichmäßig war seine Handschrift, etwas derb in den Grundstrichen, einfach die Worte.

Vater Jewtichij kam ihr in den Sinn. Sie hatte ihm weh getan, Aufruhr in seiner Seele geweckt, und wußte nicht, wie sie die bittere Wahrheit, die sie ihm gesagt hatte, wieder gutmachen könnte.

»Vielleicht rettet ihn das … führt ihn ins Leben zurück … Ich quäle die Menschen, Nikodim hat recht!«

Die Tinte hatte sich ins Papier eingefressen, tiefdunkel, wie geprägt, schienen die Worte.

»Sina, Sie haben mir Ihren Ring gegeben – ich bin kein Eigentumsfanatiker, aber was mein geworden ist, das halte ich fest. Vergessen Sie das nicht. Ich erkenne die Romantik der Adelsnester im zwanzigsten Jahrhundert mit ihrer exaltierten Degeneration nicht an. Sie haben eine große, heiße Seele, aber es spuken Gespenster in ihr herum, die Sie daran hindern, frei und unbefangen dem Leben in die Augen zu schauen, das Leben so zu nehmen, wie es ist. Ihre Seele in Ihrer Aufrichtigkeit, in ihrem Ungetüm bricht Breschen in diese Schranken, Sie aber schließen sie wieder ein. Ich bin ein einfacher, derber Mann, mein Leben ist – Gefängnis und Verbannung, und so wird es immer sein. Ich verberge mich nicht vor mir selbst und anderen! …«

 

Hinter der Wand in Soßjas Zimmer klang Lachen und der singende Bariton einer Mönchsstimme.

Soßja hatte nach einem Bräutigam unter den verwundeten Offizieren geangelt, und dann war der Erwählte in seine Truppe zurückgekehrt. Sie schrieb ihm Briefe an die Front, wie Frauen eben Briefe schreiben, voll Erinnerungen an einstige Liebkosungen und Anspielungen an zukünftige, die seiner harrten. Als sie keine Antwort erhielt, richtete sie, der Abwechslung halber, ihre Blicke auf den Abt, lud ihn ein, einmal auf den Abend zu ihr zu kommen.

Nikolka kam, zog eine Flasche aus der Kutte, stellte sie mit demütiger Gebärde auf den Tisch.

»Damit Ihnen die Pralinen noch besser munden, Schwester.«

»Haben Sie sich doch endlich entschlossen! – Nehmen Sie Ihre Ofenröhre ab … Ich kann Ihnen Bohrmann-Schokolade anbieten.«

Der Abt stellte die hohe Mütze verlegen auf einen leeren Stuhl, strich die lange Lockenmähne zurück.

Aus Kaffeetassen schlürften sie Kognak, tranken einander zu, Soßjas Augen und Brauen lockten ihn neckisch; unter dem Einfluß des Weinbrands glänzten ihre Lippen rot und saftig wie Beeren.

Er brach ein Stückchen Schokolade in zwei Teile; seine Hände zitterten.

»Sie verstehen das nicht …«

Er sah sie verständnislos an.

»Ich will Ihnen zeigen, wie man das macht!«

Sie nahm ein längliches Stückchen Schokolade zwischen die Lippen.

»Bedienen Sie sich!«

Nikolka begriff nicht.

»Nicht mit den Händen! …«

Sein Herz machte einen Sprung, ihn schwindelte. Zaghaft näherte er sein Gesicht dem ihren. Unter den schwarzen Brauen lachten in Soßjas blauen Augen tausend Teufelchen, ihre weichen Lippen berührten leicht die seinen und entschwebten, lachend entflatternd wie rote Schmetterlinge; seine ausgreifenden Hände faßten in die Luft.

»Schmecken Ihnen meine Süßigkeiten? …«

Verlegen und schwer atmend, setzte sich der Abt wieder an den Tisch.

»Trinken Sie ein Schnäpschen auf den Schreck!«

Sie stieß mit ihm an.

 

Im Nebenzimmer sagte Mutter Arischa, auf den Bariton nebenan lauschend, mit klagender Stimme zu Sina:

»Ich habe Sie liebgewonnen, Schwesterchen – gleich als ich Sie zum ersten Male sah …«

Sie blickte auf Sina, auf den Wandteppich, und wie glühende Hammerschläge trafen sie die Worte nebenan: er war es, Nikolka, die Stimme ihres Peinigers war es! Hastig fuhr sie halblaut fort, um den Schmerz in der Brust zu betäuben:

»Darf ich Sie Sina nennen, mein liebes Fräulein … Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen mein Herz auszuschütten, Schwester. Sie sind so rein und unschuldig wie ein Engel vom Himmel, und ich …«

Ungestüm ergriff sie Sinas Hand und bedeckte sie mit Küssen.

»Lassen Sie mich, Schwester, nehmen Sie Ihre Hand nicht fort! Ich bin schlimmer als eine reuelose Sünderin, Sie kennen mich noch nicht … Ich bin es nicht wert, auch nur Ihre Hand zu küssen, Sie aber haben mich auf den Mund geküßt.«

»Was ist mit Ihnen, Arischa, was haben Sie?«

»Ich bin ja eine Verlorene, Fräulein! Sie denken, der Junge sei mein Neffe?! Mein Kind ist er, ich habe ihn geboren, in Schande und Schmach, ihm und mir zum Verderben. Sie aber sind rein wie eine Braut, Sie muß jeder lieben; beten könnte man zu Ihnen, Sina, Sie Liebe, Schöne! Das Kloster hat mich zur Sünde verleitet. Ich wußte aber, was ich tat, wußte, wohin das führen mußte, aber meiner Liebe entsagen, das konnte ich nicht, das wollte ich nicht. Nur einmal im Leben blüht wirkliche Liebe …«

»Ja, Arischa, nur einmal im Leben.«

Die rotblonden Haare der jungen Nonne guckten unter dem Kopftuch hervor, das Tüchlein und mit ihm der warme Wollschal glitten ihr auf die Schultern herab. Sina hatte ihr die Hand nicht entzogen, aber Arischas Küsse abgewehrt; nun drückte die Nonne Sinas Hände an ihre heißen Augen, lauschte auf den saftigen Bariton nebenan, der gedämpft herüberklang, und beichtete der Schwester mit geschlossenen Augen, die Tränen zurückdrängend.

»Und wie ich geliebt habe, wie ich ihn geliebt habe – selbstvergessen vor lauter Glückseligkeit! Auch Sie werden einst so glücklich sein, Fräulein … Mich hat man dann um meiner Liebe willen … Ach, das kann man ja so in armen Worten nicht sagen …«

 

Hinter der Wand sagte die Baritonstimme in singendem Tonfall:

»Ich möchte gern noch ein Stückchen Schokolade!«

Soßja trat wieder auf ihn zu, eine Praline zwischen den Lippen.

»Bitte!«

Ein Stuhl fiel um. Nikolka hatte Soßja umschlungen, bog sie zurück, ihr Gesicht mit Küssen bedeckend. Soßja lachte, suchte sich frei zu machen, flüsterte:

»Laß das! … Lassen Sie das, Vater … Was fällt Ihnen ein – geben Sie mich frei!«

Wieder fiel etwas mit lautem Gepolter um.

 

Arischa stand hastig auf, sagte:

»Ich erzähle Ihnen das lieber ein anderes Mal, mein liebes Fräulein; draußen tobt ein Schneegestöber, man sieht die eigene Hand nicht vor den Augen …«

 

Nikolka, durch Soßjas Abwehr und den polternden Fall des Stuhles erschreckt, stülpte die hohe Mütze auf den Kopf und stürmte in den Gang hinaus, wo er mit Mutter Arischa zusammenstieß, die im gleichen Augenblick aus Sinas Tür getreten war.

Er fuhr zusammen; vor Erregung zitterte er noch am ganzen Leib; sein Gesicht war rot, seine Augen blutunterlaufen; schwer atmend, mit bebender Stimme zischelte er:

»Was hast du hier zu suchen?«

Arischa blickte ihn erschrocken, wie erstarrt, an, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, an der sie sich mit den Händen anklammerte, um nicht umzusinken; Entsetzen sprach aus ihrem Blick.

»Um an Türen zu lauschen, bist du hergekommen? Um zu schnüffeln, um mich zu belauern?!«

Arischa stieß flüsternd hervor:

»Peiniger!«

Nikolka fuhr auf, stürzte sich im halbdunklen Gang mit erhobenen Fäusten auf sie und schob sie mit Püffen der Haustür zu, wobei er zischte:

»Ich jage dich fort, ich jage dich fort aus dem Kloster! …«

Arischa blieb stehen, wandte sich ungestüm um und sagte in zornigem Flüsterton:

»Morgen bring ich dein Kind zu dir und gehe fort von hier – alle Welt weiß, daß es dein Kind ist.«

Der Abt sah sie einen Augenblick wie versteinert an, dann schlug er die Hände über dem Kopf zusammen, schwenkte sie abwehrend durch die Luft und lief eilig dem Ausgange zu; den Kopf zurückgewandt stammelte er halblaut:

»Untersteh dich, untersteh dich nur!«

Am anderen Ende des Ganges trat Vater Jewtichij aus seiner Zelle, klopfte an die Tür der Oberschwester und sagte, als die Tür spaltbreit geöffnet wurde:

»Schwester, lassen Sie alles bereitmachen – ein Zug mit Verwundeten ist auf dem Bahnhof eingetroffen.«

 


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